Triggerwarnung: Es geht im folgenden Text um Depressionen, Selbstmordgedanken und -versuche, Selbstzweifel, Tränen und noch viel mehr düsteres Zeug. Der Text musste raus. Aber ich weiß nicht, ob ihn jeder lesen möchte. Darum diese Warnung.
Liebe Depressionen,
ich hasse euch.
Das muss ich jetzt dann doch mal ganz unverblümt in den Raum werfen. »Hassen« ist ein inflationär genutztes Wort, das häufig falsch als Synonym zu »nicht mögen« Verwendung findet. Aber ich glaube, dass ich das Wort heute und auf euch bezogen in angemessenem Maß gebrauche. Ich hasse euch nämlich wirklich. Seit Jahren!
Wie schön es war, als ich vor etwa drei Jahren endlich in Therapie gegangen bin und mir eine Frau erzählte, warum ich Dinge in meinem Leben getan habe, von denen ich nicht einmal meiner Frau erzählt habe, kann ich nur schwer in Worte fassen. Man fühlt sich doch immer so allein. Und dann sitzt einem plötzlich jemand gegenüber, der das Gefühl des Alleinseins anderer Menschen studiert hat. Ich hatte zuvor immer gedacht, dass mein Studiengang »Geschichte und Philosophie der Wissenschaften« ein interessanter Gesprächseinstieg auf langweiligen Partys voller Menschen, die nicht wissen, wie man Gespräche beginnen oder zu lange Sätze in Texten beenden soll, wäre. Aber das Studium des Leids anderer? Wahnsinn.
Warum ich mir einmal, als ich alleine zu Hause war, etwa zehn oder fünfzehn Minuten lang ein Messer an diese eine ganz bestimmte Stelle am Arm gehalten habe? Das ist jetzt aber eine sehr persönliche Frage. Zumal »gehalten« untertrieben ist. Gedrückt habe ich es. Eine ruckartige Bewegung und ich hätte unsere schöne, weiße Küche eingesaut. Gut, dass in dem Moment niemand an der Tür geklingelt hat. Da hätte ich mich auf jeden Fall erschrocken. Nicht nur wegen unserer unangenehm lauten Klingel, sondern auch wegen meiner Sozialphobie. Ach ja, die gibt es ja auch noch. Es wäre lustig gewesen, wenn in dieser Sekunde ein Vampir geklingelt hätte. Wobei er mich ja nicht erreicht hätte, da ich ausblutend in der Küche liegend vermutlich nicht mehr die Tür geöffnet hätte. Und muss man Vampire nicht sogar rein bitten? Ich bitte meinen vermeintlichen Helfer in die Wohnung und werde von ihm ausgeschlürft. Wir besitzen diese merkwürdigen Strohhalme zum Zusammenbauen. Bestehen aus vielen einzelnen Stücken. Eckelemente, T-Stücke, Geraden. Was der Vampir sich daraus wohl gebaut hätte?
Vielleicht schnell ein paar Worte zur Beruhigung. Einmal hat eine Bekannte mir erzählt, dass man das Messer, wenn man sich die Pulsadern aufschneiden möchte, nicht quer über den Arm ziehen sollte, sondern längst. Wer es quer macht, will nur Aufmerksamkeit. Wer es längst macht, der meint es ernst. Dann ist die Sauerei auch größer. Für diese eine Bekannte möchte ich an dieser Stelle selbstverständlich darauf hinweisen, dass ich das Messer NICHT quer an meinen Arm gedrückt hatte. Ich wollte ja keine Aufmerksamkeit. Ich wollte sterben. Ganz professionell. Aber der Reihe nach.
