Ich habe mal einige Monate lang in einem Call Center gearbeitet. Während dieser Zeit durfte ich eine Sache feststellen: Während die eine Hälfte meines Gehirns damit beschäftigt war, Dialogleitfäden zu befolgen und aufgebrachten Menschen zu erklären, warum ich ihnen die ausgebliebene Zeitung nicht per Taxi von Frankfurt nach Stuttgart schicken konnte, damit sie diese noch während des Frühstücks lesen konnten, war die andere Hälfte meines Gehirns vollkommen woanders. An einem Strand, auf einem Berg, in einem Wald oder irgendwo auf dem Land. Hauptsache raus aus dieser ekelhaften Arbeitsatmosphäre. “Stardew Valley” transportiert diese Vorstellung der ländlichen Entspannung in die Realität. In die Realität eines Videospiels. In die virtuelle Realität. In die Realität im Computer. In die… habe ich schon vom Weihnachtamann erzählt?
Ein sterbender Weihnachtsmann überreicht mir zu Beginn des Spiels einen Brief, den ich erst öffnen soll, wenn es mir einmal nicht so gut geht. Der Weihnachtsmann ist selbstverständlich nicht der Weihnachtsmann, sondern einfach nur ein alter Mann, der nicht nur mein Großvater ist, sondern gleichzeitig so genervt davon ist, dass alle alten Männer mit weißem Vollbart mit dem Weihnachtsmann verglichen werden, dass ihn dies ins Grab gebracht hat. Was sich in dem Brief befindet, wird nach einem Zeitsprung klar: Wir, die Spielerinnen und Spieler, finden uns in der Rolle eines jungen Mannes oder einer jungen Frau wieder, der oder die gerade in einem langweiligen Büro schuften muss, um über die Runden zu kommen. Dieses Büro erinnerte mich so sehr an meine ekelhafte Zeit im Call Center, dass ich froh darüber war, dass die ganze Sequenz nicht so lange dauerte wie diese Einleitung.
Machen wir es kurz: Im Brief befindet sich das Testament des Opas. Er vermacht uns seine alte Farm. Dies kommt uns aufgrund der bereits geschilderten beruflichen Unzufriedenheit sehr gelegen. Wir schmeißen unseren Job hin, packen unsere sieben Sachen und reisen mit dem Bus nach Stardew Valley. Über laufende Grundstückskosten oder andere Sachen machen wir uns selbstverständlich keine Gedanken. Manchmal muss man seinem Herzen folgen. Ich wage zu behaupten, dass aktuell jeder Videospieler und jede Videospielerin auf der ganzen Welt, der oder die seinem oder ihrem Herzen folgt, bei “Stardew Valley” landen wird, da dieses Spiel so voller Liebe steckt, dass es einem schwer fällt, sich dieser hin und wieder zu entziehen. Zum Beispiel um selbst wieder in den grauen Berufsalltag einzusteigen. Ja, natürlich ist der Berufsalltag nicht immer grau. Dies zu behaupten würde sofort wieder die “Dann hast du wohl den falschen Beruf gewählt!”-Schreier auf den Plan rufen, die nicht daran denken, dass der Bau einer Autobahn tatsächlich ziemlich grau ist.
Autobahnen gibt es in “Stardew Valley” bisher nicht. Es gibt eine große Straße und einen Bus, der nach meiner Ankunft übrigens kaputt ging. Ein Entkommen ist somit ausgeschlossen. Aber ich würde es auch nicht wollen. Aus dem Paradies entkommen? Nur über meine Leiche. Wobei mich eine solche ja erst hingebracht hat.
Ein Einschub: Das hier ist ein Zwischenbericht. Ich habe, das deutet die Überschrift dieses Textes bereits an, lediglich den ersten Frühling in “Stardew Valley” hinter mich gebracht. In diesem Text möchte ich über genau diesen Monat schreiben. Und das vollständig. Wer “Stardew Valley” selbst erleben und erforschen möchte, sollte nicht weiterlesen. Ich werde über die Dinge schreiben, die ich erlebt habe. Für neutralere Texte, die weniger verraten, gibt es andere Orte.
