Unzählige Bücher widmen sich der Frage: Was ist ein Gedicht? Auch an der Universität wird diese Frage häufig den Studenten gestellt. Eine definitive Antwort gibt es nicht. Muss sich ein Gedicht reimen? Ab wie vielen Versen ist ein Gedicht ein Gedicht? Muss ein Gedicht kurz sein? Und wann ist ein Gedicht überhaupt kurz? Die Versstruktur scheint hier noch das zu sein, über das am wenigstens diskutiert wird. Ein Gedicht ist eine kurze Geschichte in Versform. Ja, das klingt doch eigentlich ganz annehmbar. Gestritten wird natürlich trotzdem. Annehmbar ist nicht akzeptabel. Vor allem nicht an einer Universität. Gut, dass ich keine Universität bin.
Ein Ort, an dem dieser Frage nicht mehr nachgegangen wird, ist der Bürgerverein Eschersheim. Denn anstatt sich mit Grundsatzfragen auseinanderzusetzen, wird hier einfach munter drauflos gedichtet. Man ist der Universität einen Schritt voraus. Gemeine Menschen würden vermutlich einwerfen, dass der Bürgerverein Eschersheim der Universität eher hinterherhinkt, da man mit dem Nachdenken noch nicht einmal angefangen hat, doch ich bin kein Freund gemeiner Menschen. Der Bürgerverein Eschersheim reimt was das Zeug hält.
In der Septemberausgabe des Jahres 2014 stößt man gleich auf der ersten Seite auf ein Gedicht. Das nenne ich doch mal einen gelungenen Einstieg. Von wegen, Gedichte ziehen nicht mehr und sind so modern wie ein Telefon mit Wählscheibe. Nicht im Bürgerverein Eschersheim. Hier wird mit einem einleitenden Gedicht gleich zu Beginn eine so dicke Niveaulatte vor die Eingangstür gehängt, dass nur die gebildetsten Kulturliebhaber um Einlass bitten. Das Gedicht trägt den Titel “Voll im Trend” und wurde geschrieben von Hans W. Wolff. Es umfasst neun Strophen mit jeweils vier Versen. Damit ihr euch einen Eindruck vom Gedicht verschaffen könnt, zitiere ich die erste Strophe.
Voll im Trend
De Bick Benn un des Rieserad,
e Schticksche weider Schottlandjahd –
des kenn isch alles, isch war da,
in London, ja. Mir meiner Fraa.
Der Autor schreibt über seinen Londonaufenthalt. “Voll im Trend” ist ein lustiges, unbeschwertes Werk über eine Urlaubsreise. Das Ganze sogar auf hessisch und mit einer Frau. Kritik zu üben fällt mir im Traum nicht ein. Hier und da rumpelt und poltert es zwar auf dem Reimschemadachboden und der eine oder andere Reim fühlt sich etwas zu gewollt an,
(Am Mondach simmer middem Fluch-
zeusch haam. Es war, waaß Gott, genuch.)
aber lasst uns alle doch einfach mal nicht so sein.
Wer jetzt glaubt, dass nach diesem gereimten Einstieg nichts mehr käme und sich der Bürgerverein Eschersheim von nun an der gewöhnlichen Berichterstattung in ungereimter Form zuwendet, der hat sich getäuscht. Hier mal ein Bild der ersten Seite der Vereinszeitung:
Links beginnt das eben zitierte Gedicht, rechts oben wird es fortgeführt und beendet. Das Gedicht wurde zentriert formatiert, wie sich das für ein Gedicht gehört. Es folgt sogleich ein Einschub: Selbstverständlich muss ein Gedicht nicht zwangsläufig zentriert sein, auch rechts- oder linksbündigen Gedichten wird ihre Zugehörigkeit zur Textsorte nicht aberkannt. Hier sprechen persönliche Präferenzen aus mir. Dies sei mir verziehen, bin ich doch ziemlich aufgeregt wegen der Dinge, die nun folgen.
Nach “Voll im Trend” stoßen wir nämlich tatsächlich auf ein weiteres Gedicht. Dieses trägt den Titel “Neues Löschgruppenfahrzeug für die Freiwillige Feuerwehr Eschersheim”. Der Titel mag im Vergleich zum vorherigen Werk zu lang erscheinen, doch spiegelt er lediglich die Komplexität des eigentlichen Gedichtes wieder und versucht, den Leser frühzeitig darauf vorzubereiten. Das Gedicht besteht aus fünf Strophen mit drei, sieben, fünf, vier und zwei Versen. Wieder möchte ich die erste Strophe zitieren.
