Genürsel 2014 – 38/52 – Geburt

Neulich lief ich durch die Innenstadt, um Geschäftsinhaber*innen zu interviewen. Ich wollte wissen, wie sie auf ihre Geschäftsideen gekommen sind. Dabei stieß ich auf zwei Dinge. Zunächst auf die Lüge, die ich hier gerade allen auftische, denn selbstverständlich habe ich niemanden interviewt und denke mir den ganzen Kram lediglich aus. Anschließend fiel mir ein Schild auf, das vor einem Geschäft thronte und »Passfotos To-Go« anpries.

Sofort betrat ich das Geschäft und stellte allerhand Fragen. Das folgende Interview ist eine genaue Abschrift des erfundenen Gesprächs.

Wie kamen Sie darauf, »Passfotos To-Go« zu verkaufen?

Wissen Sie, ich habe schon immer einmal Sätze mit »in unserer schnelllebigen Zeit« beginnen wollen. Da führte eins zum anderen. In unserer schnelllebigen Zeit bleibt keine Zeit für langes Nachdenken über Geschäftsideen. Die erfolgreichsten Unternehmen entstanden aus einer Bauchentscheidung heraus. Spontane Ideen, die man schnell umsetzen kann, entscheiden heutzutage darüber, ob man etwas wird oder nicht. Als ich vor ein paar Tagen über eine neue Geschäftsidee nachdachte, betrat ich eine kleine Bäckerei, bestellte einen Coffee To-Go, lief ziellos herum und bekam dann die Idee, über die wir gerade reden.

Haben Sie denn schon vor diesem denkwürdigen Kaffeegenuss Passfotos gemacht?

Ja. Ich besitze diesen kleinen Laden schon seit Jahren. Angefangen habe ich als Fachhandel für Aquariumsbedarf. Dann fiel mir irgendwann auf, wie lustig Menschen aussehen, die in Aquarien starren. Da kam mir die Idee, kleine Kameras als Fische zu tarnen und heimlich Fotos der starrenden Menschen zu schießen und anschließend an diese zu verkaufen. Leider waren die Fotos durch das Wasser in den Aquarien immer fürchterlich unscharf. Außerdem bezeichneten die Menschen meine Bilder als unvorteilhaft. Als dann auch noch ein Datenschutzbeauftragter meine Fische interviewen wollte, stieg ich um auf gewöhnliche Passfotos. Das war jedoch furchtbar langweilig.

Ich muss zugeben, dass ich den Namen »Passfotos To-Go« ebenfalls ein wenig unvorteilhaft finde. Es beinhaltet eine gewisse Zweideutigkeit. Passfotos sind doch eigentlich immer zum Mitnehmen. Warum diese unklare Bezeichnung?

Das ist so gewollt. Wer geht schon gerne in Geschäfte, bei denen man ganz genau weiß, was sie einem anbieten möchten? Das ist doch Schnee von gestern. Wenn ich neue Schnürsenkel benötige, bestelle ich diese im Internet. Dort gibt es Internetseiten, die nichts anderes verkaufen als Schnürsenkel. Schwarze, weiße, gelbe, grüne. Und manchmal sogar rote! Für so etwas gehe ich doch nicht in »Stefans Schnürsenkelladen«. Ich gehe in die Innenstadt, um überrascht zu werden. »Stefans Kramladen«? »Stefans unholdes Sammelloch«? Das sind die Geschäfte, für die ich in die Innenstadt gehe. Man muss die Leute dazu bringen, aus Neugier in den Laden zu kommen. Der Rest erledigt sich fast von selbst.

Ich würde für Schnürsenkel eher in die Innenstadt fahren als gehen, schließlich sind ja die Schnürsenkel kaputt.

Aber man besitzt doch mehr als nur ein Paar Schuhe.

Sie können hier weiter haltlose Behauptungen aufstellen oder endlich erklären, wie es zur Geburt Ihres Ladens kam.

Tut mir leid. Ich wollte Ihnen nicht auf die Füße treten, die in ihrem Leben bisher nur ein einziges Paar Schuhe von Innen gesehen haben. Letztendlich gestaltete sich die Geburt so: Ich hatte im Gehen Sex mit Kaffe und dabei entstand…

Moment. Bitte was?

Sie haben auf einmal von Geburt geredet. Und dazu gehört eben auch der Geschlechtsakt.

