Adventserzählungen 2022 – Tag 07

Vor vielen Jahren trug ich noch eine Brille. Meine Augen hatten irgendwann beschlossen, nicht mehr das zu tun, wofür ich sie unterbezahlte und stattdessen die Welt von Jahr zu Jahr ein wenig unschärfer aussehen zu lassen. Aber letztendlich ist das mittlerweile ja keine große Sache mehr. Einen Besuch Beim Augenarzt später trug ich eine Brille und nahm die Welt wieder in ihrer gewohnten Schärfe wahr.

Ich dachte mir nichts dabei. Irgendwie handelte es sich hier doch um den natürlichen Verlauf der Augen. Augen werden schlechter. Meine Familie kann ein Lied davon singen und dieses hatte mich bereits darauf vorbereitet, dass es auch mich irgendwann treffen würde. Letztendlich ist es ja auch nicht schlimm, eine Brille tragen zu müssen. Zumindest sagen das alle Brillenträger*innen, wenn man sie darauf anspricht. Jedoch leben die meisten dieser Menschen kein so abenteuerliches Leben wie ich.

Wenn ich während einer Expedition durch den Dschungel spaziere, habe ich zwei Dinge, um die ich mich durchgängig kümmern muss. Nummer 1: Nicht von einem wilden Tier getötet zu werden. Nummer 2: Meine Brille nicht zu verlieren. Nummer 2 kann schnell das Gegenteil von Nummer 1 hervorrufen, wenn man nichtsahnend und nichtssehend durch den Dschungel stolpert und sich der eigene Fuß auf den Schwanz einer großen Raubkatze verirrt. Unangenehme Situation. Aber wenigstens muss man sich das Elend am Ende nicht angucken.

Jedenfalls war das tatsächlich immer ein großes Problem für mich. In der Regel trug ich stets drei bis fünf Brillen mit mir herum, um wirklich auf alles vorbereitet zu sein. Verlor ich die Brille, die ich gerade auf der Nase trug, hatte ich zum Glück immer eine Alternative einstecken. Naja, fast immer. Als ich die Nebelkatakomben der arktischen Tiefsee erkundete, hatte ich nach einiger Zeit tatsächlich alle meine Brillen verloren, was sich im Nachhinein jedoch als Glückstreffer herausstellte, da der Nebel ohne Brille einfach durchschaut werden konnte und er lediglich scharfsehende Augen betraf.

Aber von diesem Abenteuer möchte ich heute nicht erzählen. Die heutige Geschichte ereignete sich einige Jahre nach der oben beschriebenen Reise. Ein paar Bekannte von mir hatten es sich in den Kopf gesetzt, den Kilimandscharo zu erforschen. Und natürlich lud man mich ein.

Dazu ist zu sagen, dass ich selbstverständlich sehr gerne selbst auf Reisen gehe und die Ziele dieser Reisen selbst bestimme, jedoch hat sich mit den Jahren einfach herausgestellt, dass es hin und wieder auch ganz angenehm sein kann, sich anderen Forschungsreisen anzuschließen. Ich will mich an dieser Stelle nicht zu sehr selbst lohnen, jedoch habe ich einfach ein großes Wissen angehäuft, wenn es darum geht, Forschungsreisen zu leiten und zu unterstützen. Und aus diesem Grund ist es bis heute keine Seltenheit, dass mich Menschen kontaktieren, die von meinen Erfahrungen profitieren möchten. Außerdem finde ich es immer spannend, die Reisen anderer Leute zu begleiten. Jeder hat eigene Herangehensweisen bei der Erforschung des Unbekannten und aus jeder dieser Herangehensweisen kann man etwas lernen und für die nächste, eigene Reise mitnehmen. Ich mag neue Ideen, darum bin ich immer froh, wenn ich andere Menschen begleiten soll.

So war ich also auch dabei, als es darum ging, den Kilimandscharo zu erkunden.

Auf das Wesentliche reduziert ging es diesmal darum, eine Höhle zu erforschen. Diese hatte der Leiter der Unternehmung einige Monate zuvor zufällig gefunden, als er eigentlich einen anderen Teil des Berges erkunden wollte. Er hatte sich die Position der Höhle notiert und anschließend alle Vorbereitungen getroffen, eine Expedition dorthin zu starten.

