Respektvoller Umgang beim Leben auf der Überholspur

Vor einiger Zeit habe ich joggend eine Fahrradfahrerin überholt. Gut, es war kein richtiges Joggen. Eher war es schnelles Laufen, weil ich mich beeilen musste, um nach Hause zu kommen. Als Sport geht das vermutlich noch nicht durch. Joggen ist aber sowieso nicht meine Sportart. Ich bewundere alle, die das regelmäßig ausüben, würde mir gleichzeitig jedoch wünschen, sie würden nicht immer so davon schwärmen, als wäre es die größte Erfüllung ihres Lebens. Joggen ist genauso lästig wie jede andere Sportart. Aber jeder hat eben diese eine, in der er gut ist, sie schön zu reden.

Jedenfalls lief ich an besagtem Tag nach Hause, weil ich den Besuch empfangen musste, der gerade vor unserer Haustür stand und von meiner Frau am Durchschreiten derselben gehindert wurde, da wir ihm zuvor unbedingt einen Feuerlöscher in die Hand drücken wollten. Was das jetzt wieder sollte, möchte ich an dieser Stelle nicht weiter erklären, da ich manchmal doch gerne ein paar Geheimnisse vor der Welt da draußen habe. Außerdem wäre die Antwort, dass wir gleichzeitig komische Freunde haben und sind, vermutlich recht enttäuschend, nachdem man sich mühselig durch die Einleitung dieses Textes gearbeitet hat.

Zurück zur Überholung. Ich bin kein schneller Läufer. Ich habe zwar eine verhältnismäßig gute Kondition und kann über eine gewisse Distanz ein gewisses Tempo halten, jedoch handelt es sich hierbei gewissermaßen um eine so ungenaue Beschreibung meines Tempos, dass mich die Gewissensbisse wegen meiner Ungenauigkeit schon bald innerlich zerbeißen werden. Bis dahin werde ich aber versuchen, diese Geschichte zu einem Ende zu bringen, das besser ist, als die inneren Bissereien des Gebisses meines Gewissens.

Ich war an besagtem Abend also nicht superschnell unterwegs, die Fahrradfahrerin dafür jedoch superlangsam. So langsam, dass ich sie schnell gehend ebenfalls überholt hätte. Ich erspare mir jetzt einen Satz mit einem clever eingeflochtenen »Hätte, hätte, Fahrradkette«, auch wenn das tatsächlich das erste Mal in der Existenz der allgemein anerkannten Existenz gewesen wäre, dass man diese ekelhaft unlustige Floskel als in irgendeiner Form angebracht hätte bezeichnen können.

Die Frau zu überholen stellte nur wenige Minuten vor dieser Situation übrigens mein geringstes Ziel des Tages dar. Ich hätte mich für sie nicht interessiert, hätte sie ihr langsames Vorankommen nicht auf dem Gehweg praktiziert. Einem Gehweg, der von Autos zugeparkt war, wodurch sie ihn komplett blockierte und sich überhaupt nicht darum kümmerte, dass es da hinter ihr jemand eilig hatte. Sie gurkte herum wie ein frisch in der Küche auf den Boden geschmissenes Glas Essiggurken, also äußerst lästig. So änderte sich mein Lebensziel. Aus einem »Ich muss die nicht überholen« wurde ein »Ich muss die überholen«. Mich überkam ein plötzlicher Heißhunger auf Essiggurken und da ich diese nur bei uns zu Hause finden konnte, musste ich die Fahrradfahrerin überwinden.

Aber es war nicht möglich. Sie blockierte wirklich alles. Wenige Zentimeter links von ihr standen Autos, rechts wiederum Häuser. Nichts davon machte Anstalten, sich in nächster Zeit von uns wegzubewegen. Im Grunde waren die Gegenstände dadurch wie die Frau, mir aber weitaus sympathischer, da es sich bei ihnen um Objekte handelte, die von irgendwem bewusst an ihre Stellen gestellt worden waren und nicht die Möglichkeit hatten, mir Platz zu machen. Bei der Frau war das anderes. Sie bewegte sich, zumindest auf eine theoretische Art und Weise, die so mancher Physiker sicherlich gerne analysiert hätte, ganz bewusst so langsam vorwärts, wie sie es eben verdammt nochmal tat.

Ich stoppte meinen Lauf. Stattdessen begann ich zu gehen. Sehr langsam. Nicht einmal einen Meter hinter ihrem Fahrrad her. Ich hoffte, sie würde mich bemerken, ihren Fehler einsehen und schneller fahren. Selbstverständlich passierte nichts davon. Sie war zu sehr damit beschäftigt, langsam zu fahren. Und ihr wisst alle, was passiert, wenn man langsam Fahrrad fährt: Man kommt ins Wackeln. Mal ein kleiner Schlenker nach links, mal ein kleiner Schlenker nach rechts. Auf diesem engen Gehweg bedeutete das, dass sich die Frau vollständig darauf konzentrieren musste, mit ihrem schlenkenden Lenker kein Auto oder Haus zu rammen. Wie hätte sie mich da bemerken können?

