Er stand am Fenster und rasierte sich die Beine. Gerade machte er sich am linken Bein zu schaffen, das er aus diesem Grund weit aus dem Fenster reckte, damit die Haare nicht in seine Wohnung, sondern auf die Straße fielen. Es war schon ein guter Gleichgewichtssinn vonnöten, um diese Position längere Zeit aufrechterhalten zu können, doch zum Glück verfügte er über einen durch tägliche Rasiertätigkeiten gestählten Körper. Seine Beinmuskulatur war so beeindruckend, dass ihm die Leute auf der Straße hinterherguckten, wenn er nackt an ihnen vorbeiging. Er war stolz auf seinen Körper. Er hatte schließlich lange genug an ihm gearbeitet.
Er schaute seinen auf die Straße fallenden Beinhaaren hinterher. Einige von ihnen blieben aufgrund des ausgiebigen Schaumgebrauchs feucht an der Hauswand kleben. Sie bildeten eine kaum auszumachende Leiter aus haarigen Sprossen und er kam sich vor wie Rapunzel, wie er hier sein Haar hinunterließ. Leider machte keine der Damen unter dem Fenster Anstalten, die Sprossen zu ergreifen, um an ihnen emporzuklettern und ihn aus seinem Turm zu befreien.
Er schüttelte den Kopf, um seine verträumten Gedanken loszuwerden. Warum nur verlor er sich immer wieder in solch einem Unfug? Eine Dame, die an seinen Beinhaaren eine Hauswand erklimmt? Das war undenkbar. Heutzutage hatte doch keiner mehr einen Sinn für Romantik. Damals, im Mittelalter, da hätten die edlen Frauen ihm die Beinhaare förmlich ausgerissen. Aber man lebte nicht mehr im Mittelalter. Das hier war die Gegenwart. Die langweilige Gegenwart.
Enttäuscht stellte er fest, dass er die Rasur seines linken Beines abgeschlossen hatte. Er strich sich langsam mit seinen empfindlichen Händen über Schenkel und Wade, um kratzende Rückstände zu erfühlen, doch er konnte keine ausmachen. Nach all den Jahren war er zu einem wahren Rasurexperten geworden und konnte mit wenigen Zügen für eine vollständige Enthaarung sorgen. Er hatte schon darüber nachgedacht, Beinrasurseminare zu geben, doch ein Finanzexperte hatte ihm versichert, dass er mit einer solchen Geschäftsidee niemals reich werden würde. Also hatte er sich damit abgefunden und war stattdessen Landarzt geworden.
Langsam zog er sein linkes Bein zurück. Wie ein Balletttänzer hob er dabei seine Hände über den Kopf und faltete sie. Es sah aus, als wolle er seine Gebete tanzend vortragen. Als er wieder mit beiden Beinen auf dem Boden seiner Wohnung stand, schaute er an sich hinunter. Beide Beine waren enthaart, er hatte sein Werk vollendet. Er war wieder zu einer perfekten Männerstatue geworden. Er hatte alles Störende entfernt. Seine noch ein wenig feuchten Schenkel reflektierten das auf sie scheinende Sonnenlicht. Er erfreute sich kurz an diesem Anblick, riss sich dann jedoch schweren Herzens von ihm los.
Er seufzte laut, während er den Einwegrasierer aus dem Fenster warf. Dieses Ritual gehörte für ihn mittlerweile zum Rasieren dazu. Im Rasierer hingen am Ende immer noch ein paar wenige Haare, deren Anblick er einfach nicht ertragen konnte. Er musste sich ihrer entledigen. Darum warf er sie mitsamt dem Enthaarer aus dem Fenster.
Da er dies täglich wiederholte, musste er für die Rasur große Geldsummen zurücklegen. Es kam ihm sehr gelegen, als Landarzt viel Geld zu verdienen. Die meisten seiner Patienten dachten, er würde so viel Elan in seinem Beruf zeigen, weil er diesen gerne ausübte. Dies war nicht so. Er nutze seinen Beruf lediglich, um sich ein angenehm rasiertes Leben finanzieren zu können. Seine gute Laune rührte aus dem Gedanken an Sonnenlicht reflektierende Oberschenkel.
Um die Sonne noch einen Moment zu genießen, lehnte er sich aus dem Fenster. Unter ihm spielten ein paar Kinder im haarigen Rasierschaumhaufen. Eines von ihnen hatte den Rasierer gefunden und schlitzte sich damit weinend die Arme auf. “Früh übt sich!”, rief er hinunter. Die Kinder hörten ihn nicht. Sie schrien und rannten davon. Das Blut glänzte in der Sonne. “Kundschaft.”, sagte er grinsend zu sich selbst. Er schloss das Fenster und machte sich auf den Weg zur Arbeit.