Die Reise nach Tansania verlief ohne nennenswerte Probleme, anschließend machten wir uns auf den Weg zur Höhle, deren genaue Lage ich an dieser Stelle natürlich nicht preisgeben möchten. Es war mit großem Aufwand verbunden, die Höhle zu erreichen. Mittlerweile würde ich den Weg dorthin wohl nicht mehr schaffen, dafür bin ich einfach zu alt. Und auch Menschen ohne Klettererfahrung werden diesen Ort wohl niemals erreichen. Letztendlich kamen wir aber alle wohlbehalten an und hatten lediglich mit ein paar Kratzern zu kämpfen, die zu Kletterausflügen dieser Art aber natürlich irgendwie auch dazugehören. Wer klettern geht und am Ende nicht einen Kratzer vorzuweisen hat, war nicht klettern, sondern spazieren. Ich weiß natürlich, dass das merkwürdig und auch ein wenig wie eine Rechtfertigung für Kletterunfälle klingt, aber hin und wieder muss man die Sache auch mal mit ein wenig Humor nehmen. Was bleibt einem auch anderes übrig, wenn man an einem dünnen Seil baumelt und es unter einem unzählige Meter senkrecht nach unten geht?

Höhlenexpeditionen sind immer äußerst gefährlich. Ich habe in diesen Texten bereits über einige Höhlenbesuche gesprochen und ich glaube, dass mittlerweile klar sein sollte, dass man nicht einfach so in eine unbekannte Höhle spazieren sollte. Zum Glück befanden sich Profis an meiner Seite. Niemand nahm die Sache auf die leichte Schulter. Vor allem mein Freund und Leiter der Expedition ging immer wieder mit allen die Details durch, die während der bevorstehenden Expedition beachtet werden mussten. Unser Trupp bestand insgesamt aus elf Personen, von denen jedoch lediglich fünf die Höhle betraten. Der Rest war zunächst für das Lager zuständig und kümmerte sich um Dinge wie den Hin- und Rückweg, die Verpflegung, die Notfallversorgung und so weiter. Zu den fünf Personen, die als erste die Höhle betraten, zählte ich selbstverständlich auch.

Es fällt mir immer schwer, von meinen Reisen zu berichten, wenn diese nicht reibungslos verliefen. Ich bin mir sicher, dass es sich mittlerweile so anfühlen muss, als wäre ich der schlechteste Forscher aller Zeiten, da andauernd etwas schiefläuft. Aber natürlich suche ich mir für diese Berichte auch die dramatischsten, ereignisreichsten oder auch interessantesten Reisen aus. Nicht immer ging etwas schief. Aber während dieser Reise ging leider so viel schief, dass nicht einmal alle Krückstöcke der Welt sie noch hätten stützen können.

Die ersten zehn Minuten ereignete sich nichts Besonderes. Wir liefen einen Gang entlang. Keine Abzweigungen. Keine verwinkelten Gänge. Keine Löcher. Nichts. Ein einfacher Gang. Was zunächst langweilig klingt, war für uns nach wenigen Minuten eine Besonderheit. Normalerweise waren Höhlen dieser Art nicht langweilig. Höhlen gingen nicht einfach nur geradeaus. Höhlen waren verdammt gut darin, einem Hindernisse in den Weg zu stellen. Aber diese hier? Der Eingang war etwa zwei Meter hoch und genau diese Höhe behielt der Gang die ganze Zeit über bei. Als hätte sich ein Wurm mit diesem Durchmesser durch den Berg gegraben. Je weiter wir in den Berg eindrangen, desto faszinierender wurde die Sache. Das Fehlen des Merkwürdigen machte die Höhle umso merkwürdiger.

Wir trugen Helme, an denen Lampen befestigt waren und sahen uns um. Aber wir sahen nichts. Nur Stein. Und diesen langen, langweiligen Gang. Als wir dann auf einmal an dem Loch ankamen, erschraken wir beinahe.

Es ging senkrecht nach unten und kein Boden war zu erkennen. Wir leuchteten mit allem hinunter was wir hatten. Kein Boden. Kein gar nichts. Natürlich ist die Bezeichnung »Loch« unglaublich nichtssagend, aber anders konnte ich das, was sich da vor uns befand, nicht beschreiben. Es sah so aus, als hätte der Wurm, der sich bisher so angenehm gerade durch den Berg geschlängelt hatte, plötzlich das Bedürfnis gehabt, sich senkrecht nach unten zu graben. Das Loch hatte den gleichen Durchmesser wie der Rest der Höhle. Leider konnten wir nicht sehen, was sich am Ende des Lochs befand.

