Als überzeugter Autoverachter pflege ich den stetigen Kontakt mit Massenverkehrsmitteln wie Bussen und Bahnen. Den vielen Vorteilen dieser Fortbewegungsart stellt sich immer wieder ein großer Nachteil entgegen, der immer auftritt, wenn große Massen verkehren: die Massenpanik.
Eine Bahnfahrt aus den letzten Tagen soll hier als Rahmenhandlung einer Geschichte dienen, die mir mal wieder in erheiternder Deutlichkeit gezeigt hat, wie Massen- und Meckersüchtig die Menschheit doch ist.
Wie es sich für Rahmenhandlungen gehört, möchte ich gar nicht zu viel über sie berichten, denn der von ihr umrahmte Inhalt ist deutlich interessanter. Ich sollte lediglich erwähnen, dass die Fahrt aufgrund einer Gleisstörung nicht richtig aufgenommen werden konnte und man somit gezwungen wurde, anstatt einfach von Punkt „A“ zu Punkt „B“ zu fahren, Abstecher zu den Punkten „C“ und „D“ in Kauf nehmen musste.
Ich sehe in diesen ungeplanten Umsteigeaktionen kein Problem, da man als Bahnfahrer einfach damit rechnen muss. Da sich dieses Ereignis zudem mitten in der Frankfurter Innenstadt abspielte, musste man sich auch keine Sorgen machen, dass man niemals sein Ziel erreichen und als verhungertes Skelett in einem von Schimmel übersäten Dreckseck des Bahngeländes enden würde. Störungen in einer solch viel bebahnten Ecke der Erde werden von logistisch hochbegabten Menschen immer schnell gelöst oder man bekommt als wartender Kunde attraktive Alternativen geboten.
Die Alternative hieß in diesem Zusammenhang „umsteigen“. Jede Minute ertönte eine Durchsage am Bahngleis, wie man wann und wo die Ersatzzüge erreichen konnte. Grund genug für die mich umgebende undenkbar dumme Ignorantenmasse, panische Fragereien durch die Gegend zu rufen, wie man wann und wo die Ersatzzüge erreichen könne. Auf die Idee, den Mund aus- und die Ohren einzuschalten kam aber niemand. Ich verharrte an Ort und Stelle, da ich es erstens nicht eilig hatte und zweitens freudig auf die unausweichliche Massenpanik warten wollte.
Irgendwann fand man schließlich jemanden, der die Durchsage verstanden hatte und den Panikmachern aushelfen konnte. Nach einer klaren Wegbeschreibung stürmte die Horde los und ich hinterher. Man schob, drängte, quetschte und presste sich in einer einzigen geballten Masse an den Bahnsteig und wartete auf den in kürze eintreffenden Alternativzug.
Als er dann eintraf musste ich unweigerlich an eine Dokumentation über die Herstellung von Bratwurst denken. Wie eine schleimige Fleischpampe drückte sich die Menschenmasse in die schützende Darmummantelung des Zuges. Als noch nicht einmal die Hälfte der anwesenden Wurstzutaten im Darm platzgenommen hatte, drohte dieser aufgrund der Überbefüllung bereits zu platzen. Da Fleischreste nicht denken können, versuchten sie trotzdem, den Darm immer weiter zu befüllen.
Da Durchsagen das harte Los gezogen haben, durchgehend ignoriert zu werden, interessierte sich auch niemand mehr für die Ansage, dass schon eine weitere Bahn zur Verfügung gestellt wurde und man sich somit keine Sorgen machen müsste, die aktuell am Gleis stehende Bahn nicht betreten zu können. Die drängende Masse ignorierte und drückte weiter.
Erst ein eintreffender Sicherheitsbeamter schaffte es, die Menge zu entknoten und die Bahntüren zu schließen. Direkt nach seiner Tat wurde ihm aber klar, dass er besser nicht eingeschritten wäre. Denn plötzlich konzentrierte sich die gesamte Wut der ihn umgebenden Menschen auf ihn. Warum die Bahn denn mal wieder Probleme machen würde, wurde er gefragt. Und warum die Züge nicht mehr führen. Und warum er nicht etwas unternähme und anstatt hier doof rumzustehen sich doch mal lieber einen Zug schnappen und fahren sollte um das Chaos ein wenig zu besänftigen. Ich bin mir sicher, dass dieser arme Mann in diesem Moment auch Schuld war an der Ölkrise, den Kriegen und all dem Leid auf der Welt sowie den teuren Butterpreisen. Aber genauso wusste ich, dass er jetzt vor allem an einer Sache Schuld wäre und zwar an seinem sofortigen Verschwinden auf eine einsame Insel.
Einen Vorteil aber hatte das Geschimpfe und Gezeter: Meckernde Menschen vergessen die Zeit und so traf auch schnell ein neuer und vor allem leerer Zug ein. Die Menschen fixierten nicht mehr den kleinen Beamten sondern schlüpften erneut in die Rolle der Wurstmasse und somit auch in den Darm. Ich schloss mich ihr an, da ich des Wartens überdrüssig geworden war.
Ich betrat den Darm und musste zugleich feststellen, dass es unglaublich voll und stickig war. Alle standen auf einem Fleck und bedrängten sich gegenseitig. Da ich nicht gerne unbekannte Menschen auf meinen Füßen stehen habe, sah ich mich hilfesuchend um. Wenige Meter vom sich zu einem Knäuel verbundenen Hauthaufen herrschte gähnende Leere im Zug. Scheinbar hatten alle an der selben Stelle den Zug betreten und direkt danach ihr Ziel für den heutigen Tag, den Zug zu betreten, als erledigt abgehakt und den Denkschalter in ihrem Gehirn wieder in die neutrale Position gestellt, mit der sie schon ihr gesamtes Leben umher gesumpft sind.
Da ich aber nicht sumpfen sondern atmen wollte, kämpfte ich mich, meinen Arm als Machete benutzend, durch den Körperdschungel und schaffte es so ins Freie. Ich ging ein paar Schritte und atmete durch. Gerettet.
„Hey, da hinten ist ja viel mehr Platz als hier.“, drang es sofort in meine Ohren. Ich blickte zurück und sah eine Flutwelle auf mich niederprasseln. Wie eine dumme Schafsherde dem Leitschaf, folgen die Leute im Abteil mir. Alle. Innerhalb kürzester Zeit stand ich nicht mehr allein auf weiter Flur sondern umringt im vollen Gang. Dort, wo zuvor die bedrückende Enge herrschte, war nun ein Loch der Freiheit. Sollte ich mich nun dorthin begeben? Nein. Denn man würde mir wieder folgen. Platz zum Atmen würde mir diese Fahrt über verwehrt bleiben.
Doch zum Glück musste ich nur ein paar wenige Stationen zurücklegen um wieder in das gewohnte Chaos der Frankfurter Innenstadt einzudringen. Dass einem der Feierabendverkehr einmal befreiend und ruhig vorkommen würde, hätte ich mir vor diesem Zeitpunkt niemals vorstellen können. Doch wie heißt es doch so schön? „Man lernt nie aus.“ Und ich habe gelernt, dass es nichts dümmeres gibt als koordinationslose Menschen auf engem Raum.