Was ich mich bei »Und täglich grüßt das Murmeltier« frage: Wieso wird in Phil Connors Leben jeden Tag alles zurückgesetzt, nur seine Erinnerungen bleiben? Warum ist das so? Wo wird das erklärt? Heißt das, dass der Zustand seines Gehirns am Ende des Tages nicht wiederhergestellt wird? Und wenn ja: Wird er letztlich Demenz bekommen, weil sein Hirn immer weiter altert? Aber Kopfverletzungen heilen ja scheinbar beim Zurückspulen. Was ist da los?
Auf diese Art und Weise ist es möglich, »Und täglich grüßt das Murmeltier« schnell komplett zu zerreden. »Das ergibt doch alles keinen Sinn!«, kann man dann rufen. Und eigentlich kann einem niemand widersprechen. Nein. Das ergibt wirklich alles keinen Sinn. Es wurde aber auch nicht ausreichend erklärt. Vielleicht sollte man diesen Umstand einfach hinnehmen und akzeptieren, dass es eben so ist, wie es ist. »Und täglich grüßt das Murmeltier« ist ein toller Film. Er ist aber gleichzeitig unlogisch, wenn man zu viele Fragen stellt. Nein, nicht wenn man überhaupt Fragen stellt, sondern wenn man ZU VIELE Fragen stellt. Ich bezeichne dieses »zu viele Fragen stellen« immer als »Zerreden«. Man redet und redet und redet über die Logik eines Films und irgendwann muss hinterfragt werden, ob man dies lediglich macht, um den Zuhörer*innen zu zeigen, wie clever man ist. Dass man die wichtigen Fragen stellt. Dass der eigene Intellekt größer ist als der einer ganzen Gruppe Filmautor*innen.
Diese Aussage kann jetzt natürlich ebenfalls zerredet werden, denn wer nicht genau liest, kann schnell meinen, dass ich das Nachdenken über einen Film und das Hinterfragen der Logik dahinter grundsätzlich verteufle. Das ist definitiv nicht der Fall. Ich denke gerne über Filme nach. Ein Beispiel dafür ist »Interstellar«, bei dem sich alle andauernd über ein Bücherregal lustig machen, als würde das irgendetwas beweisen. Als würde der Film nicht funktionieren, nur weil man selbst am Ende nicht mehr mitkommt. Weil in den youtube-Videos von Leuten, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, sich auf Teufel komm raus über Filme lustig zu machen, dieses Regal nicht verstanden wird. Ich halte meine Aussagen über »Interstellar« übrigens ganz bewusst sehr vage, weil ich nicht zu viel über das Ende verraten möchte, detaillierter werde ich an dieser Stelle also nicht auf das ominöse Regal eingehen.
Stattdessen komme ich jetzt endlich mal zu »Tenet«. Ich sage es gleich: Wer nichts über »Tenet« wissen möchte, darf diesen Text nicht lesen. Ich werde nicht das Ende verraten, aber über den Film schreiben. Und dafür sind ein paar Details notwendig. Wer mich kennt, weiß aber, dass dieser Text am Ende sowieso in einem Chaos versinken wird, in dem sich nicht einmal mehr die Leute zurechtfinden werden, die hauptberuflich Bücherregale aufbauen.
Apropos. Nehmen wir mal an, ihr würdet ein Bücherregal errichten, nur eben rückwärts. Dann stünde das Regal bereits aufgebaut vor euch, nur um sich, nachdem ihr den Entschluss zum Aufbauen gefasst habt, von alleine wieder abzubauen. Weil ihr es ja rückwärts aufbaut. Wenn ihr das Ganze jetzt filmt, weil ihr youtube-Stars seid und diese die Fähigkeit haben, jeden noch so kleinen Kleinscheiß in ihren Videos einem Millionenpublikum zu verkaufen, und anschließend rückwärts ablaufen lasst, sieht es so aus, als würdet ihr das Regal gerade auf- statt abbauen. Und genau das ist »Tenet«. Also im Grunde »Interstellar« rückwärts und ohne Raumschiffe.