Es gab einfach keinen Ausweg. Ich ging und ging und ging. Kurz überlegte ich, ein Zelt aufzuschlagen und ein wenig zu rasten, jedoch befand sich mein Zelt im gleichen Haus, in dem ich meine Essiggurken aufbewahrte, und ich wagte zu bezweifeln, dass ich dieses heute noch erreichen würde. Ein Schlenker meinerseits auf die vielbefahrene Hauptstraße kam übrigens nicht in Frage, da ich zumindest noch so lange leben wollte, bis meine Gäste endlich ihren Feuerlöscher in Händen halten konnten.

Doch dann kam der Moment, auf den ich so lange gewartet hatte. Eine Kreuzung. Endlich Platz! Jetzt oder nie! Drei, zwei, eins, Los! Ich rannte an der Fahrradfahrerin vorbei, bis nach Hause, drückte den Gästen einen Feuerlöscher in die Hand und erzähle seitdem davon, dass ich joggend eine Fahrradfahrerin überholt habe. Im Grunde bin ich das tapfere Joggerlein. Ich lüge nicht.

Wer mir jetzt vorwirft, keinen Respekt vor der Menschheit zu haben, hat selbstverständlich recht. Dennoch möchte ich dagegen argumentieren und zwei Beispiele nennen, in denen ich es aus Respekt nicht übers Herz brachte, Menschen zu überholen.

Das erste Mal geschah dies auf dem Weg zum Supermarkt. Es handelt sich hier um einen Fußmarsch von etwa dreißig Minuten, den ich wegen meiner sehr schnellen Gangart in zwanzig schaffe. Wenn ich alleine bin, gehe ich wirklich äußerst schnell. Warum auch nicht? Ich möchte schließlich irgendwo hin und muss die Ankunft nicht zwangsweise nach hinten verschieben. Entschleunigung schön und gut, aber man muss es ja auch nicht übertreiben.

So ging ich also den Gehweg entlang, als plötzlich wenige Meter vor mir ein Mann aus einer Seitenstraße gejoggt kam, sich vor mich setzte und in die gleiche Richtung lief wie ich. Dieser Mann war sehr alt. Ich würde ihn auf fünfundachtzig bis fünfundneunzig schätzen. Also wirklich sehr, sehr alt. Trotzdem joggte er. Mit Schweißband auf der Stirn, Sporttrikot am Oberkörper und einer sehr kurzen Hose, die nicht einmal das obere Viertel seiner blassen und leicht durchsichtigen Oberschenkel verdeckte. Abgerundet wurde das Bild von weißen Laufschuhen, in denen lange, äußerst stramm hochgezogene und natürlich ebenfalls weiße Sportsocken steckten.

Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich dieser Mann beeindruckte. Wenn ich in diesem Alter überhaupt noch gehen kann, bin ich der Welt schon dankbar genug. Aber joggen? Niemals. Unmöglich. Was für ein Kerl. Was für eine Maschine. Was für ein unglaublicher Typ. Ich bewunderte ihn, bemerkte währenddessen jedoch, dass er mir immer näher kam, obwohl wir in die gleiche Richtung liefen. Ja, er joggte. Aber eben altersbedingt langsam. Klar, die Frau auf dem Fahrrad hätte er trotzdem überholt, dennoch war sein Tempo eigentlich dem Wort »Tempo« unwürdig. Ich kam näher und näher. Dann blieb ich stehen.

Ich konnte es einfach nicht. Ich konnte diesen Mann nicht überholen. Nein. Niemals. Was würde er denken, wenn da so ein Jungspund gehend an ihm vorbeizieht, während er sich hier auf seine alten Tage so abrackert? Das konnte und wollte ich ihm nicht antun. Also blieb ich stehen. Wie in einem schlechten Agentenfilm tat sich so, als würde ich mir die Schuhe binden. Damit der Mann nicht misstrauisch wurde. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er mich überhaupt wahrgenommen hatte, jedoch wollte ich nicht einfach stehen bleiben. Ich band mir meine gebundenen Schuhe ein bisschen fester und schaute daraufhin ein wenig auf mein Handy, damit es von außen so aussah, ich wäre nur eines dieser Mitglieder der heutigen Gesellschaft, die ständig auf ihr Handy starrt. Der Mann zog langsam weiter.