Und dann kam eine Teilnehmerin der Expedition auf eine Idee, die uns allen zum Verhängnis wurde. Sie kam auf die Idee, einen Stein in das Loch zu werfen, um zu sehen, wann dieser den Boden berührt.

Ich weiß bis heute nicht, warum Menschen es für eine gute Idee halten, irgendwelche Dinge in Löcher zu schmeißen, von denen man nichts Genaueres weiß. Klar, in Filmen machen das andauernd irgendwelche Menschen, jedoch sollte man das Verhalten in Filmen nicht auf die Realität übertragen. Einfach so einen Stein in ein tiefes, unbekanntes Loch zu schmeißen, konnte ganz, ganz böse enden.

Und das tat es auch.

Noch bevor ich etwas sagen konnte, hatte die Dame bereits einen faustdicken Stein in das Loch geschmissen. Es polterte ein- oder zweimal, während der Stein an den Rändern des Lochs abprallte und dann ertönte auf einmal ein lauter Schrei. Ich sah meinen Bekannten an und noch bevor wir etwas unternehmen konnten, hörten wir ein merkwürdiges Geräusch von unten ertönen. Für Spekulationen blieb keine Zeit, als die Frau, die den Stein geschmissen hatte, auf einmal einen Pfeil in ihrem Hals stecken hatte, den Halt verlor und in das Loch hinabstürzte.

Wir warfen uns auf den Boden. Suchten Deckung. Hörten erneut das Geräusch eines abgeschossenen Pfeils und waren zunächst erfreut, als wir ihn aus dem Loch an uns vorbeischnellen sahen. Jedoch hielt die Freude nicht lang, als wir die Funken sahen, die von dem Pfeil aufstiegen. Ich war der Erste, der handelte. Ich krabbelte nach vorne, auf den Rand des Lochs zu, drehte mich mit den Füßen nach vorne und ließ mich auf dem Bauch liegend das Loch hinunter. Ich hatte das Gefühl, ganz genau zu wissen, was da jemand in unsere Richtung geschossen hatte. Mein Freund tat es mir gleich, schien genauso wie ich seine Intuition die Kontrolle übernehmen lassen. Nur die beiden anderen Begleiter handelten anders. Einer blieb einfach liegen, der andere sprang auf und rannte auf den Höhlenausgang zu. Dabei kam er an dem Pfeil vorbei und zwar genau in der Sekunde, in der das an diesem befestigte explosive Material detonierte.

Ich weiß selbst nicht genau, wie es mir gelungen ist, mich nach der Explosion weiter an der Felskante festzuhalten. Meinem Freund gelang dies jedenfalls nicht. Er stürzte ab, wobei ich aufgrund der Explosion nicht einmal hören konnte, ob er währenddessen einen Schrei von sich gab. Von meinen anderen Begleitern habe ich nie wieder etwas gesehen.

Aber ich konnte allgemein nichts mehr sehen. Die Explosion war nicht besonders groß gewesen, jedoch reicht auch eine kleine Explosion in einem engen Raum aus, um Chaos zu stiften. Ich konnte nichts mehr sehen oder hören. Alles war voller Rauch und Staub, gleichzeitig hatte ich ein lautes Piepen in den Ohren. Ich war vollkommen orientierungslos. Ich umklammerte die Felswand mit meinen Fingern und suchte mit meinen Füßen nach einem Halt, um mein Gewicht zu tragen.

Dann traf etwas meine Finger der linken Hand. Ich konnte noch immer nichts sehen, war mir aber sicher, dass es sich hierbei um einen Stein handeln musste. Vermutlich war der gesamte Gang gerade dabei, einzustürzen. Ich musste hier weg. Und so begann mein Abstieg. Blind und taub bewegte ich meine Füße nach unten, blieb immer mit drei Gliedmaßen an der Wand hängen, während ich mit einer Hand oder einem Fuß einen etwas tiefer gelegenen Halt suchte. Mein Zeitgefühl hatte ich längst verloren. Es ging nur noch ums Überleben. Würde mich einer der herunterfallenden Steine am Kopf treffen, wäre es das für mich vermutlich gewesen. Klar, ich trug natürlich einen Helm. Aber gleichzeitig muss man sich in Situationen wie diesen auch nichts vormachen.