Eigentlich nicht. Dank der modernen Medizin…

Dann reden wir eben über die Definition des Wortes »Geschlechtsakt«. Kann eine künstliche Befruchtung nicht auch als Geschlechtsakt bezeichnet werden? Und aus wie vielen Geschlechtsakten besteht ein gutes, pornographisches Theaterstück?

Fertigen Sie die Passfotos unterwegs an oder bedeutet das »To-Go« lediglich, dass sie schnell fertig sind und in einem Trinkbecher ausgehändigt werden?

Sie möchten also doch wieder über Fotos reden?

Coffee To-Go bedeutet ja eigentlich, dass man den Kaffee unterwegs trinkt. Werden Ihre Fotos also draußen angefertigt?

Ja. Die Menschen betreten mein Geschäft, teilen mir mit, was für ein Foto sie benötigen, und können sich dann wieder auf den Weg zu anderen Geschäften machen. Oder dem Bahnhof. Oder wohin auch immer sie gerade möchten. Ich laufe ihnen währenddessen hinterher beziehungsweise voraus, mache Fotos und schicke ihnen am Ende die schönsten aufs Handy.

Können auf diese Art und Weise denn gute Passfotos entstehen?

An dieser Stelle muss mir die Gegenfrage erlaubt sein, ob bei Coffee To-Go guter Kaffee entsteht? Und schmeckt Kaffee nicht eigentlich viel besser, wenn man ihn in Ruhe in einem Café zu sich nimmt?

Der Kaffee für unterwegs erfüllt einen ganz bestimmten Zweck. Man benötigt das Koffein, um den weiteren Tag bewältigen zu können.

Und genau das ist mein Ziel. Niemand sitzt in der Bahn, nippt an seinem Kaffe und schüttet ihn weg, weil er nicht ganz so gut schmeckt, wie man es vom Stammcafé gewohnt ist. Man verzieht vielleicht ein wenig den Mundwinkel. Aber letztendlich trinkt man das Ding und erfreut sich an der Wirkung.

Und Ihre Passfotos To-Go sind genauso?

Ja. Wichtig ist, dass sie die behördlichen Vorgaben erfüllen. Ich mache in der Regel über einhundert Fotos. Da ist auf jeden Fall eins dabei, das verwendet werden kann. Dieses händige ich der Person dann aus und sie ist glücklich. Und seien wir ehrlich: Hat jemals jemand zu seinem Passfoto gesagt: »Das sieht aber schön aus?« Gerade bei diesen genormten Ausweisfotos müssen wir doch alle heftiger aufstoßen als eine Tür während eines Tornados. Alle halten Passfotos für hässlich. Ich als Fotograf kann da eigentlich gar nicht verlieren.

Kann ich auch gedruckte Exemplare erhalten?

Natürlich. Wenn sie einen geringen Aufpreis bezahlen, schnalle ich mir meinen tragbaren Drucker auf den Rücken und sie erhalten ihr Ebenbild auf Papier. Das erfreut vor allem die Menschen, die einen neuen Personalausweis beantragen müssen, aber gerade keine Passbilder griffbereit haben. Das fällt den meisten in der Regel immer erst dann auf, wenn sie in wenigen Minuten das Haus verlassen müssen, um den Termin einzuhalten. Und da komme ich ins Spiel. Ich begleite die Menschen bis zum Ort ihres Termins, mache Fotos, drucke sie aus und am Ende können sie den Ausweis beantragen, ohne Zeit verloren zu haben.

Und wie laufen die Geschäfte?

Sehr gut. Ich bin selbst überrascht, dass die Anfragen von Tag zu Tag mehr werden. Es kann tatsächlich sein, dass ich schon bald andere Leute einstellen muss, damit ich die ganzen Anfragen überhaupt bearbeiten kann.

Benötigt man bei Ihnen denn einen Termin? Eigentlich steht das »To-Go« ja immer für Flexibilität und Geschwindigkeit.

Natürlich benötigen Sie keinen Termin, um ein Passfoto zu bekommen. Sie haben das schon richtig erkannt. Aber ich kann eben immer nur eine Person gleichzeitig bedienen. Neulich kam es vor, dass zufällig zwei Personen auf einmal mein Geschäft betraten, die ihre Fotos auf dem gleichen Weg zum gleichen Bahnhof hatten schießen lassen wollen. Da habe ich den beiden einen kleinen Rabatt gewährt, da ich sie gleichzeitig bedienen konnte.

