Genürsel 2013 – 49/52 – Hunger

Genürsel 2013 - 49/52 - Hunger

Wenn ich Hunger habe, esse ich etwas. Diese Tätigkeit hat sich bisher als ziemlich sinnvoll und nützlich erwiesen. Das Resultat: Ich bin noch nicht verhungert. Wie die meisten Menschen, die es mir gleichtun. Hungerbekämpfung ist nichts Besonderes. Warum also an dieser Stelle über das Offensichtliche schreiben? Um das Unoffensichtliche, Inoffensichtliche, Deoffensichtliche, Antioffensichtliche und Nichtoffensichtliche hervorzuheben, genauer gesagt die Momente, in denen man etwas isst, obwohl man keinen Hunger hat.

Diese hängen meistens mit Suchtempfindungen zusammen. Ich esse zum Beispiel gerne Chips, weil ich deren Geschmack mag und mich die in ihnen enthaltenen Suchtmittel denken lassen, genau diesen Geschmack genau jetzt empfinden zu müssen, obwohl ich vor wenigen Minuten ein Kilo Pommes gegessen und gar keinen Hunger mehr habe. Dann esse ich, weil ich mich danach und / oder währenddessen besser fühle.

Doch auch diese Situationen sind nicht weiter erwähnenswert. Was ich hier auf Chips beziehe, beziehen andere Menschen vielleicht auf Schokolade. Oder Obst. Haha. Obst. Esst mehr Obst! Birnen zum Beispiel. Oder Zitronen. Was für eine Überleitung. Wenn es darum geht, etwas zu essen, obwohl man keinen Hunger hat, es einem nicht einmal schmeckt und man sich danach sogar richtig dreckig fühlt, denke ich automatisch an den Fertigzitronenkuchen einer Firma, die Fertigzitronenkuchen herstellt.

Also. Fertigzitronenkuchen. Damit ich im weiteren Verlauf dieses Textes nicht immer und immer wieder dieses unglaublich lange Wort schreiben muss, kürze ich es von nun an einfach mit “Fertigzitronenkuche.” ab. Das ist angenehmer zu lesen und vor allem ist der Text schneller vorbei. Man will seinen Lesern ja nicht mehr Zeit stehlen als nötig. Was tut man nicht alles für den Lesefluss. Es wäre aus ähnlichen Gründen an dieser Stelle vermutlich am sinnvollsten, einen neuen Absatz zu beginnen. Aber zunächst noch eine Warnung: Der folgende Absatz beginnt mit den gleichen zwei Wörtern wie dieser (eines davon jedoch in seiner zuvor erwähnten abgekürzten Form). Bei Zeitmangel können diese beiden Wörter gerne übersprungen werden.

Also. Fertigzitronenkuche.. Es gibt Tage, da brauche ich ihn. Warum? Ich weiß es nicht. Gut schmeckt er nicht. Außerdem schlägt er mir auf den Magen. Nach dem Verzehr ist mir schlecht und mein Kot hat eine eher unberuhigende und beunruhigende Konsistenz. All das weiß ich bereits vor dem Verzehr. Es kommt nicht überraschend. Ich kenne die Auswirkungen des Fertigzitronenkuche.s auf meinen Körper. Aber ich ignoriere sie. Grundlos. Ich ziehe keinen Nutzen aus der Verspeisung des Kuchens. Er schmeckt nicht und verursacht Übelkeit. Trotzdem esse ich ihn.

