Vor vielen Jahren hatte ich die Idee, einmal nachzuforschen, woher Kaffee wirklich kommt. Viele Menschen trinken ihn und können sich ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen. Aber wenn man diese Menschen fragt, ob sie überhaupt wissen, was sie da trinken, können sie es einem nicht genau beantworten. So wollte ich nicht weiterleben. Die Frage nach dem Warum ist mir schon in jungen Jahren anerzogen worden, als meine Eltern mich grundlos verprügelten, und ist seitdem immer lauter geworden.
So betrat ich eines Tages den heimischen Supermarkt und fragte einfach mal an der Kasse nach, woraufhin man mir mitteilte, ich solle doch bitte den Text auf der Verpackung lesen und die Leute an der Kasse ihre Arbeit machen lassen. Anschließend fragte man mich, ob ich eine Payback-Karte besäße. Selbstverständlich kam das Lesen der Packungsaufschrift für mich nicht in Frage. Ich lasse mir noch nicht vom Kapitalismus mein Wissen indoktrinieren und außerdem sitzen hinter Verpackungstexten doch sowieso keine ausgebildeten Literaturfachkräfte mehr, sondern nur noch Werbetexter*innen, denen vollkommen egal ist, was sie schreiben, solange sie dafür unterbezahlt werden.
Es gab für mich also nur noch eine Option: Ich heuerte auf einem Forschungsschiff an, dessen Besatzung sich vorgenommen hatte, die letzten Fragen der Menschheit zu lösen. Als ich ihnen von meiner Kaffeefrage erzählte, teilten sie mir mit, dass Kaffee ursprünglich aus Afrika stammt, was ich ihnen selbstverständlich sofort glaubte, schließlich handelte es sich hier um eine Besatzung bestehend aus Forschenden. Und die müssen es ja wissen.
Man versprach mir, mich in Afrika rauszulassen (Die Frage erschien ihnen offensichtlich nicht als wichtig genug.), ich willigte ein, man fuhr los und als die Kapitänin mir erzählte, dass man mit dem Boot eine Abkürzung über die Alpen nehmen wollte, hätte ich natürlich skeptisch werden sollen, jedoch wollte ich mir nichts anmerken lassen, da mein Respekt vor Forschenden auch den gesunden Menschenverstand überschreibt. Außerdem war die Menschheit schon mit absurderen Dingen als einem Segelboot über die Alpen marschiert.
Als wir dann eines Tages in den Alpen in eine Gletscherspalte fielen und unser Boot dabei seinen Mast verlor, staunten wir nicht schlecht, als wir uns auf einmal in einer Höhle wiederfanden, die auf den ersten Blick einfach nur ein Loch in einem Berg darstellte, das voller Wasser gelaufen war. Da wir keinen Mast mehr besaßen und zu faul zum Paddeln waren, ließen wir uns einfach treiben und zündeten hin und wieder Fackeln an, um zu sehen, wo wir uns befanden. Die Höhle wurde nur vom spärlichen Licht beleuchtet, das durch die über uns liegende Schlucht zu uns hinunter schien. Leider spendeten unsere Fackeln nicht genug Licht, um irgendetwas sehen zu können, also ließen wir uns weiter treiben.
Nach mehreren Wochen auf tiefer See wurden wir plötzlich von lautem Poltern aus dem Winterschlaf geweckt. Wir waren auf Grund gelaufen und steckten fest. Schnell wurden weitere Fackeln entzündet und in diesem Moment staunten wir nicht schlecht. Auf einmal war der gesamte Bereich um uns herum hell erleuchtet. Die Decke der Höhle lag nur wenige Meter über uns und bestand aus unzähligen Diamanten, die das Licht unserer Fackeln reflektierten. Zum Glück wurde das Licht von den Diamanten so oft gebrochen und zurückgeworfen und reflektiert und gespiegelt, dass wir unsere Fackeln einfach löschen konnten, ohne an Helligkeit zu verlieren. Das Licht wurde von Diamant zu Diamant geworfen und unsere sich ebenfalls an Bord befindende Optikerin sagte voraus, dass das Licht auf diese Weise noch etwa eine halbe Stunde lang erhalten bleiben würde.