Ich weiß nicht genau, wann meine Füße den Boden berührten, aber es muss viele Minuten später gewesen sein. Meine Augen hatte ich irgendwann wieder öffnen können, jedoch half mir das nicht wirklich weiter. Der Staub um mich herum war immer noch so dicht, dass das Licht meiner Kopflampe nur wenige Zentimeter vorwärtskam. Nicht einmal meine Füße konnte ich erkennen. Als sie auf einmal auf den Boden stießen, konnte ich es zunächst gar nicht glauben, stellte mich vorsichtig hin, drehte mich von der Wand weg, ging in die Hocke und nutzte das Licht meiner Lampe, um sicherzugehen, dass ich nicht nur auf einem kleinen Vorsprung stand und einen Schritt später abstürzte.

Durch das blinde Klettern weiß ich bis heute nicht, wie weit nach unten ich mich vorgewagt hatte. Aber letztendlich war mir das auch egal. Die Dichte des Staubs lichtete sich ein wenig, wodurch ich meine Prioritäten umgehend auf meinen Freund richtete. Er musste hier irgendwo sein, schließlich war er vor meinen Augen abgestürzt. Ich rief leise seinen Namen, bekam jedoch keine Antwort. Dann sah ich ihn. Und hätte beinahe einen Schrei von mir gegeben.

Mein Freund lag regungslos auf dem Boden. Zunächst sah ich nur seine Schuhe, als ich näher kam aber auch den Rest seines Körpers. Ich will an dieser Stelle auf zu genaue Beschreibungen verzichten, jedoch war sofort klar, dass er den Sturz nicht überlebt hatte. Er lag teilweise auf dem Rücken, teilweise auf dem Bauch, und es war einfach kein schöner Anblick.

Mir blieb keine Zeit für Trauer. Auf der einen Seite stand zunächst mein Überleben an erster Stelle. Verluste gehören leider zum Forscherleben dazu. So hart es klingt: Ich durfte mir darüber keine Gedanken machen. Trauern konnte ich, wenn ich diese Höhle verlassen hatte. Auf der anderen Seite sah ich mich aber auch mit einem anderen Problem konfrontiert. Unter meinem Freund lag noch eine andere Person. Jedoch keine, die meinem Trupp angehört hatte.

Diese Person war menschlich. Ich würde sie nicht direkt als einen Menschen bezeichnen, da ich keine Untersuchungen an ihr durchführen konnte, um sie irgendeiner Spezies zuzuordnen. Ihr Körperbau erinnerte zwar an den eines Menschen: Ein Kopf, zwei Arme, zwei Beine. Aber andere Dinge wiederum passten nicht. Die Augen des Wesens waren beispielsweise gigantisch. Sie erinnerten an zwei schwarze, runde Bierdeckel, die tatsächlich einen Großteil des Kopfes einnahmen. Es trug heruntergekommene Kleidung, die aus einem merkwürdigen Stoff oder Leder hergestellt worden waren. Ich konnte das Material nicht zuordnen, als ich mich hinunterbeugte und das Wesen vorsichtig berührte.

An einer Stelle am Kopf des Wesens trat eine Flüssigkeit aus, die sein Blut darstellte. Jetzt erkannte ich, was passiert war. Der Stein. Er hatte das Wesen am Kopf getroffen. Und mein Freund war nach der Explosion nicht nur den Abhang hinuntergestürzt, sondern auf dem Wesen gelandet, was das Leben meines Freundes nicht gerettet hatte. Dafür aber allem Anschein nach mein eigenes. Neben dem Wesen lag ein Bogen. Auf dem Rücken trug es einen Kocher mit merkwürdig aussehenden Pfeilen.

Die Augen des Wesens waren noch immer geöffnet, obwohl es sich nicht bewegte. Ich schob den Leichnam meines Freundes zur Seite, um das Wesen von dessen Gewicht zu befreien. Dann hörte ich die lauten Geräusche von eben. Der Boden vibrierte leicht. Ein Stein fiel nur wenige Zentimeter neben mir auf den Boden. Die Höhle über mir war dabei einzustürzen. Ich musste hier weg.

Das Getöse schien meinen unbekannten Begleiter aufzuwecken. Wenn ich sage, dass er auf einmal die Augen öffnete, meine ich damit, dass seine Augen von einem weißen Nebel gefüllt wurden, bis sie vollkommen weiß waren. Dieses Wesen hatte keine Augenlider. Seine Augen funktionierten anders. Aber das war gerade mein kleinstes Problem. Es sah mich und wollte mich angreifen. Jedoch hatte ich Glück: Es war zu schwach. Der Sturz schien es geschwächt zu haben, was mich tatsächlich sehr freute, als ich im Licht meiner Kopflampe erkannte, wie muskulös der Körper des Wesens war.