So ein Quatsch. Der Reihe nach? Ich rede von Depressionen. Es gibt hier keine Reihe. Es gibt keine Ordnung. Es gibt kein Sortieren. Es gibt keine Kontrolle. Es gibt nur Chaos. Zum Beispiel wenn man nachts mit aufgerissenen Augen im Bett liegt und das Gehirn einem immer nur einen einzigen Satz in den Schädel brüllt: Steh auf und bring dich um. Steh auf und bring dich um. Steh auf und bring dich um. Steh auf und bring dich um. Steh auf und bring dich um. Ich tat das Beste, was ich in dieser Situation tun konnte: nichts. Ich starrte an die Decke und kämpfte mit Atemübungen gegen meine Panikattacke an. Was ja eigentlich nicht Nichtstun ist. Steh auf und bring dich um. Steh auf und bring dich um. Steh auf und bring dich um. Steh auf und bring dich um. Immer und immer wieder. Aber ich stand nicht auf. Ich blieb einfach nur liegen. Und tat nichts. Äußerlich. Innerlich kämpfte ich gegen diese verdammten Worte an und hatte nicht einmal mehr genug Kraft, um zu heulen, oder meine Frau zu wecken. Ich lag einfach nur da. Und tat gleichzeitig nichts und das Richtige. Steh auf und bring dich um. Steh auf und bring dich um. Steh auf und bring dich um. Steh auf und bring dich um. Steh auf und bring dich um. Steh auf und bring dich um. Etwa drei Stunden später, die innere Stimme wird leider nie heiser, schlief ich dann doch ein. Vermutlich aus Erschöpfung. Diese Erschöpfung rettete mir das Leben.
Der Moment, als ich den Entschluss fasste, in Therapie zu gehen, kam, als ich eines Tages vom Sofa aufstand, um mir meine Schuhe anzuziehen und vor eine Bahn zu springen. Ich stand auf und erschrak, weil mein Kopf mir hier ein Signal gegeben hatte, das ich selbstverständlich nicht ausführen wollte. Aber ich WAR aufgestanden. Einfach so. Und das war alarmierend. Wer verliert schon gerne die Kontrolle über sich? Beziehungsweise gibt die Kontrolle über sich an Gedanken ab, die Gänsehaut an mir hervorrufen, wenn ich gerade an sie denke. Man kann das jetzt kleinreden. Es war ja nur eine kleine Bewegung. Ein einfaches Aufstehen. Das ist doch nicht so schlimm. Oder? Oh doch. Es war schlimm. Und es gab weitere Anreize. Unzählige. Immer und immer und immer wieder. Letztendlich begab ich mich in Therapie.
Die Gründe für meine Depressionen sind mir fast schon egal. Man gräbt und gräbt. Man beantwortet Fragen. Man spekuliert. Man findet Gründe. Aber was bringen einem diese? Man kann sie nicht ändern. Man kann nur den Blick auf sie ändern. Mir ist früher viel Mist passiert. Das ist so. Das kann ich nicht ändern. Aber ich kann das akzeptieren und versuchen, mit den Gedanken so umzugehen, dass sie sich nicht in einen Spaten verwandeln und mir dabei helfen möchten, mein eigenes Grab zu schaufeln. Nett gemeint, wirklich. Aber aktuell würde ich bei uns lieber den Garten umgraben, weil wir Zwiebeln anbauen möchten. Und da nehme ich dann doch lieber einen richtigen Spaten. So einen mit Holzgriff und Metallgedöns. Keinen mit Selbstmordgedanken und endloser Traurigkeit. Mit Letzterem heult man nur rum. Mit Ersterem zwar auch, schneidet währenddessen aber immerhin Zwiebeln. Ich mag Zwiebeln.