Im Grunde wie bei einer Taxifahrt?

Das ist tatsächlich eine Richtung, in die ich mich ebenfalls entwickeln möchte. Ich habe bereits mit Taxiunternehmen gesprochen, ob sie nicht Interesse daran hätten, während der Fahrten Passbilder zu schießen. Im Auto sitzen die meisten Menschen schließlich ruhig und ich glaube, dass man hier einen vollkommen neuen Markt erschließen könnte. Oh, warten Sie einen Moment.

In diesem Moment betritt ein Mann das Geschäft. Mein Interviewpartner lässt sich entschuldigen, um den Kunden zu bedienen. Ich ziehe mich zurück und bekomme mit, dass das Gespräch von Mal zu Mal lauter wird. Als der Kunde das Geschäft verlässt, setzte ich mein Interview fort.

Was war denn da gerade los? Der Herr klang alles andere als erfreut.

Ach, das ist jetzt etwas kompliziert und unangenehm. Der Herr hatte sich darüber beschwert, dass ich ihm die falschen Passfotos habe zukommen lassen. Nach gründlicher Überprüfung muss ich gestehen, tatsächlich einen Fehler gemacht zu haben.

Haben Sie seine Fotos mit denen einer anderen Person verwechselt?

Nein. Ich habe die falsche Person fotografiert.

Wie bitte?

Ich erinnere mich noch an den Kunden. Er war sehr in Eile, wodurch ich mich ebenfalls beeilen musste. Während des Auftrags schaute ich die ganze Zeit durch meinen Fotoapparat und habe ihn dabei versehentlich mit anderen Personen verwechselt, die neben ihm herliefen.

Gleich mit mehreren? Ist Ihnen das denn nicht aufgefallen?

Nein. Der Kerl hatte keine Besonderheiten an sich. Kurze, fast komplett verschwundene Haare, Brille und Vollbart. Davon rennen einem doch täglich hunderte über den Weg. Er hat mir die Fotos gezeigt und tatsächlich war er auf keinem der fünf von mir angefertigten Fotos zu sehen. Ich habe fünf verschiedene Personen fotografiert, ohne es zu merken. Männer auf dem Weg zur vierzig sehen doch alle gleich aus.

Da will ich Ihnen gar nicht widersprechen. Aber trotzdem handelt es sich hier um eine unangenehme Sache.

Um ehrlich zu sein, hat der Mann sich aber auch sehr angestellt. Ich musste schon ganz genau hinsehen, um einen Unterschied feststellen zu können. Der hätte auch einfach eines der von mir geschossenen Fotos verwenden können. Kein Mensch hätte etwas gemerkt. Ihm selbst ist es ja auch erst nach Tagen aufgefallen. Klar, dann reden die wieder davon, dass es hier ums Prinzip ginge, aber ich kann doch nichts dafür, dass die mit dem Älterwerden nicht klarkommen.

Aber was sollen die Männer denn machen? Männer auf dem Weg zur vierzig, die sich rasieren? Sollen denn alle aussehen wie diese ekelhaften nicht-mehr-jungen Kerle auf Wahlplakaten, die sich mit falscher Jugendhaftigkeit inszenieren möchten?

Da haben Sie natürlich Recht. Aber vielleicht ist es an der Zeit, da als Gesellschaft gemeinsam einen Schritt in Richtung Fortschritt zu gehen. Gut, der lustige Schnauzbart ist mittlerweile auch durchgezwirbelt. Aber ich bin kein Fashionexperte. Ich bin nur ein einfacher Fotograf.

Wie alt sind Sie?

Einundvierzig. Gestern hatte ich Geburtstag. Ich habe alles gesehen und hinter mir. Darum habe ich mir auch den Bart abrasiert. Um zu zeigen, dass ich zu meinem Alter stehe.

Machen Sie Passfotos für den Eigenbedarf selber?

Natürlich. Ich unterstütze doch nicht die Konkurrenz.

Dann hoffe ich, dass Sie beim nächsten Foto für Ihren Personalausweis nicht aus Versehen eine falsche Person fotografieren.

Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich bin ein Profi und habe außerdem ein äußerst individuelles Aussehen.

Natürlich. Einen schönen Tag.

Auf Wiedersehen.

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