Mit diesem letzten Absatz habe ich damit die Fakten etabliert. »Tenet« ist ein Film, der sowohl vor- als auch rückwärts abgespielt Sinn ergibt. Das Prinzip des Zeitflusses, dessen Invertierung und was das alles überhaupt soll, wird vom Film ebenfalls verhältnismäßig früh erklärt. Da steht unser Protagonist dann vor einer Wissenschaftlerin, die einen Haufen Informationen von sich gibt und anschließend etwas sagt, was unglaublich wichtig ist, aber gleichzeitig auch so unglaublich falsch verstanden werden kann: »Denk nicht zu sehr darüber nach.« Diese Aussage ist sowohl an den Protagonisten als das Publikum gerichtet. Leider scheinen viele diese Aussage für grundsätzlichen Tipp für den ganzen Film zu halten: »Nicht darüber nachdenken. Es ergibt sowieso alles keinen Sinn.«
Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Aussage nicht so gemeint gewesen ist. Vielleicht hätte man besser Folgendes sagen sollen: »Denk jetzt gerade noch nicht so viel darüber nach. Das wird nach und nach alles viel klarer.« Wer nach dieser ersten Erklärung den Film pausiert und direkt über alles nachdenkt, was gesagt wurde, wird vermutlich daran scheitern, alles zu erfassen. Es ist wie bei einem komplexen Brettspiel. Erst gibt es einen groben Abriss der Regeln und dann wird gespielt, damit man all das Gesagte in der Praxis erleben kann. Manche Regeln, die zunächst keinen Sinn ergaben, wirken im eigentlichen Spielgeschehen total sinnvoll. Es ist eine Kunst, ein komplexes Brettspiel so zu erklären, dass man mit den neuen Spieler*innen starten kann, ohne sie durch zweitausend Regelanmerkungen zu überfordern. »Tenet« geht genauso vor. Hier ist das grobe Grundprinzip. Ihr habt noch nicht alles verstanden, aber das wird sich nach und nach ergeben. Zumindest war das bei mir der Fall.
Und nein, ich habe nicht alles verstanden. Ich habe nicht alles erkannt. Selbstverständlich nicht. Aber das ist das Tolle an »Tenet«. Das war auch das Tolle an »Memento«. Ich weiß gar nicht, wie oft ich »Memento« in meinem Leben schon gesehen habe, aber es hat einfach unglaublich viel Spaß gemacht, den Film einzulegen und immer wieder von neuem anzusehen. Ich fand bei jedem neuen Durchlauf neue Details, die das große Ganze der Handlung nach und nach preisgaben. Und genau an dem Punkt bin ich gerade bei »Tenet«. Ich habe mir noch kein Erklärvideo angesehen. Noch keine Interpretation. Noch keine »Siebzehn Dinge, die ihr bei »Tenet« im Hintergrund nicht gesehen habt«-Videos mit diesen ekelhaften roten Kreisen und Pfeilen, die auf die Kreise gerichtet sind, damit auch jeder weiß, dass da etwas im Hintergrund zu sehen ist. Ich habe »Tenet« grob verstanden und richtig Lust, ihn noch einmal zu sehen, um das Grobe ein wenig feiner zu feilen.
»Tenet«s Idee macht Spaß. Dass sie von einem Regisseur umgesetzt wurde, der über die finanziellen Mittel verfügt, das Ganze fantastisch aussehen zu lassen, ist doch eigentlich die Erfüllung eines Wunsches. Ich finde es gut, dass es Filme wie »Tenet« gibt. Die eine merkwürdige Idee haben, zu dieser stehen und alles daran setzen, sie so gut wie möglich auf die Augen ihrer Betrachter*innen zu schleudern.
Gleichzeitig wirft ein solcher Film natürlich Fragen auf. Sehr viele. Unglaublich viele. Und einige davon werden beantwortet. Mal recht detailliert, mal im Vorbeigehen. Es wird das erklärt, was für die Handlung relevant ist. Und diese schreitet unaufhaltsam voran, obwohl sie hin und wieder auch mal rückwärts abläuft.
»Tenet« ist kein One-Take, aber er wirkt wie eines. Wir folgen dem Protagonisten auf Schritt und Tritt, der durch diese geradlinige Geschichte rennt und dabei lernt, dass man niemals geradlinig über die Zeit denken sollte, wenn diese gleichzeitig vor- und rückwärts abläuft. Auch die Zuschauer*innen müssen sich daran gewöhnen, weshalb sie zu Beginn nicht mit einer Überdosis Chaos überfordert werden. »Tenet« baut sein Konzept langsam auf. Am Ende dreht er dafür dann voll am Rad und zeigt, dass alle, die die heutige, moderne Kriegsführung für komplex halten, keine Ahnung haben.