Drei Jahre Therapie sind eine lange Zeit. Fast genauso lang habe ich damals am Gymnasium unter Schmerzen gelebt. Ein kaputter Rücken. Ein Arzt, der nicht einsah, dass man mehr machen musste, als meiner Mutter Ratgeber über Rückengymnastik zu empfehlen, die sie mir kaufen sollte, weil ich so am rumjammern war. Überhaupt: »Das liegt nur daran, dass Ihr Junge keinen Sport macht. Der soll sich mal nicht so anstellen.« Ein Leben mit Schmerztabletten, die immer stärker wurden. Humpeln. Aber vor allem: Schmerzen. Schmerzen. Schmerzen. Schmerzen. Diese verdammten Schmerzen. Und das Humpeln. Und die Fragen der Mitschüler*innen: »Warum humpelst du eigentlich so?« Manchmal gestellt mit diesem ekelhaften Grinsen. Als wäre es irgendwie lustig. Oder als erwarte man eine lustige Antwort von mir. Oder als fühlte man sich mir gegenüber überlegen. Oder als würde man nicht verstehen, dass ich das nicht absichtlich mache. Jahre voller Schmerzen. Und Selbstaufgabe. Natürlich stürzt man sich dann irgendwann in Dornenbüsche oder von Parkhäusern. Weil dadurch Schmerz entsteht, den man kontrollieren kann. Den ich herbeiführen kann, wenn mir danach ist. Weil dieser Schmerz Spaß macht. Und mich den anderen Schmerz vergessen lässt.
Ich werde nie vergessen, wie mir ein Arzt einmal erzählte, dass mich der Urlaub in Spanien, speziell die Hin- und Rückfahrt im Auto, beinahe in den Rollstuhl gebracht hätte. Das war kurz vor dem Krankenhausaufenthalt. Es war sogar genau der Arzt, der mich ins Krankenhaus brachte. Mit den Worten: »Ich würde Sie am liebsten gleich hier behalten, weil es sehr kritisch um Sie steht. Aber heute ist Freitag und vor Montag machen wir sowieso keine Eingriffe. Darum kommen Sie am Montag wieder.« Ich hatte im Anschluss ein wirklich schönes und angenehmes Wochenende. Man ist sehr entspannt, wenn man sich nicht traut, irgendwelche Bewegungen auszuführen, weil dieser verdammte Rollstuhl sekündlich näher auf einen zurollt und man nicht ausweichen kann, weil man keine schnellen Bewegungen machen will.
Natürlich ist das nicht alles. Noch lange nicht. Aber das ist ja normal. Depressionen sind vielseitig. Die Gründe für sie auch. Meine Therapeutin war klasse. Aber wir kamen hin und wieder auch mal an bestimmte Grenzen. Keine »Grenzen« in dem Sinne, dass wir sie nicht überwinden konnten. Aber Grenzen, die nur mit großem Aufwand überwunden werden konnten. Einmal stand es so schlecht um mich, dass sie mich vor die Wahl stellte: Einweisen lassen oder Antidepressiva.
Ich konnte mich nicht einweisen lassen. Ich leide doch nicht nur unter Depressionen. Ich leide doch auch noch an dieser bescheuerten Sozialphobie. Über die ich mit nur ganz wenigen Leuten gesprochen habe. Ich habe Angst vor Menschen. Vor allen Menschen. Ich will nichts mit Menschen zu tun haben. Wenn ich Menschen gegenüberstehe, habe ich Angst. Panische Angst. Ich werde nervös. Ich werde gestresst. Ich will weg. Ich bekomme Panik. Ich glaube, dass das viele Bekannte von mir überraschen wird. Aber das ist ja meistens so. Als Robin Williams sich umgebracht hat, habe ich auch oft gehört: »Aber der war doch immer so lustig.« Ich dagegen konnte mich gut in ihn hineinversetzen. Vielleicht sogar zu gut. Das war noch vor meiner Therapie.