Das läuft dann so ab: Ich sitze an meinem Schreibtisch, erhebe mich, rufe meine Frau zu mir und sage: “Frau? Ich will Kuchen. Fertigzitronenkuche. Jetzt.” Sie schüttelt den Kopf, weist mich darauf hin, wie das enden wird, ich nicke und schreite gen Supermarkt. Mit der besagten Teigware in Händen komme ich wenige Minuten später nach Hause und weine ein bisschen. Ich sage meiner Frau, sie soll mich aufhalten, doch sie tut es nicht. Weil sie weiß, dass ich sie anschreie, wenn sie es versucht. Weil ich mir von niemandem vorschreiben lasse, was ich essen kann und was nicht. Sie hält mich also nicht auf, sondern schüttelt lediglich den Kopf. Manchmal sagt sie noch, ich solle am Ende bloß nicht rumjammern, weil es mir schlecht geht, doch wir wissen beide, dass ich in wenigen Minuten rumjammern werde, weil es mir schlecht geht. Nun gut. Irgendwie hat jeder seine Pflicht erfüllt. Ich bat um Hilfe und wurde gewarnt. Ab jetzt ist alles meine Schuld.

Ich entkleide den Fertigzitronenkuche. und platziere ihn auf einem Teller. Dann zerschneide ich ihn in einigermaßen gleichgroße Stücke. Dabei versuche ich zu vermeiden, dass meine Tränen auf ihm landen. Er soll ja nicht salzig schmecken, obwohl Tränensalz, wenn ich so darüber nachdenke, das bald folgende Geschmackserlebnis nicht unbedingt negativ beeinflussen dürfte. Nach dem Zerteilen ist es ganz wichtig, etwa einen Liter Wasser bereitzustellen. Ohne Wasser würde ich den Fertigzitronenkuche. gar nicht runter bekommen.

Das Essen läuft folgendermaßen ab: Ich nehme eine Kuchenscheibe und zerbreche sie in der Mitte. Diese Hälfte nehme ich in den Mund. Noch bevor ich mit dem Kauen beginne, fülle ich den Mund mit Wasser. Anschließend bewege ich meine Zunge nach oben, zerdrücke den Kuchen, verwandle das Ganze in eine Teigbreimasse und schlucke sie hinunter. Gekaut wird, wenn überhaupt notwendig, allerhöchsten zweimal. Normalerweise geht es auch ohne.

Diesen Prozess wiederhole ich einige Minuten lang, bis ich den gesamten, etwa handlangen Fertigzitronenkuche. verspeist habe. Meine Frau will normalerweise kein Stück abhaben, weil sie intelligenter ist als ich. Was ich beim Essen empfinde? Nicht viel und definitiv keine Befriedigung. Der Kuchen schmeckt nach Zitronenzucker, den man bei Ebbe aus dem Watt ausgebuddelt hat.

Habe ich aufgegessen, heißt es warten. Etwa eine halbe Stunde lang. Dann wird mir schlecht. Zu viel Zucker und Teigmasse. Die Übelkeit ist manchmal so unangenehm, dass ich mich ins Bett legen muss. Dann verstecke ich mich unter der Bettdecke und weiche den “Ich habe dich gewarnt”-Blicken meiner Frau aus, die sie mir hin und wieder aus Richtung Flur zuwirft. Wenn ich mich unbeobachtet fühle, jammere ich ein wenig.

Irgendwann muss ich dann auf die Toilette. Diesen Vorgang möchte ich an dieser Stelle aber nicht weiter schildern, da ich die Wattvergleiche nicht ausreizen will. Fassen wir stattdessen zusammen: Der Verzehr des Fertigzitronenkuche. ist keine gute Sache. Von Anfang bis Ende ist er ein Fehler, der nicht begangen werden sollte. Ich bin mir dessen bewusst, begehe ihn aber trotzdem. Aus mir unbekannten Gründen brauche ich diese Kuchentage sogar. Hin und wieder kommt in mir das Verlangen nach Fertigzitronenkuche. hoch und ich kann ihm nicht widerstehen. Der Kuchen schmeckt nicht und ist nicht gut für mich. Trotzdem habe ich hin und wieder Hunger auf diesen ekelhaften Kuchen, obwohl ich eigentlich gar keinen Hunger auf diesen ekelhaften Kuchen habe.

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