Genürsel 2014 – 28/52 – Helden

Genürsel 2014 - 28/52 - Helden

Superhelden sind heutzutage unglaublich angesagt. Stößt man im Kino gefühlt jeden Monat auf einen neuen Heldenstreifen, kommt man auch im popkulturellen Bereich nicht mehr an ihnen vorbei. Batman-Beutel, Hulk-Hosen und Bathulk-Crossover-Shirts sind nur ein paar Beispiele für die Liebe, die all den unzähligen Helden zuteilwird. Doch gibt es da noch eine andere Art von Helden, die zwar nicht zur Produktion lustiger T-Shirts motiviert, dafür aber die sozialen Netzwerke immer wieder mit neuem Material beliefert: Die Helden des Alltags.

Immer wieder stößt man auf Videos über besagte Helden des Alltags, also Männer und Frauen, die ihr Leben riskieren, um kleine Kinder und jammernde Katzenbabys aus brennenden Kindertagesstätten zu retten, ohne über die dadurch entstehende Gefahr für das eigene Leben nachzudenken. Feuerwehrleute beleben einen Alligator mit Mund-zu-Mund-Beatmung wieder, um den Gaffern um sie herum und den Gaffern am Bildschirm zu zeigen, dass selbst aggressive Mördermaschinen am Ende des Tages nur Menschen sind. Die kartenlegende Frau mit Hellsicht und eingestaubtem Schrank komplett ohne Tassen springt über ihren eigenen Schatten und anschließend durch die Scheibe eines parkenden Autos, um einen darin schlafenden Hund zu retten, der ohne ihre Tat vermutlich in aller Ruhe weitergeschlafen hätte, ohne seine missliche Lage überhaupt zu erkennen.

Die Helden des Alltags stehen für die Macht, die von den kleinen Männern und Frauen in der Welt da draußen ausgeht, die jeden Morgen aufwachen und denken: Ja, in der Regel können wir nichts und beschäftigen uns den ganzen Tag lang mit Nebensächlichkeiten, doch sollte es jemals darauf ankommen? Aber hallo! Dann riskieren wir selbstverständlich unser Leben, um im Internet berühmt zu werden.

Die hier von mir beschriebenen Videos tragen Titel wie “Schaut dies, ohne zu weinen!” oder “Dieses Video gibt euch den Glauben an das Gute im Menschen zurück!”. Angesprochen werden Menschen, die sich im Internet aufhalten, weil sie die echte Welt als verloren abgeschrieben haben. Alle sind böse, jeder ist egoistisch und niemand interessiert sich noch für die Menschen im näheren Umfeld. Doch dann sieht man sie plötzlich. Die Helden des Alltags. “Wahnsinn. Ein Mensch aus der Oberschicht gibt einem Obdachlosen die Reste des belegten Brötchens ab, das er vor Beginn der Aufnahme auf dem Boden um die Ecke gefunden hat? Ich würde genauso handeln.” Menschen filmen sich bei der Ausübung guter Taten. Sie spielen die Selbstlosen. Die Zuvorkommenden. Hätte man all das auch getan, wenn keine Kamera eingeschaltet gewesen wäre? Selbstverständlich. Aber sie war eben gerade an. Noch während der Essensübergabe grinst der Gefilmte beim Gedanken an die steigenden Zuschauerzahlen seiner Videos. “Fandet ihr es gut, dass ich einem armen Menschen geholfen habe? Dann liked mein Video! Pro neuem Abonnenten stecke ich einem Obdachlosen einen Cent in den Hut. Tut Gutes, damit ich Gutes tue. In eurem Namen!”

Selbstverständlich denkt nicht jeder Held des Alltags so. Ein Teil der in den Videos gezeigten Menschen handelt tatsächlich selbstlos. Personen werden von Gleisen gezogen, aus Flammen gerettet, wiederbelebt oder aufgefangen, ohne dass Klickzahlen eine Rolle spielten. Man tut dies, weil man hilfsbereit ist, und das sollte eigentlich keine große Sache sein. Ist es aber. Weil heutzutage einfach alles groß aufgebauscht werden muss. Hilfsbereite Menschen werden zu Helden stilisiert, da die Menschheit das so möchte. Hilfsbereitschaft scheint etwas Besonderes zu sein, das mit epischer Musik unterlegt und reißerischen Überschriften versehen werden muss. Am Ende heißt es dann sogar, man wolle den Helden mit Hilfe der Videos Danke sagen und ihnen die Ehre zukommen lassen, die ihnen gebührt. Und die Zuschauer dazu bewegen, ebenfalls die eigene Hilfsbereitschaft unter ihren Sofas hervorzuholen. Damit die Welt ein besserer Ort wird. Mit mehr Hilfsbereitschaft, mehr Abonnenten und mehr Likes.