Ich kann darum so gut mit Menschen umgehen, weil ich sie fürchte. Das war eine irgendwie lustige Erkenntnis. »Irgendwie lustige Erkenntnisse« bekommt man viele, wenn man in Therapie ist. Irgendwann kann man sich selbst nicht mehr ernst nehmen. So ticke ich also? Wahnsinn. Du Depp. Aber natürlich bin ich kein Depp. Ich bin krank. Teilweise schwerkrank. Darum die Antidepressiva. Nach manchen Sitzungen musste ich erst einmal mit lauter Musik durch den Park spazieren und dabei meine Tränen unter der Kappe verbergen. Einmal sollte ich während der Therapie laut zu mir sagen, dass ich ein toller Mensch bin. Ich habe ungelogen zwanzig Minuten an diesem Satz herumgestammelt und ihn auch am Ende der Zeit nicht herausgebracht. Ich war klatschnass geschwitzt. Und einmal wäre ich vor Nervosität und Anspannung sogar fast zusammengebrochen. Und das nur wegen diesem einen Eingeständnis. Aber es ging nicht. Das Problem war, dass meine Therapeutin von mir verlangte, den Satz so zu sagen, dass ich es mir selbst glaubte. Er sollte ernstgemeint sein. Und das konnte ich nicht. Mein Gehirn ließ es nicht zu. Die Depressionen hatten Angst vor dieser Äußerung. Sie hätte mir schließlich einen Bruchteil an Kraft gegeben, um mich ihnen gegenüber zu behaupten. Und das können Depressionen nicht zulassen. Jeder kleine Schritt kann ihnen gefährlich werden. Ich brach an dem Tag nicht zusammen. Aber den Satz brachte ich trotzdem nicht heraus. Am Ende ging ich nach Hause und schlief für mehrere Stunden auf dem Sofa ein. Die Sitzung war übrigens kein Fehlschlag. Es ist nie ein Fehlschlag, wenn man sich mit sich selbst beschäftigt. Bis heute habe ich den Satz übrigens noch nicht herausbekommen. Aber das ist OK. Vielleicht morgen.
Zwei oder drei Tage nach meiner ersten Tablette kamen die Nebenwirkungen. Man sitzt mitten in der Nacht auf der Toilette und wird von einer Übelkeit übermannt, die man noch nie erlebt hat. Der ganze Körper wird von einem Schweißfilm bedeckt und man kann nur noch nach der eigenen Frau um Hilfe rufen, während man von der Toilette sinkt und sich fragt, ob die Schwärze vor den Augen daher kommt, dass der eigene Kreislauf dies gerade für die beste Lösung hält, oder weil man das Licht im Bad nicht angemacht hat. Ich war zum Glück nie ganz weg. Aber es gab einige Nächte, in denen mir meine Frau einen kalten Waschlappen brachte, während ich auf dem kalten Badezimmerboden lag und es vor Magenkrämpfen kaum noch aushalten konnte.
Natürlich steckt man das weg. Was soll man auch sonst machen? Danach geht man duschen und morgens zum Bäcker, als wäre nichts gewesen. Das wird schon. Und es wurde auch. Meine Therapeutin war immer ehrlich zu mir, was natürlich auf der einen Seite vollkommen logisch sein sollte, mich gleichzeitig hin und wieder aber auch überraschte. Sie sagte mir von Anfang an, dass man nie genau wissen könne, ob die Tabletten wirken oder nicht. Placeboeffekt? Man will, dass es besser wird? Man denkt, dass es besser wird? Man überinterpretiert gute Tage? ODER: Es wird halt einfach so besser? Man weiß es nicht. Und das Wichtigste für mich war, dies zu akzeptieren. Es zählte viel eher der Gedanke, gerade wirklich alles zu probieren, was wissenschaftlich irgendeine Wirkung zeigen könnte. Ich wollte am Ende nicht sagen: »Ach, hätte ich es doch mit den Tabletten versucht.« Oder noch schlimmer: Ich wollte am Ende nicht meine trauernde Familie und meine trauernden Freund*innen sagen hören: »Ach, hätte er es doch mit den Tabletten versucht.«
Dieser ganze Quatsch ist einfach zu kompliziert, um ihn geordnet auf Papier zu bringen. Mir tut das Hin und Her ein wenig leid. Aber es passt zu diesen verdammten Depressionen und dieser verdammten Sozialphobie. Es ist ein einziges Chaos.