Neues Löschgruppenfahrzeug für die
Freiwillige Feuerwehr Eschersheim
Im Mai dieses Jahres erhielt die Freiwillige
Feuerwehr Eschersheim ein neues Löschgruppen-
fahrzeug mit der Bezeichnung LF 20.
Ich bin schwer beeindruckt. Hat man sich im ersten Gedicht noch auf einen vierhebigen Jambus als Reimschema verlassen, schlägt man hier eine vollkommen andere Richtung ein. Das Reimschema wird nach Hause geschickt und ihm anschließend noch ein lautes Gähnen hinterhergeschickt. Die komplexe Struktur des Gedichts “Neues Löschgruppenfahrzeug für die Freiwillige Feuerwehr Eschersheim” an dieser Stelle zu analysieren, würde den Rahmen des Textes, und die Masse an Sekundärliteratur, die ich zurate ziehen müsste, wiederum meinen Geldbeutel sprengen.
Freunde der gehobenen Literatur kommen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Nehmen wir doch noch ein kurzes Beispiel. Strophe fünf:
Dieses neue Fahrzeug ist das Arbeitstier der
Freiwilligen Feuerwehr Eschersheim und der
Wehrführer Stefan Kadletz ist sehr froh, dass
dieses Auto nach Eschersheim kam, es ist doch
das erste seit 2004.
Der, der, dass, doch, 2004. Als der liebe Gott die Reimschemata erfand, dachte er an den Bürgerverein Eschersheim und an “Neues Löschgruppenfahrzeug für die Freiwillige Feuerwehr Eschersheim”. Vielleicht erklärt dieser Umstand auch, warum sich unter dem Gedicht kein Autorenname finden lässt.
Es mag etwas plump erscheinen, an dieser Stelle eine Floskel einzustreuen, dennoch möchte ich dies tun: Aller guten Dinge sind drei. Ganz beflügelt von den letzten literarischen Höhenflügen blättert der auf Wolke sieben sitzende Leser um und sieht was? Genau. Ein weiteres Gedicht. “Rückblick auf´s Eschersheimer Wochenende”.
Es gibt zwei Auffälligkeiten: Zunächst das Autorenkürzel am Ende des Gedichts. “JW”. Wer ist dieser mysteriöse Reimer? Wir werden es wohl nie erfahren. Beim Bürgerverein Eschersheim nachzufragen, kommt für mich nicht in Frage. Ich traue mich nicht. Aber ich traue mich, Auffälligkeit zwei zu nennen: Es gibt eine Art Vorwort:
Rückblick auf´s Eschersheimer Wochenende
Unser Beitrag zum Erfolg des Eschersheimer
Wochenende auf dem Gelände der Ludwig-Richter-
Schule vom 18.07. bis 20.07.2014.
Man engagiert sich mit diesem Gedicht also für die Jugend. Vorbildlich. Heutige Schüler müssen frühzeitig an das Gedicht herangeführt werden, damit aus ihnen später auch etwas wird. Das folgende Gedicht besteht aus sieben Strophen mit zwölf, fünf, fünf, vier, sechs, vier und sechs Versen. Ich sehe aufgrund ihrer Länge davon ab, die erste Strophe zu zitieren. Stattdessen bediene ich mich der wohl emotionalsten Strophe, und zwar der dritten.
Besonders hervorheben möchte ich unsere Kinder, welche
mit großen Einsatz Süßigkeiten und
Schmalzbrote den Besuchern des Eschersheimer
Wochenende auf dem gesamten Festplatz
anboten und verkauften.
Was zunächst wie ein Rechtschreibfehler aussieht (großen statt großem) stellt sich schon nach wenigen Worten als gewitzte Kritik am Endreim heraus, wenn man feststellt, dass “großen” und “Schmalzbrote” einen recht unsauberen Binnenreim bilden.
Man lernt so einiges an der Universität, auch über Gedichte. Aber was man definitiv nicht lernt: Wie man zu einem Lyriker wie JW werden kann. An der Universität lernt man Theorien und Methoden zur Lyrikanalyse. Selbstverständlich ist dies das Fundament, auf denen ein echter Dichter sein Werk errichten muss, doch wie genau dies geschehen soll, muss erst mühselig gelernt werden. Viele scheitern daran. Viele geben auf. Doch zum Glück gibt es den Bürgerverein Eschersheim. Einen Verein, der Dichtern Mut machen will.
Gebt nicht auf. Auch ihr könnt es schaffen. Auch ihr könnt Werke wie “Voll im Trend” oder “Neues Löschgruppenfahrzeug für die Freiwillige Feuerwehr Eschersheim” kreieren. Und dann werdet ihr es sein, die man zukünftig an den Universitäten analysiert. Vergesst dann aber bitte nicht, wem ihr dies zu verdanken habt.