Ich bin der Meinung, dass Helden des Alltags nicht immer die Leben eines Menschen oder Tieres retten, geschweige denn besonders hilfsbereit sein müssen. Es gibt viele andere Qualitäten, die einen Helden des Alltags ausmachen. Leider sind diese nicht immer dazu geeignet, sie in einem Video zu verarbeiten. In Textform dagegen funktionieren sie tadellos. Aus diesem Grund gebe ich nun meine Begegnung mit einem Helden des Alltags wieder, die sich an einem Bahnhof abspielte. Ich werfe besser wieder einmal gleich den Hinweis ein, dass es sich hier ganz bestimmt nicht um eine Bahngeschichte handelt, da diese von Menschen mit weniger Talent als ich deutlich besser erzählt werden können. Ja, die Geschichte spielte an einem Bahnhof, doch ist dies nicht das Entscheidende. Sie hätte sich auch an einer Bushaltestelle ereignen können.

Eines unangenehm kalten Tages machte ich mich auf den Weg, eine Bahnreise anzutreten. Auf dem Weg zum Bahnhof hörte ich auf einmal das Keuchen, Schnaufen und Trampeln eines schnell rennenden Menschen hinter mir. Es wurde lauter, die Person kam offensichtlich näher, doch da ich nichts gestohlen hatte beziehungsweise keine stehlenswerten Sachen bei mir trug, ging ich nicht davon aus, dass ich das Ziel der Läuferin beziehungsweise des Läufers darstellte. Glücklicherweise stellte sich meine Vermutung als richtig heraus. Ein Jugendlicher rannte an mir vorbei und hatte dabei ein so unglaublich schnelles Tempo drauf, dass ich tatsächlich kurz stehen blieb und ihm erstaunt nachsah. Da er sich in die gleiche Richtung wie ich bewegte und nicht von Polizisten verfolgt wurde, vermutete ich, dass er einen Zug erwischen wollte. Ich wünschte ihm gedanklich viel Glück, war aber gleichzeitig davon überzeugt, dass er bei dem Tempo eigentlich gar keinen Zug benötigte.

Ich selbst erreichte den Bahnhof wenige Minuten später. Als ich am Gleis ankam, war der Ort menschenleer. Offenbar hatte gerade eine Bahn den Bahnhof verlassen, an dem lediglich eine einzige Bahnlinie in immer die gleiche Richtung verkehrt. Um hier nicht mit Fahrplandetails zu langweilen, komme ich lieber auf meine Überraschung zu sprechen, als wie aus dem Nichts ein Jugendlicher neben mir auftauchte. Er schnaubte, fluchte und trat kleine Steine auf die Gleise. Offensichtlich war er wütend. Vermutlich hat bereits jeder meiner Leser erraten, um welchen Jugendlichen es sich handelte: Genau! Es war der Jugendliche, der mich zuvor mit seiner rasanten Geschwindigkeit beeindruckt hatte. Er hatte wohl doch seinen Zug verpasst und musste warten.

Er wollte aber nicht warten. Er wollte ganz und gar nicht warten. Er war sauer. Tierisch sauer. Wie ein Tiger oder Löwe in einem viel zu kleinen Gehege in einem viel zu unnützen Zoo lief er am Gleis auf und ab, als würde sich dort eine Glasscheibe mit gaffenden Menschen befinden. Ich ging an ihm vorbei und setzte währenddessen alles daran, Blickkontakt mit ihm zu vermeiden. Ich wollte ihn nicht reizen. Er trat bereits gegen Steine. Ich wollte nicht, dass er in mir einen großen, gaffenden Stein sah. Als ich zwischen uns beide einige Schritte Abstand hergestellt hatte, blieb ich stehen und kümmerte mich um meinen eigenen Kram. Mein eigener Kram besteht hin und wieder daraus, das Verhalten anderer Menschen aus den Augenwinkeln heraus zu beobachten und mir währenddessen zu überlegen, ob ich daraus eine Geschichte spinnen könnte.