Gleichzeitig hat »Tenet« Mut zur Lücke. Auch das finde ich gut. Es wird uns nicht alles vorgekaut, als wären wir Kuhmagen Nummer vier. Wir folgen einem Mann, dem immer nur das erklärt wird, was er in diesem Moment wissen muss. Nicht weniger, vor allem aber auch nicht mehr. Genauso wie er verstehen wir nicht alles. Aber während unser Protagonist lernen muss, sich damit abzufinden und sich im Zeitfluss treiben zu lassen, können wir nichts anderes tun, als uns Fragen zu stellen. Warum ist das so? Was bedeutet das? Was passiert, wenn…? Angenommen wir würden… Stundenlang kann man sich diese Fragen stellen. Und man wird nicht alle beantworten können. Auch nicht nach dem zwanzigsten Durchlauf von »Tenet«. Weil uns die Informationen fehlen. Weil Christopher Nolan uns Informationen vorenthält. Oder selbst nicht alle Detailfragen erklären kann. Das ist vollkommen in Ordnung für einen Regisseur. Ich weiß bis heute nicht, wie genau das »Leben nach dem Tod« in »Ghostbusters« funktioniert. »Zurück in die Zukunft« ist absoluter Zeitreisequatsch, wird aber trotzdem von vielen Leuten gemocht, weil er irgendwie lustig ist.
Und damit will ich Logikfehler in »Tenet« nicht verteidigen. Wer wirklich welche gefunden hat und diese vernünftig begründen kann, hat seine Hausaufgaben gemacht. Wer den Film aber nach dem ersten Angucken noch nicht verstanden hat und dem Regisseur deswegen vorwirft, sein eigenes Konzept nicht durchdacht zu haben, sondern vermutlich einfach nur das Konzept verfilmen wollte, ohne auf die Logik zu achten, ist vielleicht etwas voreilig. Das Konzept ist etwas Neues. Es ist etwas Anderes. Es ist komplex. Es ist aufregend. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass einmaliges Sehen ausreicht, um alles in »Tenet« zu verstehen.
»Tenet« ist ein Film, der von seinem Konzept angetrieben wird. Ich muss sagen, dass ich den Protagonisten etwas schwach finde. Irgendwie wirkt es so, als würde ihn all das emotional nicht mitnehmen. Als würde alles an ihm abprallen. Es fehlen die Gefühle. Aber gleichzeitig denke ich auch die ganze Zeit darüber nach, ob ein solcher Mensch nicht der einzig richtige Mensch für einen Film wie »Tenet« ist. Weil er nicht ist wie wir, die Zuschauer*innen. Er nimmt das alles erst einmal hin. Er findet sich damit ab und versucht, das Ganze zu nutzen, um seine Mission abzuschließen. Ja, er stellt Fragen. Er zweifelt. Er kritisiert. Aber trotzdem bewegt er sich immer vorwärts, sogar wenn er sich rückwärts bewegt. Er brüllt nicht erst einmal durch die Gegend, dass das Konzept merkwürdig ist. Er gibt nicht den anderen die Schuld, weil er etwas nicht versteht. Er gibt sich der Sache hin, lernt, damit umzugehen, und meistert dieses ganze Zeitzeug innerhalb kurzer Zeit.
Und genau das mag ich an »Tenet«. Er traut sich nicht nur, uns alle mit einem spannenden und hoch komplexen Thema zu konfrontieren. Er steht auch dazu, dass er niemals alles wird erklären können, was wir gerne wüssten. Ich verstehe nicht einmal, wie ein Computer zu einhundert Prozent funktioniert. Zeitkonzepte? Klar, steht in meinem Lernplan gleich hinter der Quantentheorie. Ich weiß nicht alles. Und ich kann mich damit abfinden. Die Welt dreht sich trotzdem weiter und ich muss mich mitdrehen. Gleichzeitig verkauft uns »Tenet« nicht für dumm. Er nimmt uns ernst und will ernstgenommen werden. Und darum werde ich »Tenet« bestimmt noch ein- oder zweimal sehen, bevor ich in die Tiefen des Internets abtauche, um nachzusehen, welche siebzehn Dinge ich im Hintergrund verdammt nochmal übersehen habe.