Seit einem halben Jahr bin ich nicht mehr in Therapie. Nein, ich bin nicht geheilt. Aber ich weiß mit mir umzugehen. Ja, mit mir, nicht mit meinen Depressionen. Die kommen sowieso, wann immer ihnen danach ist und erzählen mir dann, was sie möchten. Glücklicherweise kommen sie nicht mehr so oft wie früher. Aber manchmal sind sie da. Und dann weiß ich, wie ich mit mir umzugehen habe, um die Wirkung der Depressionen auf mich abzufangen. Diesen Vorgang kann ich schwer beschreiben. Ich gebe auf mich acht. Ich bin nett zu mir. Ich mache, was mir guttut. Und vor allem: Ich tue mir die Ruhe an. Das ist sowieso das Wichtigste. Ruhe bewahren. Manchmal schreibe ich mir Dinge auf. Gedanken. Ängste. Vorlieben. Schönes. Schlechtes. Oder etwas wie das hier. Ich versuche nicht, die Depressionen unter Optimismus zu begraben. Das funktioniert bei mir nicht. Ich nehme sie, wie sie sind. Ich unterhalte mich mit ihnen. Ich nehme sie ernst. Ich entkräfte sie. Manchmal klappt das richtig gut, manchmal mäßig. Manchmal gar nicht. Dann bin ich froh, dass ich meine Frau habe, die immer für mich da ist und mich unterstützt. Wenn ich ehrlich bin, hat sie mir mein Leben gerettet. Mehrmals. Meine Frau ist der pure Wahnsinn.
Ein halbes Jahr nach meiner letzten Therapiesitzung beginne ich also, über damals nachzudenken. Ich glaube, das macht man irgendwann automatisch. Es gab kein Ereignis, das meine aktuellen Gedanken ausgelöst hat. Sie kamen einfach. Wie es die Depressionen auch heute noch hin und wieder machen. Also habe ich mich hingesetzt und über sie geschrieben.
Eine Sozialphobie ist übrigens auch der pure Wahnsinn. Wie meine Frau. Nur unangenehm. Wenn Besuch kommt, bin ich bereits Stunden davor nervös und bekomme Panik. Mittlerweile zum Glück nicht mehr. Zumindest nicht mehr so schlimm. Auch damit kann ich umgehen. Die Bauchschmerzen ignoriere ich. Während diverser Experimente hat sich während der Therapie sowieso herausgestellt, dass die gar nicht echt sind. Die kommen nur, um eine angenehme Ausrede zu haben, heute doch zu Hause zu bleiben. Und ja, jemand mit Sozialphobie bezeichnet Bauchschmerzen als angenehm. Weil sie einen beschützen. Vor sozialen Kontakten.
Mit denen ich ja laut vieler Menschen so gut umgehen kann. Aber wie schon gesagt: Nur, weil ich sie fürchte. Ich bekomme Panik, wenn ich anderen Menschen gegenüberstehe. Und das sorgt dafür, dass sich mein Körper nur noch auf genau diese eine Situation konzentriert und alles an Energie hergibt, die er aufbringen kann, um mich gekonnt wieder aus ihr herauszuholen. Es ist, als würde man von einem wilden Tier durch den Wald gejagt werden. Vollkommene Fixierung. Nach Besuchen bin ich manchmal fast auf dem heimischen Sofa zusammengebrochen, weil mein Körper sich fühlte wie früher nach einer mehrstündigen Abiklausur. Stundenlange Konzentration. Stundenlanges Arbeiten am Limit. Das ermüdet. Wirkt nach außen hin aber vielleicht sogar gelassen und bewundernswert.