Ich war noch am überlegen, als der Jugendliche plötzlich innehielt. Er starrte von dem leicht erhöhten Bahnsteig runter auf die Gleise, drehte sich mit wütendem Blick um und lief schnurstracks in ein hinter ihm stehendes Gebüsch. Während mir Begriffe wie Frustpinkeln oder Frustkacken durch den Schädel sausten, kam der Herr jedoch bereits wieder aus dem Gebüsch gestiefelt. Zu schnell, als dass er sein Geschäft hätte erledigen können. Stattdessen hielt er einen Apfel in der Hand. Kurz sollte eingeschoben werden, dass am Bahnsteig ein Apfelbaum stand. Was ein Apfelbaum an einem Bahnhof zu suchen hat? Dies ist für diese ganz bestimmt nicht erfundene Geschichte irrelevant. Meine lieben Leser wären vermutlich erstaunt über all die Dinge, die an einem Bahnhof so herumstehen, würden sie endlich mal aufhören, die ganze Zeit auf elektronische Geräte, Bücher, Zeitungen oder Freunde zu starren und stattdessen einmal anfangen, sich in Ruhe umzusehen.

Der Jugendliche hielt den Apfel in der Hand, ging mit mittlerweile wirklich beängstigend wütendem Blick zurück zum Gleis, rieb den Apfel ein paarmal an der Jacke um ihn zu reinigen, holte aus und… hielt inne. Er war kurz davor, in seiner Wut einen hinter einem Gebüsch aufgehobenen Apfel auf den Gleisen zu zerschmettern, als ihn ein Gedanke überkam, der ihn seinen Plan überdenken ließ. Welcher Gedanke das war, weiß ich nicht. Ich kann es nicht einmal erahnen. Wie auch immer der Gedanke lauten mag, er ließ die Hand des Jugendlichen herabsinken. Der Junge sah auf den Apfel in seiner Hand hinunter und drehte ihn ein paarmal. Dann begann er zu grinsen. Mit einer sanften Handbewegung ließ er den Apfel vor sich auf den Boden plumpsen und ging ein paar Schritte weiter zu einer Bank. Auf ihr nahm er Platz und begann, mit seiner plötzlich entdeckten, neuen Portion Ruhe und Gelassenheit, auf den Zug warten.

Das Schauspiel beschäftigte mich mehrere Tage lang. Mittlerweile bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass dieser Jugendliche ein wahrer Held des Alltags ist. Warum? Weil er beinahe von einer unermesslichen Wut übermannt worden wäre und dabei einen harmlosen Obstball zerstört hätte. Doch kurz vor seiner Tat überdachte er sein Handeln und erkannte, dass dieser arme Apfel nichts dafür konnte, dass er die Bahn verpasst hatte. Und diese Erkenntnis zeichnet einen Helden aus. Ja, auch ein Held kann einmal wütend werden. Doch hat er diese Wut unter Kontrolle und verletzt nicht plötzlich Unschuldige.

Wird ein Held von einem Hund gebissen, weil dessen Herr- oder Frauchen nicht aufgepasst hat, geht er anschließend nicht durch Parks und lässt vergiftete Hundeköder fallen, um Hunde umzubringen, die niemandem etwas getan haben. Verliert ein Held seinen Arbeitsplatz, geht er nicht anschließend auf die Straße und wirft mit ausländerfeindlichen Hetzereien um sich, die sich gegen Menschen richten, die wegen eines Krieges dazu gezwungen wurden, ihr Land, ihre Familie und ihre Freunde zu verlassen. Verpasst ein Held die Bahn, wirft er kein unschuldiges Obst auf die Gleise. Er mag in Versuchung kommen, doch er erkennt, dass seine Tat das Problem nicht löst. Der Jugendliche am Bahnhof hat all das verstanden. Er hat seine Wut besiegt. Es lief keine Kamera, niemand schoss ein Foto dieses Augenblicks, vermutlich hat außer dem Jugendlichen und mir niemand sonst etwas von diesem Ereignis miterlebt. Doch ist all das nicht von Bedeutung. Ich habe es gesehen. Ich habe ihn getroffen. Einen wahren Helden des Alltags.

Genürsel 2014 - 28/52 - Helden

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