Schönheit und Heimlichkeit (1 Bild – 500 Worte)

Eine Wiese, auf der ein paar Krokusse zu sehen sind.

Ein Mädchen kommt auf mich zu. Es schenkt mir keine Beachtung. Es schaut gelangweilt zu Boden. Dann bleibt es abrupt stehen. Es hat etwas gesehen. Ich folge seinem Blick auf den neben dem Gehweg gelegenen Grünstreifen. Ein paar Krokusse recken ihre Köpfe gen Himmel und versuchen, ihre Umgebung mit Hilfe ihrer Schönheit aufzuwerten.

Und genau das wird ihnen bald zum Verhängnis werden. Mir ist sofort klar, was das Mädchen vorhat. Es wurde von den Farben der Blumen in den Bann gezogen. Die Schönheit der Natur hat in ihm das Verlangen hervorgerufen, diese aus- und an sich zu reißen. Es wendet sich den Krokussen zu, möchte in die Hocke gehen, hält jedoch inne und sieht sich um. Auf einmal beachtet es mich. Ein kurzer Blickkontakt.

Sofort korrigiert es die wenigen Millimeter, die es sich bereits nach unten bewegt hat, richtet sich auf und geht weiter. Als hätte es sich die Sache anders überlegt und dem Ruf der Farben widerstehen können. Als hätte meine bloße Anwesenheit es aus der Hypnose gerissen. Es wird langsamer. Es zieht sein Handy aus der Hosentasche. Es schaut auf das Display und bleibt stehen, als würde es etwas Interessantes lesen, was sein Voranschreiten verhindert. Nein, es hat die Farben und die Schönheit nicht vergessen. Das Gegenteil ist der Fall. Aber bevor es seinem Verlangen nachgehen kann, muss es mich loswerden.

Ich weiß, was das Mädchen plant und worauf es wartet. Genau das setze ich in die Tat um. Ich gehe an ihm vorbei. Würdige es keines Blickes, während ich es anstarre, ohne es anzusehen. Ich schaue geradeaus, es verlässt mein Sichtfeld, ich kann es nicht mehr sehen, ich gehe weiter. Dann ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche, blicke auf das Display und tue so, als würde ich etwas Interessantes lesen. Etwas, das mein Voranschreiten verhindert. Ich bleibe stehen und drehe mich wie zufällig um wenige Grad zur Seite. Da ist es. Im hintersten Winkel meines Sichtfelds taucht das Mädchen wieder auf.

Die Bewegung ist schnell. Es geht in die Hocke, greift zu einem Krokus, reißt ihn aus dem Boden, steht wieder auf und geht davon. Ich bleibe stehen und verhalte mich weiterhin so, als würde ich auf mein Handy starren. Ich warte. Zehn Sekunden. Zwanzig Sekunden. Mittlerweile sollte es weit genug weg sein. Ich drehe mich um.

Als ich an der Stelle ankomme, an der das Mädchen sich an den Krokussen bedient hat, sehe ich keinen Unterschied. Ich habe mir die Anzahl der Blumen vor dem Vorfall nicht eingeprägt. Ich weiß, dass eine fehlt, ohne es beweisen zu können. Ich will mich nicht runterbeugen und die Stiele kontrollieren. So wichtig ist die Sache gar nicht.

Ich hoffe, dass der Krokus dem Mädchen Freude bereiten konnte. Vielleicht hat es auch nur einmal an ihm gerochen und den Pflanzenkopf anschließend auf die Straße geworfen, wo er unter dem Reifen eines Autos zerquetscht wurde. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass hier auf einmal etwas fehlt.

Ich werfe den verbliebenen Krokussen einen letzten Blick zu und gehe davon.

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