Mein Name ist Sven Himmen. Ich bin mittlerweile fast vierzig Jahre alt und habe somit den Zenit meines Lebens schon seit vielen Jahren überschritten. Dieser Umstand erfüllt mich aber nicht mit Trauer, sondern mit Freude. Schließlich habe ich in meinem bisherigen Leben viel erlebt.
Man würde mich vermutlich als weitgereiste Persönlichkeit bezeichnen, wenn man zu den Personen zählt, die andere Menschen gerne als Persönlichkeiten bezeichnen und gleichzeitig nicht davor zurückschrecken, währenddessen Adjektive wie »weitgereist« zu verwenden. Zwar habe ich mich selbst noch nie zu diesen Menschen gezählt, aber letztendlich ist es egal, was ich denke, wenn andere mich betiteln möchten.
Ich habe nur über eine Sache die Kontrolle, und zwar darüber, was ich erzählen möchte und was nicht. Nicht erst seit der neuen Datenschutzgrundverordnung bin ich derjenige, der bestimmen kann, was er über sich preisgeben möchte. Das war früher schon so und hat sich zum Glück bis heute nicht geändert.
Dennoch möchte ich heute mein Schweigen brechen. Viele kennen mich als zurückgezogenen Menschen, der immer dann zufrieden ist, wenn er zu Hause in seiner Leseecke hocken und lesen kann. Der am liebsten mit niemandem etwas zu tun haben möchte, denn nur niemand ist dazu in der Lage, mir nicht auf die Nerven zu gehen.
Jedoch handelt es sich hier nicht um die ganze Wahrheit. Wie in der Einleitung erwähnt, würde eine ganz bestimmte Sorte Mensch mich tatsächlich als »weitgereist« bezeichnen. »Wie kann das sein?« Ich höre Ihre Fragen bereits auf mich niederregnen wie den Froschregen, der mich vor einigen Jahren dazu zwang, mit meinem Hubschrauber mitten im Pazifischen Ozean notzuwassern und mich anschließend drei Wochen lang von Salzgebäck zu ernähren, da man in den Bäckereien an einem so salzigen Ort wie dem Pazifischen Ozean einfach nicht viel anderes bekommt. Selten war ich von dem Konsum von Laugenstangen so ausgelaugt.
Ich bitte Sie an dieser Stelle darum, mir einfach in Ruhe zuzuhören. Lehnen Sie sich zurück und lauschen Sie meinen Erzählungen. Es ist endlich an der Zeit, dass ich mein Schweigen breche und Ihnen von meinen Reisen erzählen. Meine Bekannten werden vermutlich schockiert sein, wenn sie die folgenden Zeilen zu Gesicht bekommen, jedoch kann ich das leider auch nicht ändern. Seien wir ehrlich: Wir alle bilden uns lediglich ein, etwas über unsere Mitmenschen zu wissen. Über die Dinge, die ich erlebe, wenn ich angeblich nur zu Hause sitze, in Wirklichkeit jedoch lediglich mit einem Schlauchboot und zwei Tuben Augensalbe ausgestattet die geheimen Gletscherspalten der Wüste Gobi erkunde, weiß niemand etwas.
Bis heute. Ab heute wird alles anders. Ich besitze auf dem Dachboden viele Kisten, in denen ich meine Erinnerungen ablege, um sie niemals zu vergessen. Gefüllt mit Artefakten kann ich jederzeit in sie hineingreifen und mich an den darin eingelagerten Gegenständen ergötzen. Die Kisten sind nicht sortiert, die einzelnen Fächer in den Kisten ebenfalls nicht. Es herrscht keine Chronologie. Ich weiß nicht mehr, was sich in welchem Fach befindet.
Aber das macht nichts. Sobald ich den Gegenstand hinter dem Törchen in Händen halte, fällt mir alles wieder ein. Dann kommen die Erinnerungen zurück. Erinnerungen an meine Reisen. Erinnerungen an meine Abenteuer. Erinnerungen an alles.
Hier und da sehe ich Markierungen an den Kisten, die mir nichts mehr sagen. Merkwürdige Schriftzeichen, die mich vielleicht an etwas erinnern sollen, was dann aber doch tief in meinem Innern verschollen ist, wie es mir selbst vor einigen Jahren ergangen ist, als ich auf dem Roten Meer aufgrund einer unangenehmen Verwechslung der Komplementärkontraste falsch abbog und erst viele Wochen später von der Besatzung eines Segelboots gerettet wurde, die eigentlich die Welt umsegeln wollte, sich mit dem Roten Meer jedoch einen denkbar ungünstigen Startpunkt dafür ausgesucht hatte.
Damit mich meine Markierungen und Notizen nicht zu sehr verwirren, habe ich Teile der Kiste, die für mein Projekt ausgesucht wurde, mit Zeitung abgeklebt. Somit weiß ich definitiv nicht, was auf mich zukommt, und bin einfach gespannt, was mich erwartet.
Ich könnte noch viel mehr über meine Kisten erzählen. Jedoch möchte ich Ihnen nicht weiter damit auf die Nerven gehen. Außerdem werde ich an dieser Stelle noch genug Worte über ihren Inhalt verlieren.
Mein Plan ist ganz einfach: Jeden Tag öffne ich eines der Fächer, sehe nach, was sich in diesem befindet, werde das Artefakt für Sie fotografieren und anschließend die Geschichte enthüllen, die mit diesem wertvollen Objekt in Verbindung steht.
Ich habe mir keine spezielle Kiste ausgesucht. Stattdessen entsandte ich meine Frau auf den Dachboden und teilte ihr mit, sie solle die erstbeste mitbringen, die ihr für dieses Projekt am geeignetsten erschien. Diese Kiste steht nun vor mir und wartet auf ihre Öffnung.
Noch ein letzter Hinweis: Es kann sein, dass ich es hin und wieder nicht schaffe, meinen Text direkt am gleichen Tag hier zu veröffentlichen, an dem ich ein Fach geöffnet habe, da ich wirklich nur eines am Tag öffne und erst anschließend zum Schreiben komme. Ich werde keine Erzählung im Voraus schreiben, kein Törchen im Voraus öffnen. Aber ich hoffe, dass ich das Ganze möglichst zeitnah zu einem Ende bringen kann.
Mehr bleibt mir nicht zu sagen. Ich hoffe, Sie sind gespannt darauf, den Worten eines alten Mannes zu lauschen, der in seinem Leben bereits viel erlebt hat, davon bisher aber noch nie jemandem erzählt hat.
Lehnen Sie sich zurück.
Machen Sie es sich gemütlich.
Bald geht es los.