Nach meiner Ankunft hieß mich der Bürgermeister willkommen. Auch die ortsansässige Schreinerin gratuliert mir zu meiner neuen Farm, machte aber sofort einen auf Tom Nook: “Hey! Schicke Farm! Willst du mehr? Gib mir Geld und du wirst mehr bekommen!” Sofort wurde die Frau mir sympathisch. Ich habe Tom Nook schon immer gemocht. Er hat einem in “Animal Crossing” die ersten Ziele gegeben. Etwas, auf das man hinarbeiten konnte, in einem Spiel, in dem man so wenige Ziele und gleichzeitig so unglaublich viele Ziele haben kann. “Stardew Valley” ist in dieser Hinsicht wie “Animal Crossing”.
Worum geht es? Ich bin ein Farmer. Ich habe eine Farm und ein gigantisches Grundstück. Mein Grundstück mag zwar momentan noch aussehen wie meine Wohnung zwei Stunden bevor meine Oma zu Ostern über Skype anrufen will, um sich die neue Wohnung zeigen zu lassen, doch sehe ich das nicht als Problem, sondern als Aufgabe. So reden auch Unternehmensberater gerne mal mit einem. Das Leben besteht aus vielen Aufgaben, die gelöst werden müssen, ohne aufzugeben. Sagen das Unternehmensberater wirklich? Da fragt ihr den falschen. Ihr habt gar nicht gefragt? Doch. Ihr habt es nur nicht gemerkt, weil ich es für euch tat.
Als Farmer kann man sehr viel machen. Man kann zum Beispiel das eigene Grundstück aufräumen. Mit der Sense wird Gras zerschnitten, mit dem Beil fälle ich Bäume, mit der Hacke zerhacke ich Steine. Zehn Minuten später breche ich dann zusammen, weil meiner Spielfigur die Puste ausgegangen ist und sie sich nicht mehr bewegen will. Außerdem ist 23 Uhr und ich muss schlafen. Naja. Morgen ist ja auch noch ein Tag.
“Stardew Valley” lebt von dem Gedanken an morgen. Es ist ein Farmspiel, in dem ich während der ersten Jahreszeit so gut wie gar nicht gefarmt habe. Ich habe ein paar kleine Felder angelegt, diese aber nach und nach vernachlässigt. Nicht, weil sich die Arbeit an ihnen nicht rentiert, sondern weil ich andere Dinge lieber mache. Angeln zum Beispiel. Das Angeln funktioniert sensationell gut und macht so viel Spaß, dass ich mir ein Spinoff wünsche. Nein, ich wünsche mir selbstverständlich kein Angel-Spinoff. Manchmal tätigt man Aussagen dieser Art, um… oh… diesmal habt ihr tatsächlich nicht gefragt.
Wer keine Lust auf Felder hat, kann auch in eine Höhle gehen und auf Schleime einschlagen, die total böse sind. Ich habe von einem Mann in einer ominösen Abenteuergilde den Auftrag bekommen, 1.000 Schleime zu erschlagen. Wenigstens weiß ich nun, warum die Schleime böse sind. Wer keine Lust auf Schleim hat, kann auch kochen. Das habe ich aber bisher noch nicht getan. Weil ich keine Küche habe. Für die benötige ich 10.000 Euro. Zuletzt gab ich 2.000 Euro aus, um meinen Rucksack zu vergrößern, um dadurch in der Miene mehr Gestein mitzunehmen, um dieses mit Hilfe meines Ofens in Metalle umzuwandeln, mit denen ich Bewässerungsanlagen errichten kann, um dann endlich doch richtig farmen zu können, weil ich ab diesem Zeitpunkt nicht mehr jede Pflanze einzeln begießen muss. Dieser letzte Satz? Das ist “Stardew Valley”. Und das ist das Denken an morgen.