Ein weiterer Stein landete neben mir. Auch dem Wesen fiel auf, was hier geschah. Erschrocken sah es zu mir und ich hob meine Hände in der Hoffnung, ihm damit friedliche Absichten zu demonstrieren. Ich hoffte einfach, dass es funktionierte, als ich ihm meine beiden Hände hinhielt, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Das Wesen griff tatsächlich zu und ließ sich von mir auf die Beine helfen. Jedoch drohte es sofort wieder umzufallen, offensichtlich hatte die Landung meines Freundes ihm übel mitgespielt.

Ich handelte sofort. Wir mussten weg. Kurz dachte ich darüber nach, die Frau zu suchen, die den Stein das Loch hinuntergeschmissen hatte, jedoch konnte ich wegen des Staubs noch immer nicht viel erkennen. Außerdem war ich mir sicher, dass sie mittlerweile tot war, schließlich war sie nicht nur das Loch hinuntergefallen, sondern hatte währenddessen auch noch einen Pfeil im Hals stecken. Ich legte mir also einen der Arme des fremden Wesens über die Schulter, umklammerte seine Hüfte und lief los. Der Tunnel ging ausschließlich in eine Richtung weiter, sah hier unten genauso aus wie oben und so blieb mir keine andere Wahl. Das Wesen ließ sich von mir tragen, kam mit der Zeit aber immer mehr zu Kräften. Zwar ließ es mich nie los, jedoch spürte ich, dass es nach und nach besser laufen konnte.

Auf einmal stand ich vor einer Abzweigung. Links oder rechts? Ich wusste es nicht. Aber mein Begleiter wusste es. Er zeigte nach rechts. Wir waren mittlerweile etwa dreißig Sekunden unterwegs und das Poltern hinter uns war immer lauter geworden. Es war nicht nur der Bereich mit dem Loch, der einstürzte, nein, die ganze Höhle schien nachzugeben. Ich tat, was das Wesen von mir verlangte. Ich bog rechts ab. Zwei weitere Abzweigungen, zwei weitere Anweisungen und dann geschah genau das, was nicht passieren sollte.

Meine Lampe ging aus.

Dunkelheit.

Ich konnte nichts mehr sehen und verlor sofort die Orientierung. Reflexartig schlug ich gegen die Lampe und hoffte, dass sie wieder angehen würde. Vielleicht hatte die Erschütterung der Explosion ja lediglich für einen Wackelkontakt gesorgt, aber leider blieb der Schlag wirkungslos. Es blieb dunkel. Und ich blieb stehen. Ich konnte nicht mehr weiterlaufen. Das Risiko war zu groß.

Meinen Begleiter schien die Dunkelheit nicht zu stören. Er lief weiter, zog auf einmal mich hinter sich her, jedoch leistete ich Widerstand, da ich nicht in dieser Höhle herumtorkeln wollte, ohne etwas sehen zu können.

Und dann wurde ich angegriffen.

Das Wesen ging einfach auf mich los. Und ich wusste, dass ich nichts mehr tun konnte. Kurz löste es den Griff um meine Schultern, dann packte es mich von hinten mit beiden Händen, trat mir in die Kniekehlen und zwang mich zu Boden. Bevor ich reagieren konnte, spürte ich seine Finger auf meinem Gesicht, wie es mir die Brille vom Kopf riss und meinen Kopf fixierte. Ich vermutete, dass es auf dem Boden hockte und meinen Kopf zwischen seine Knie geklemmt hatte. Ich fühlte mich, als hätte man mich in einen Schraubstock gesteckt. Ich versuchte, mit meinen Händen nach dem Wesen zu schlagen, jedoch reagierte es nicht. Als würde es die Schläge gar nicht spüren.

Und auf einmal sah ich ein kleines Leuchten, einen kleinen Punkt. Als würde jemand neben mir ein sehr schwaches Streichholz entzünden. Sofort stellte ich meine Bewegungen ein. Ich konnte sowieso nichts mehr tun. Stattdessen beobachtete ich das Licht. Das Wesen hielt etwas in Händen und bewegte es langsam auf mein Gesicht zu. Dann spürte ich wieder die Finger auf meinem Gesicht. Ich kann nicht beschreiben, was ich dachte, als ich spürte, wie die Finger meines Gegenübers meine Augen umschlossen und die Augenlider so aufdrückten, dass ich nicht mehr zwinkern konnte. Ich hatte aufgegeben. Ich konnte nichts mehr tun. Ich konnte die Sache einfach nur noch geschehen lassen.