Die Straße zum Supermarkt ist sehr lang und nach dieser einen angesprochenen Seitenstraße kommt erst einmal nichts anderes mehr. Also wusste ich, dass der Mann bis zum Supermarkt vor mir herlaufen würde. Darum ging ich langsam weiter, bis ich eine Bushaltestelle erreichte. Dort setzte ich mich auf eine Bank und wartete. Ich wollte sichergehen, den Mann nicht doch noch einzuholen. Ein zweites Mal konnte ich mir nicht die Schuhe binden. Ich wollte ihn zwar mit Respekt behandeln, dabei aber nicht wie ein kompletter Vollidiot rüberkommen. Etwa zehn Minuten später setzte ich mich wieder in Bewegung und kam guten Gewissens am Supermarkt an. Ich habe den Mann seitdem nicht mehr gesehen, bin aber fest davon überzeugt, dass er noch heute seine Runden dreht. Und ich freue mich für ihn.

Kommen wir zu Situation Nummer zwei. Mein Weg von der Bahn nach Hause führt über einen kleinen Minihügel, der in einem so flachen Bundesland wie Hessen irgendwie etwas deplatziert wirkt. Dennoch ist er da und muss von mir überwunden werden, was selbstverständlich kein Problem für mich darstellt, da ich aus der Bergstadt Lüdenscheid komme, die meine Waden und Oberschenkel von Geburt an gestählt hat.

Eines schönen Tages näherte ich mich dem Hügel und bemerkte eine alte Dame, die zwei, vermutlich mit Essiggurken gefüllte, Tragetaschen in Händen hielt, am Fuß des Hügels stand und ihn hinaufsah. So mussten Bergsteiger*innen aussehen, die vor dem Mount Everest stehen, gemerkt haben, dass sie statt ihrer Kletterschuhe versehentlich Gummistiefel eingepackt haben, jedoch zu stolz sind, dies vor ihren Bergsteigerkolleg*innen zuzugeben, und jetzt eben den Salat haben, der den Namen Eisberg endlich einmal verdient hat.

Ich wurde etwas langsamer und bereitete das freundliche Angebot vor, der Frau beim Tragen ihrer Taschen zu helfen, um mit ihr gemeinsam die Höhenluft zu schnuppern. Als ich mich ihr jedoch von hinten näherte, konnte ich folgendes Schauspiel beobachten: Sie stellte ihre beiden Taschen mit den vermeintlichen Essiggurken auf den Boden. Dann wühlte sie mit ihren Händen in ihren Jackentaschen. Mit der linken in der linken und mit der rechten in der rechten. Mit links holte sie ein Paket Zigaretten hervor. Sie fischte sich eines der Tabakröllchen heraus, steckte es sich in den Mund und zündete es mit dem Feuerzeug, das sich in der rechten Jackentasche befunden hatte, an. Sie nahm einen starken Zug. Atmete langsam ein und genauso langsam aus. Da wir uns in der kalten Jahreszeit befanden, wirkte sie wie eine alte Dampflok, die sich auf den Start ihrer Reise vorbereitete. Und wie Recht ich mit diesem Bild doch hatte. Sie packte mit der rechten Hand ihre beiden Einkaufstaschen, nahm die Zigarette in die linke und dampfte den Hügel hinauf. Entschlossen, unaufhaltsam, wie auf Schienen, ohne Pause. Schritt, Schritt, Zug. Schritt, Schritt, Zug. Als die Lok oben angekommen war, machte sie keine Anstalten, auch nur den Hauch von Freude zu verspüren. Stattdessen hauchte sie den Zigarettenrauch aus ihren Lungenflügeln und ging einfach weiter.

Erst, als sie oben nicht mehr zu sehen war, wagte ich es, den Hügel zu erklimmen. Sie zu überholen kam für mich nicht in Frage. Ich wollte nicht der moderne ICE sein, der laut hupend an der alten Dampflok vorbeifährt, nur um sich darauf etwas einzubilden, und dann am Ende doch drei Stunden verspätet in München ankommt. Diese Frau hatte es nicht verdient, von mir überholt zu werden. Als ich den Hügel erklommen hatte, war die frische Höhenluft zwar etwas von Rauch durchsetzt, doch fiel es mir im Traum nicht ein, mich darüber zu beschweren. Diese Frau hatte sich diese Luft hart erkämpft. Sie hatte ihr Ritual und zog es durch. Wer war ich, darüber zu urteilen?

Beide beschriebenen Szenen sollten zeigen, dass ich Respekt vor der Langsamkeit des Seins habe. Niemand muss sich beeilen. Niemand muss anderen Platz machen. Niemand muss zwangsläufig überholt werden. Aber diese eine Fahrradfahrerin? Die ja auf dem Gehweg sowieso nichts zu suchen hatte? Die mich sicherlich angeschnauzt hätte, wenn ich ihr auf meinem Fahrrad und auf dem Gehweg entgegengekommen wäre, während sie zu Fuß Essiggurken nach Hause schleppte? Der ich gerade allerlei negative Charaktereigenschaften andichte, um am Ende dieses Textes nicht als der Böse dazustehen? Ja. Die hatte es verdient, von mir überholt zu werden. Ganz bestimmt hatte sie das. Ganz bestimmt.

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