Ich muss zugeben, dass ich zunächst meine Probleme mit dem Spiel hatte. Nicht, weil mir Elemente nicht gefielen, sondern weil ich überfordert und planlos war. Zunächst wollte ich effektiv wirtschaften. Schnell die rentabelsten Dinge anpflanzen, die Mine nur dann betreten, wenn es regnet, weil ich dann keine Ausdauer beim täglichen Pflanzengießen verliere und somit länger Steine und Schleime kloppen kann. Doch dann erkannte ich, dass ich “Stardew Valley” falsch spielte. Zumindest für diesen ersten Monat. Und natürlich “falsch” aus meiner Sicht und auf mich bezogen. Wer von Anfang an alles planen möchte, wird hier definitiv glücklich werden. Aber ich möchte das nicht. Ich möchte ein Leben führen, wie ich es in der Realität auch gerne führen würde. Tun, worauf ich Lust habe und dabei nicht immer an Geld denken. Keine Lust auf Aufräumen? Auf in die Höhle! Keine Lust auf Dunkelheit? Auf ins Dorf und mit Leuten reden! Ich wäre gerne allein? Angeln gehen! Ich will trocken bleiben? Dann sollte ich wohl einen Stall bauen und Tiere streicheln!
Letzteres habe ich bisher noch nicht gemacht. Dabei hätte ich sehr gerne einen Stall. Jedoch ist das aktuell noch nicht drin. Auch für einen Stall fehlt mir das Geld. Aber wisst ihr was? Es stört mich nicht! Nach einer Jahreszeit habe ich mich frei gemacht von Verpflichtungen, von Effektivität, von Wirtschaftlichkeit. Ich lebe in den Tag hinein. Selbstverständlich ist der Gedanke an morgen nicht verschwunden, doch gestatte ich es mir genauso, einfach noch ein paar Etagen tiefer in die Höhle vorzustoßen, obwohl ich ja eigentlich nur ein paar Kupferstücke brauchte, um meine Bewässerungsanlage zu bauen. Oder an einem unterirdischen See die restlichen fünf Stunden des Tages die Angel auszuwerfen und zu gucken, was so alles anbeißt. Warum bekomme ich keine Panik? Weil ich Zeit habe. Der nächste Frühling kommt bestimmt.
Außerdem kann ich nicht verhungern. Zumindest zeichnet es sich bisher nicht ab, dass in naher Zukunft irgendwelche finanziellen Verpflichtungen auf mich zukommen werden. Ich muss keine Miete bezahlen, das Grundstück kostet nichts, ich muss kein Essen kaufen… das Leben auf meiner Farm ist so dermaßen frei von Verpflichtungen, dass sich vielleicht der oder die eine oder andere Spieler oder Spielerinn fragen wird, warum man überhaupt spielt. So ganz ohne Schwierigkeitsgrad und Ziel ist das alles doch sinnlos, oder? Nein, ist es nicht. Aber das kommt hier auch von jemandem, der “Clicker Heroes” mag. Ein ganz kleines bisschen ist “Stardew Valley” auch wie “Clicker Heroes”. Die Zahlen werden nach und nach größer. Verlieren kann man nicht. Nur so ganz automatisch läuft das Leben auf meiner Farm dann doch nicht ab.
Man erlebt auch deutlich mehr. Mitte des Monats (ein Jahr besteht aus vier Jahreszeiten a einem Monat) fand ein Eiersammelwettbewerb statt, den ich gewann, in dem ich nur ein einziges Mal das Spiel per Alt+F4 beendete, als ich nicht gewann. Ich gewann einen Hut und freute mich sehr. So konnte ich immerhin mein peinlich berührtes Antlitz verstecken. Aber keine Sorge: Karma existiert. Kurze Zeit später fand ein Tanzfest statt. Niemand wollte mit mir tanzen. Niemand. Man kann Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern Geschenke machen, zwei pro Woche. Man kann mit ihnen reden und sie kennenlernen. So erfährt man beispielsweise, dass die größte Sorge der Kinder im Dorf das Essen ist, das ihnen ihre Eltern zubereiten wollen. “Oh nein, heute kocht Papa/Mama wieder Gericht X.” Wie oft ich das schon hören musste! Je mehr man sich mit den Leuten beschäftigt, desto mehr mögen sie einen. Schenkt man ihnen Dinge, die sie mögen, steigt der Herzchenbalken immer weiter an. Leider habe ich da im ersten Monat noch nicht viel reißen können. Niemand wollte am Tag der Tanzveranstaltung mit mir tanzen. Niemand. Keines der Mädchen und keiner der Männer. Ja, ich habe sie alle gefragt.