Das Licht kam nur wenige Zentimeter vor meinem rechten Auge zum Stillstand. Und dann tropfte mir etwas ins Auge. Es brannte kurz und ich gab einen Schrei von mir. Dann wiederholte sich das Schauspiel, diesmal mit meinem anderen Auge. Aufhalten, tropfen, brennen, schreien. Dann war auf einmal mein Kopf frei. Ich schloss die Augen, blinzelte, riss sie auf, rieb mit den Fingern an meinen Augen herum, richtete mich auf, kniete mich hin und schaute das Wesen an, das mich regungslos und ohne auch nur eine Emotion zu zeigen anstarrte, während es einen kleinen Beutel in eine Tasche steckte, die es sich um die Seite gebunden hatte.

Dann erkannte ich erst, dass ich es sehen konnte.

Ich konnte es sehen. Die Finsternis war auf einmal verschwunden. Es kam mir vor, als hätte jemand auf einmal eine nicht sehr starke Neonröhre in der Höhle eingeschaltet. Alles wirkte recht matt, trotzdem konnte ich alles erkennen. Das Wesen stand auf, ging auf mich zu und legte mir wieder den Arm um die Schulter. Es nahm erneut die Pose ein, die es zuvor eingenommen hatte. Ich weiß nicht, ob es das tat, weil es weiterhin meine Unterstützung benötigte oder einfach annahm, dass ich mich auf diese Art und Weise am sichersten fühlte. Es drehte mich in eine Richtung, zeigte den Gang entlang und lief los. Ich setzte mich ebenfalls wieder in Bewegung. Das Geräusch hinter uns wurde wieder lauter. Die Sache war noch immer nicht durchgestanden.

Wie lange wir liefen, weiß ich nicht mehr. Aber irgendwann sah ich in der Ferne Tageslicht. Es hatte einen merkwürdigen Farbton angenommen, wirkte greller als sonst, aber dennoch wollte ich nicht mehr stehen bleiben. Ich riss mich von dem Wesen los und lief und lief, das Licht kam näher, mein Begleiter blieb stehen. Ich tat es ihm gleich, drehte mich um und sah ihn an.

Ich hatte zum ersten Mal die Möglichkeit, das Wesen in Ruhe zu betrachten. Es war etwa zwei Meter groß, unglaublich muskulös, hatte die bereits beschriebenen, riesigen Augen, trug merkwürdige Kleidung am Körper und hatte eine fast vollkommen weiße Haut. Sein Mund war klein und schmal, eine Nase hatte es nicht, lediglich zwei kleine Löcher an der Stelle, an der man eigentlich eine Nase vermuten würde.

Das Wesen schaute mich an. Vermutlich tat es gerade das Gleiche wie ich. Ich wartete ab. Langsam griff es in seine Tasche. Es holte einen Gegenstand heraus, meine Brille. Und erst jetzt stellte ich fest, dass ich sie nicht mehr auf der Nase trug. Und aus irgendeinem Grund benötigte ich sie nicht mehr. Ich konnte alles erkennen, was sich um mich herum abspielte. Als mein Gegenüber mir die Brille entgegenhielt, wartete es darauf, dass ich sie an mich nahm. Jedoch schüttelte ich lediglich den Kopf. Eines der Gläser war kaputt und außerdem brauchte ich sie gerade nicht mehr. Ich versuchte, mit meinen Händen anzudeuten, dass es meine Brille behalten durfte.

Es zögerte kurz. Jedoch steckte es die Brille dann doch ein. Scheinbar war es ihm ein wenig unangenehm, einfach so ein Geschenk von mir anzunehmen. Es griff erneut in seine Tasche und holte einen kleinen Lederbeutel hervor, den gleichen Beutel, den es zuvor in die Tasche gesteckt hatte. Es kam auf mich zu und überreichte mir den Beutel. Scheinbar wollte es mit mir tauschen. Ich nahm ihn entgegen. Er hatte etwa die Größe meiner Hand und war oben mit einem ledrigen Band verschlossen. Vorsichtig öffnete ich den Beutel und sah hinein.