Gerade, als wir unser Schiff verließen, standen wir auf einmal zwei unglaublich gut frisierten Menschen gegenüber. Bei ihnen handelte es sich, wenn ich das jetzt einmal ganz vorurteilsbelastet aufgrund ihrer Nacktheit und dadurch entblößten Geschlechtsteile behaupten darf, um zwei Männer. Zwei unglaublich gut frisierte Männer. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich noch nie Zeuge einer so immensen Haarpracht geworden. Die langen Haare auf dem Kopf, im Gesicht, an der Brust, im Intimbereich und sogar an den Beinen war so glatt, sauber, rein und glänzend, dass sie beinahe den Diamanten Konkurrenz machten.
Mir und der ganzen Besatzung war es beinahe unangenehm, diesen prachtvollen Wesen gegenüberzustehen. Wir selbst wirkten im Vergleich immens ungepflegt. Zwar hatten wir natürlich dank des Friseurs an Bord unser Äußeres nicht vernachlässigt, dennoch konnten wir mit diesen zwei Wesen der heiligen Behaarung einfach nicht mithalten. Jedes Haar stellte ein eigenes Universum der Pracht dar. Jedes Haar war vollkommen. Jedes Haar war wunderbar. Es war, als wäre jedes einzelne Exemplar der Bibel einem der Haare dieser Wesen gewidmet worden.
Langsam näherten wir uns den behaarten Fremden und überlegten, wie wir sie begrüßen konnten. Würden sie einen Handschlag als freundliche Geste deuten? Unser Sushi-Koch erklärte sofort, dass er aufgrund seiner stark behaarten Hände von einer Kontaktaufnahme dieser Art absehen wollte, da er es auf keinen Fall verantworten konnte, dass ihr Wunderwerk der Haarpracht auch nur minimal mit seiner im Vergleich widerwärtigen Handbehaarung in Kontakt kam.
So war am Ende ich es, der den zwei Fremden gegenübertrat. Ich selbst habe den Bartwuchs eines Babyhinterns und dachte mir, dass es vielleicht am besten wäre, das haartechnisch minderwertigste Lebewesen unserer Gruppe die Begrüßung übernehmen zu lassen, um ihnen zu zeigen, dass wir uns ihnen gegenüber für unwürdig hielten.
In dem Moment, wo ich ihnen zur Begrüßung die Hand hinhielt, tat einer von ihnen etwas Merkwürdiges. Er überreichte mir etwas. Ein kleines Lebewesen. Vom Kopf bis zur Schwanzspitze war es etwa sieben Zentimeter lang. Es lief auf vier Beinen, hatte dunkelbraune Haut, einen kleinen Kopf, einen großen, leicht buckligen Rücken und einen relativ kurzen Schwanz. Auf seinem Rücken trug es vier große Dornen, die an ihrer dicksten Stelle am Rücken des Wesens etwa einen halben Zentimeter dick waren. Das Wesen bewegte sich sehr langsam, sah mich an, lief ein paar Schritte auf meiner Hand herum, als würde es in Zeitlupe laufen, und wirkte an der ganzen Sache nur milde interessiert.
Fragend sah ich die zwei Fremden an. Diese schienen zu wissen, worin meine Verwirrung begründet lag. Der zweite Fremde hielt mir seine Hand hin und ich erkannte, dass er ebenfalls eines dieser Tiere in Händen hielt. Er packte es mit Daumen und Zeigefinger an den Seiten seines Körpers und glitt sich mit den vier Zacken auf dem Rücken des Tieres durchs Barthaar. Er benutzte das Tier als Bürste. Nachdem er sich einige Male den Bart gekämmt hatte, nickte er mir ausdruckslos zu. Keiner der beiden hatte auch nur einmal gegrinst. Sie wirkten hinter ihren Haaren vollkommen emotionslos. Dennoch verstand ich das Zunicken.
Vorsichtig packte ich das Tier mit Daumen und Zeigefinger und strich mir damit durch die Haare, die ich am Kopf trug. Zu dieser Zeit verfügte ich noch über schulterlanges Haar und es fällt mir an dieser Stelle schwer, das Gefühl zu beschreiben, das ich in diesem Moment empfand. Es war, als würden meine Haare kichern. Immer, wenn die Zacken des Tieres meine Haare berührten, hörte ich sie in meinem Innern jauchzen und ich spürte nach jeder Bewegung, wie mein Haar leichter, lockerer und freier wurde. Es fühlte sich an, als würde auf meiner Kopfhaut gerade die Revolution der Glückseligkeit stattfinden. Kleine Knoten, die sich nach der langen Reise gebildet hatten, lösten sich von alleine. Verfilzte Stellen verschwanden. Ein paar Läuse erhängten sich in meinen Haaren, weil sie mit dieser grenzenlosen Pracht einfach nicht mehr umgehen konnten. Es war unbeschreiblich.