Zum Glück ist auch das nicht mehr so schlimm. Was wahnsinnig viel Arbeit war. Sich immer wieder mit Freunden treffen. Sich an der Uni mit Dozenten unterhalten. Mitarbeiter in Elektronikabteilungen wegen einer Beratung ansprechen, die man eigentlich gar nicht benötigt. Und ganz wichtig: Wenn es schlimm wird, heimlich Notizen machen. Notfalls auf der Toilette. Warum bist du so panisch? Wovor hast du Angst? Und so weiter. Ich hatte tatsächlich irgendwann am PC angefertigte Vordrucke einstecken, die ich nur noch ausfüllen musste. Eine Art Angstliste. Immer griffbereit.
Das Problem ist ja, dass es mir so schwerfällt, über meine Depressionen und die Sozialphobie zu reden. Ich will einfach nicht, dass sich meine Freunde verhalten wie sich Menschen eben verhalten, die Wissen, dass das Gegenüber unter Depressionen und einer Sozialphobie leidet. Die Leute SOLLEN mich besuchen. Ich MÖCHTE die Leute besuchen. Ja, es stresst mich, aber wenn man erst einmal eine Angstliste führt und dadurch feststellt, dass man am Ende eines jeden Eintrags schreibt, dass der Tag trotzdem total lustig und klasse war, dann versteht der Kopf irgendwann, dass da etwas nicht zusammenpasst.
Und ich will mich ja auch nicht aufspielen. So viele Menschen haben so viele Probleme. Da muss ich jetzt auch noch mit Depressionen um die Ecke gelatscht kommen? Mein Gott. Bloß nicht. Da rollen doch sowieso alle nur noch mit den Augen. Er hat sich ja noch nicht einmal WIRKLICH mit dem Messer verletzt. Soll sich mal nicht so anstellen. Soll sich mal nicht so aufspielen. Robin Williams. DEM ging es schlecht. DER ist jetzt schließlich immerhin tot. Und ja, so denkt man, wenn man Depressionen hat. Darum redet man nicht über sie. Darum verschweigt man sie. Darum fällt es einem so schwer, das verdammte Maul aufzumachen. Obwohl ich so unglaublich coole Freund*innen habe, vor denen ich mich nicht verstecken muss. Aber genau das ist das Problem mit der Sozialphobie. Will man seinen Freund*innen wirklich sagen, dass es einem körperlich unangenehm ist, sie zu besuchen oder von ihnen besucht zu werden? »Schön, dass ihr hier seid, aber deswegen hatte ich gerade eine Panikattacke, und außerdem fühle ich mich jetzt stundenlang unwohl, bin nervös und will hier weg. Wenn ihr geht, breche ich übrigens zusammen. Bock auf ein Brettspiel?« Man will seine Freund*innen nicht verletzen. Obwohl die das alles vermutlich verstehen würden. Aber man hat Angst. Und ist deswegen noch deprimierter.
Mein armer Kopf. Ihr verdammten Depressionen. Die Tabletten habe ich nach einem Jahr absetzen können, weil ein Diagramm gezeigt hat, dass meine Stimmung besser geworden ist. Das stimmt so natürlich gar nicht. Aber der therapeutische Prozess ist kompliziert. Ich kann das in diesem Text nur oberflächlich streifen. Grundsätzlich lernt man nach drei Jahren Therapie vor allem, dass das alles nicht so einfach ist. Es gibt nicht die Lösung. Es gibt nicht den Grund. Es gibt nicht die Methode. Es gibt nicht die eine Stimmung. Es gibt nicht nur besser oder schlechter. Man kann das alles nicht mit einer Zahl zusammenfassen. Man kann nur eins tun: Auf sich selbst hören, sich selbst ernst nehmen, über sich selbst nachdenken und Depressionen hassen. Ich sage es euch. Depressionen sind richtig, richtig scheiße.