Das Innere war mit Wasser gefüllt. Und darin schwamm etwas. Ich erkannte sofort das Leuchten wieder, das ich zuvor bereits gesehen hatte, als mir das Wesen etwas in die Augen getropft hatte. Ich schaute zurück zum Wesen, fragend, was dieses sofort verstand. Es griff vorsichtig in den Beutel und holte einen Fisch heraus. Er zappelte nicht, als wäre es ihm egal, dass man ihn aus dem Wasser geholt hatte. Der Fisch war schwarz und besaß dunkelblaue Streifen, wie ein merkwürdig eingefärbtes Zebra. Aber seine Schwanzflosse war es, die meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie leuchtete.

Das Wesen hielt den Fisch mit der Schwanzflosse nach unten vor sich. Dann legte es seinen Kopf in den Nacken, hielt den Fisch über eines seiner Augen und drückte vorsichtig auf das Tier. Aus der Schwanzflosse trat eine gelbliche, ebenfalls matt leuchtende Flüssigkeit aus. Das Wesen wiederholte das Ganze an seinem anderen Auge. Dann legte es den Fisch zurück in den Beutel, den ich noch immer staunend in Händen hielt. Anschließend nickte mir das Wesen zu, drehte sich um und ging zurück in die Höhle hinein. Einige Sekunden später war es verschwunden. Ich war wieder allein.

Ich beschloss, mich erst einmal nicht weiter mit diesem merkwürdigen Geschenk zu beschäftigen, sondern mich erst einmal darum zu kümmern, wo ich war. Und ich hatte Glück. Ich befand mich an einer Stelle des Berges, die ich dank meines Kompasses, dem Stand der Sonne und dem Aufbau des Gebirges um mich herum gut zuordnen konnte. Ich befand mich etwa zwei Stunden Fußmarsch vom Lager entfernt. Ich war zwar lediglich ein paar Minuten lang durch die Höhle gelaufen, jedoch musste ich, um das Lager zu erreichen, erst einmal einige Meter kletternd hinter mich bringen. Ich hatte den mühsamen Weg zur Höhle ja bereits zu Beginn beschrieben.

Aber ich hatte Besseres zu tun, als rumzujammern. Im Gegensatz zu meinen menschlichen Begleitern war ich noch am Leben. Meine Augen hatten sich mittlerweile wieder an die Helligkeit meiner Umgebung gewöhnt. Die scharfe Sicht war jedoch geblieben.

Einige Zeit später hatte ich das Lager erreicht. Die Zurückgebliebenen gaben Freudenschreie von sich, als sie mich sahen, die jedoch schnell der Trauer wichen, als sie erkannten, dass ich der Einzige war, der zurückgekommen war. Sie hatten selbstverständlich von dem Einsturz mitbekommen. Das Loch, durch das wir die Höhle betreten hatten, war vollkommen in sich zusammengestürzt.

Ich schilderte der Truppe, was mir und meinen Begleiter*innen widerfahren war. Ich erzählte ihnen auch von dem Wesen. Nur von dem Fisch erzählte ich nichts. Ich hatte den Beutel in einer meiner Jackentaschen verstaut, achtete stets darauf, ihn nicht versehentlich zu belasten, und passte gleichzeitig auf, dass niemand einen Verdacht schöpfte. Natürlich wollte ich niemandem meinen Fund vorenthalten. Aber gleichzeitig hielt ich es für keine gute Idee, direkt davon zu berichten. Ich hatte bereits erlebt, wie sich ein Trupp voller Wahn in irgendwelche Höhlen stürzte, um einen Schatz zu heben. Wie der Ausblick auf Reichtum allen Anwesenden den gesunden Menschenverstand raubte. Das konnte ich nicht zulassen. Nicht nach dem heutigen Verlust. Und so bereiteten wir die Abreise vor und verließen den Kilimandscharo.

Das größte Problem war, den Fisch wieder mit nach Hause zu nehmen, ohne dass man ihn finden würde. Ich war mir sicher, dass man mich nicht ausreisen lassen würde, wenn ich jedem von meinem Fund erzählte. Und so behielt ich die Sache weiterhin für mich. Ich hatte zum Glück bereits ein paar Jahre zuvor während einer Reise zum Kilimandscharo Kontakte geknüpft, die gut darin waren, Dinge außer Landes zu bringen. Mehr möchte ich an dieser Stelle natürlich nicht verraten und stattdessen einfach nur darauf hinweisen, dass man mittlerweile wirklich viele Objekte im Gepäck verstauen kann, ohne dass auch nur irgendjemand Verdacht schöpft.