In diesem Moment erlosch auf einmal das Licht der Fackeln, das zuvor noch zwischen den Edelsteinen hin und her gesprungen war. Sofort ließ ich neue Fackeln entzünden, doch nachdem dies geschehen war, blieben die zuvor geschilderten Reflexionen aus. Die Diamanten waren verschwunden. Als hätte es sie niemals gegeben.
Und auch die zwei Fremden standen nicht mehr vor uns. Wir hatten keine Schritte vernommen, im sandigen Boden waren keine Spuren mehr von ihnen auszumachen und niemand wusste, was geschehen war.
Aber das Schlimmste war, dass sich das Borst, so nannte ich das Tier von diesem Moment an, ebenfalls in Luft aufgelöst hatte. Ich hielt nur noch einen kleinen Stein in Händen. Leblos. Ohne Stacheln. Ein einfacher Stein. Ich ließ ihn fallen, lief ein paar Schritte ins sogenannte Landesinnere hinein, blieb jedoch stehen, als man meinen Namen rief. Es war zu riskant, sich weiter in die Dunkelheit zu begeben. Wir wussten nicht, wo wir waren, unser Schiff steckte fest und wir mussten uns erst einmal neu orientieren.
In dem Moment spürte ich einen Luftzug. Sofort teilte ich dies der Besatzung mit. Wir schnappten uns Rationen, Fackeln und alles, was uns irgendwie nützlich erschien und von uns getragen werden konnte, und liefen in die Richtung, aus der wir den leichten Wind spürten. Die Fackeln flackerten ein wenig, was uns dabei half, die richtige Richtung zu bestimmen. Etwa zehn oder fünfzehn Minuten später standen wir an einem kleinen Ausgang, etwas über einen Meter hoch, einen halben Meter breit. Hinter diesem Loch im Gestein sahen wir den Sternenhimmel. Wir verließen die Höhle und fanden uns in den Alpen wieder.
Bevor wir uns zurück in die Zivilisation begaben, schlugen wir noch ein Lager auf und erforschten die Höhle weiter. Wir hatten jetzt einen Ausgang. Wir konnten uns orientieren. Und vor allem wollten wir die Fremden wiedersehen. Und auch das Borst. Der Friseur wich mir in der ganzen Zeit nicht mehr von der Seite, da er immer wieder meine Haare berühren musste. Schon die wenigen Sekunden, die ich es mit dem Borst gekämmt hatte, hatten ausgereicht, um ihm einen strahlenden Glanz zu verleihen, den mein Kollege noch nie gesehen hatte. Wir alle hatten das Tier und die Fremden gesehen. Wir alle wussten also, dass wir sie uns nicht eingebildet hatten.
Dennoch blieben sie verschwunden.
Nach zwei Tagen brachen wir unser Lager ab und reisten zurück nach Hause. Wir schworen uns, niemandem von unserer Begegnung zu erzählen. Wir schworen uns, die Lage des Eingangs zur Höhle niemandem zu verraten oder sie am besten zu vergessen. Niemand sollte davon erfahren. Wir wussten, was passieren würde, wenn die sogenannte zivilisierte Welt von den Fremden und dem Borst erfahren würde. Das konnten wir nicht verantworten.
Bis heute denke ich immer wieder an die kurzen Minuten zurück, die ich mit dem Borst hatte verbringen dürfen. Hin und wieder spüre ich ein merkwürdiges Kribbeln auf der Kopfhaut, das mich an diese Zeit erinnert. Als würden meine Haar seufzen. Als würden sie das Borst vermissen. Ich habe nie wieder etwas Vergleichbares in meinen Haaren gespürt wie damals.
Ich habe eine kleine Figur des Borst aus ein paar Kinderknochen geschnitzt, die ich eines Tages im Sandkasten auf einem Spielplatz in der Nähe meines Hauses ausgegraben hatte, als ich mich dort eigentlich auf Schatzsuche befand.
Diese Figur soll dafür sorgen, dass ich das Borst und die Fremden nie wieder vergesse.