Über die Therapie zu schreiben, ist schwierig. Und ich will es auch nicht. Zumindest nicht mehr als bereits getan. Ich kann keine Tipps geben. Jeder ist anders. Jeder funktioniert anders. Jedem hilft etwas anderes. Mir hat es immer geholfen, Situationen am Ende des Tages zu analysieren. Die Angstliste, vielleicht erinnert ihr euch noch. Am Ende stand dort fast immer: »Eigentlich war der Tag insgesamt doch ganz gut.« Aber eine solche Liste muss nicht helfen. Ein analytisches Vorgehen, oder ein rationales Vorgehen, muss nicht helfen. Nichts muss helfen. Aber vieles kann. Und das muss man finden. Darum holt euch Hilfe.
Einmal stritt ich mich mit meiner Therapeutin. Ich versuchte, ihr zu erklären, warum ich mit Bauchschmerzen nicht in die Bahn steigen konnte, um Freunde zu besuch. Sie fragte nur, was denn das Schlimmste sei, was passieren könne. Ich antwortete: »Ich könnte mir in die Hose machen.« Sie fragte darauf lediglich ganz trocken: »Und was genau ist daran so schlimm?« Ich hatte eine wirklich tolle Therapeutin. Am Ende unserer letzten Sitzung habe ich sie gefragt, ob ich sie in den Arm nehmen darf.
Diesen Text habe ich übrigens am Stück runtergeschrieben. In unter einer Stunde. Diese ganzen Gedanken schwebten zwei Tage lang in meinem Kopf herum und ich wurde sie einfach nicht los. Also schrieb ich sie eben auf. Einer muss es ja tun. Natürlich hat der Korrekturprozess dann noch ein Weilchen länger gedauert. Man streicht auch vieles. Und ergänzt vieles. Vielleicht will ich deswegen auch nicht mit anderen über meine Probleme reden. Weil es so unglaublich chaotisch ist und man nicht weiß, wo man anfangen soll. Und man nicht jede Frage beantworten kann. Und nicht jede Frage beantworten will.
Das letzte halbe Jahr war toll. Mir geht es gut. Ich halte wieder etwas von mir. Ich traue mir wieder etwas zu. Ich glaube, dass ich in meinem Leben noch viele, tolle Dinge erreichen kann. Und auch erreichen werde. Und gerade erreiche. Es geht mir gut. Dies sagen, beziehungsweise schreiben zu können, ist wundervoll. Für mich zumindest. Ich glaube, dass man sich um mich keine Sorgen mehr machen muss. Es ist nicht perfekt. Die Depressionen versauen mir auch heute noch gerne mal den Tag. Aber es ist gut. Es ist OK. Und ich hasse mich nicht mehr! Dafür hasse ich jetzt meine Depressionen. Und das fühlt sich gut an. Ich kann zu meinen Depressionen wirklich nichts anderes mehr sagen als:
Liebe Depressionen,
ich hasse euch.
Auch wenn der bittere Beigeschmack bleibt, dass ich es ebenfalls hasse, wenn sich ein endlos langer Text in seinem letzten Satz wieder auf den ersten bezieht. Aber daran haben jetzt einfach meine Depressionen schuld. Ob das stimmt? Was soll die Frage? Findet ihr, dass ich meine Depressionen ungerecht behandle? Tja. Die hat es auch nie interessiert, ob es stimmte, was sie mir da alles eingeredet haben. Jetzt bin ich endlich mal an der Reihe.
Mit freundlichem Hass,
Ich.
Ich werde noch privat ausführlicher dazu kommentieren, aber soweit mal das:
Es ist ein sehr sehr ausführlicher, trauriger aber auch ehrlicher und mutiger Text gewesen.
Und ich finde mich darin immer immer wieder. Insofern kann ich deine Geschichte gut nachvollziehen.
Jedenfalls beglückwünsch ich dich zu diesem Stück Selbsttherapie und dem Beitrag dazu, dass Menschen nicht ihre oder die Depressionen anderer tabuisieren, sondern offen angehen.