Nach meiner Ankunft in Deutschland vergewisserte ich mich natürlich sofort, ob der Fisch die Reise überlebt hatte, und ich kann an dieser Stelle meine Freude nur schwer in Worte fassen, als ich feststellte, dass dem so war. Zu Hause kaufte ich mir ein großes Aquarium, stattete es mit allem aus, was ein Fisch benötigt, und wandte mich endlich meinen Forschungen zu.

Meine Sicht hatte zu diesem Zeitpunkt wieder nachgelassen, war aber tatsächlich besser als noch vor meiner Abreise. Meine alten Brillen konnte ich beispielsweise nicht mehr benutzen, da sie mir die Sicht verzerrten, als hätte ich die Brillen einer anderen Person aufgesetzt.

Natürlich untersuchte ich den Fisch weiter. Zweimal pro Woche träufelte ich mir die leuchtende Flüssigkeit in die Augen, während ich diese und ihre Wirkung untersuchte. Ich analysierte ihren Aufbau, schaute mir alles unter dem Mikroskop an und wurde nicht schlau aus der Sache. Die FLüssigkeit, die man vorsichtig aus dem Fisch drücken konnte, war mir vollkommen unbekannt. Es war mir nicht einmal möglich, die genaue Zusammensetzung zu bestimmen.

Ich sah die ersten Wochen davon ab, mich an irgendein Institut zu wenden, da an dieser Stelle mittlerweile klar sein sollte, dass ich hier etwas gestohlen hatte, was ich nicht einfach so jedem zeigen durfte. So behielt ich meine Forschungen für mich. Nach fünf Wochen stellte ich erfreut fest, dass sich meine Sicht nicht wieder verschlechterte. Meine Augen funktionierten wieder wie zu meinen Jugendzeiten. Es war unglaublich. Und bis heute, viele Jahre nach der Geschichte, haben sie sich nie wieder verschlechtert.

Die Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen, hielt dagegen nach dem Benutzen der Tropfen nur etwa eine Stunde lang an. Manchmal ein wenig länger, manchmal kürzer. Das bedeutete also, dass diese merkwürdigen Wesen unter dem Kilimandscharo sich stündlich mit der Flüssigkeit aus dem Sichtfisch die Augen befeuchten mussten, um dort unten überhaupt etwas zu sehen. Ich durchstöberte allerlei Forschungsberichte aus der Region, fand aber nirgendwo auch nur eine einzige Aufzeichnung über die Sichtfische oder die Wesen, die sie besaßen und vermutlich züchteten. Ich hatte hier etwas vollkommen Neuartiges gefunden.

Leider blieb mir nicht viel Zeit, mich über meinen Fund zu freuen. Keine sechs Wochen nach dem Beginn meiner Forschungen starb der Sichtfisch. Ich hatte keine Vorzeichen feststellen können. Der Sichtfisch hatte sich stets normal verhalten, aber vielleicht war etwas mit dem Wasser nicht in Ordnung gewesen. Selbstverständlich hatte ich daran gedacht, ihn nicht viel Licht auszusetzen. Aber die genaue Konsistenz des Wassers aus dem Beutel hatte ich nicht rekonstruieren können, da ich für die Fahrt bereits anderes Wasser verwenden musste.

Die Reise zum Kilimandscharo liegt mittlerweile viele Jahrzehnte zurück. Meine Brille habe ich seitdem nicht mehr aufgesetzt. Zum Glück ist es kein Problem, die Augenärzt*innen zu wechseln, um unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen. Meine Freund*innen hatten natürlich Fragen gestellt, aber zunächst erzählte ich von Kontaktlinsen und nach ein paar Jahren ohne Brille hatten sie ehrlicherweise einfach vergessen, dass ich mal eine solche getragen hatte.

Letztendlich habe ich selten ein so faszinierendes Wesen wie den Sichtfisch gesehen. Er hat mich geheilt, er hat meine Augen repariert. Ich wage gar nicht daran zu denken, wie der Sichtfisch unser Leben verändern könnte. Aber leider gab es nur einen von ihnen in dieser uns bekannten Welt.

Wer weiß, wie viele von ihnen unter dem Kilimandscharo leben.

Aber nach langem Überlegen beschloss ich, nicht wieder dorthin zu reisen. Ich wollte die Wesen nicht stören. Und ich wusste, dass wir Menschen genau das tun würden, um unsere Augen wieder reparieren zu können.

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