In “Stardew Valley” kann man irgendwann heiraten. Wen ich heiraten will, weiß ich noch nicht. Ich will mich noch ein wenig mit den Leuten unterhalten. Ich will die Heirat nicht als Spielmechanik sehen, sondern als natürlichen Prozess. Neulich habe ich beispielsweise Abigail besucht und mit ihr zusammen ein Videospiel durchgespielt. Das hat Spaß gemacht. Spannend war auch der Abend, an dem sie an mir vorbeiging, plötzlich stehen blieb und erschrocken losrannte. Am Ende sah ich sie auf dem Friedhof vor einem Grabstein stehen. Wer liegt dort? Wer ist Mona? Ich weiß es noch nicht. Und dann gibt es da noch Leah, die in einer kleinen, gemütlichen Hütte am Rand des Dorfes lebt. Leah wirkt immer angenehm entspannt und naturverbunden. Sympathisch. Auch Maru ist toll. Tochter der Schreinerin und eines Wissenschaftlers. Auch mit ihr unterhalte ich mich gerne. Was jetzt nach Brautschau klingt, ist eher eine Suche nach Freundschaft und Unterhaltung. Ich bin gespannt, ob und wie sich die anderen Charaktere mir gegenüber öffnen werden. Auch die Jungs. Vor allem Shane. Shane ist aktuell nämlich noch ein ziemlich… gemeiner Kerl. Nicht so wie Elliott. Wobei ich über den gar nicht viel weiß. Vor allem weiß ich nicht, was er macht, um seine enorme Haarpracht so prächtig aussehen zu lassen. Was da für Pflege drinstecken müss, kann ich mir nur schwer vorstellen. Ein weiteres Mysterium, das gelöst werden muss.
Jedoch habe ich mich in den letzten Frühlingstagen nicht mehr so oft im Dorf blicken lassen. Ich habe Tage in der Höhle verbracht, um an Eisen zu kommen. Zwar kann man dieses auch hin und wieder aus einem See angeln, doch ist die Höhle dann doch die effektivere Anlaufstelle für Gesteine aller Art. Mit dem Eisen habe ich zwei Bewässerungsanlagen gebaut, damit ich im Sommer ein paar Pflanzen anpflanzen kann, ohne sie täglich gießen zu müssen.
Das ist alles, was ich geplant habe. Ein paar Pflanzen anbauen, um sie kennenzulernen. Zwar habe ich noch immer nicht viel Interesse am Farmen, doch geht es eben auch nicht ganz ohne. Ich will schließlich irgendwann alles beherrschen. Und besitzen. Vor allem besitzen. Das erste, was ich auf meiner Farm baute, war eine Kiste, um den ganzen Müll irgendwo lagern zu können, den ich mit mir herumschleppte. Das ist wörtlich zu verstehen. Ihr würdet euch wundern, wie viele Kaputte CDs man in einem Fluss finden kann. Aber auch das ist nicht mehr schlimm, denn ich habe eine kleine Recycling-Maschine gebaut.
Tja. Das war er also, der Frühling. Wobei das selbstverständlich gar nicht stimmt. Ich habe noch mehr erlebt. Und ich habe noch so viel vor. Mein Ziel für den Sommer: Einen Stall bauen. Ich will Hühner. Um Majonnaise herstellen zu können. Oh je, jetzt fange ich schon wieder damit an, Pläne zu schmieden. Das wollte ich doch nicht. Weil “Stardew Valley” so entspannend ist, einen gleichzeitig aber auch überfordern kann. Soll ich noch schnell vom Community Center erzählen? Nein? Na gut. Dann nicht.
Wir sehen uns vielleicht Anfang Herbst wieder. Vielleicht weiß ich bis dahin auch, was für einen Altar Pierre da in seinem Laden hat und welchem Dämon er huldigt.