Wenn man sich ein Haus kauft, ist das etwas fürs Alter. Nicht nur im finanziellen Sinne, also als Altersabsicherung. Nicht nur, weil man in diesem Haus vermutlich den Rest seines Lebens verbringen wird, wenn man gesundheitlich zumindest größtenteils in Ordnung bleibt. Nein, auch im Bereich des alltäglichen Verhaltens im Alter bringt ein Haus große Verantwortungen mit sich. Schließlich wird man an diesem Ort noch ein ganzes Weilchen verweilen. Es gilt, sich ein Rufkonzept zurechtzulegen, nach dem man sich dann später nur noch zu richten hat. Dieses Konzept muss aber zur Nachbarschaft passen. Man will nicht plötzlich der sein, der irgendetwas Neues in die Nachbarschaft bringt. Nein, das Konzept muss sich an die bereits etablierten Verhaltensweisen der Umgebung orientieren.
Darum verbringe ich aktuell viel Zeit damit, die Nachbarschaft zu beobachten, um mich auf mein hohes Alter vorzubereiten. »Nachbarschaft« meine ich hier übrigens im weitesten Sinne. Ich lebe auf dem Dorf. Da ist eigentlich alles »Nachbarschaft«. Jedenfalls möchte ich nicht vom Alter überholt und abgehängt werden. Dann steht man plötzlich da, auf dem letzten Lebensweg, und weiß nicht mehr, wo es langgeht. Das muss nicht sein. Das soll nicht sein. Darum die Vorbereitungen. Darum mein Konzept.
Bis ich alt bin, benötige ich auf jeden Fall ein Auto. Aktuell habe ich keins und werde deswegen von der gesamten Nachbarschaft mit großen Augen angesehen. Ein Leben ohne Auto ist scheinbar ein neues Konzept, mit dem ich hier alle durcheinanderbringe und nervös mache. Ist notiert. Wenn ich mal alt bin, kaufe ich ein Auto. Nicht nur wegen der Blicke und dem Gerede. Auch, weil ich damit mein erstes Altershobby umsetzen kann. Ich fahre zwar nicht gerne Auto und habe bisher nur in seltenen Fällen eins vermisst, trotzdem ist es für mein erstes Hobby unerlässlich, eins zu besitzen. Ich muss damit nämlich später Hundebesitzer*innen auflauern können, um sie Arschlöcher zu nennen.
Meine Frau und ich trainieren unserem Hund immer an, sein Geschäft nicht an Hauswänden zu erledigen. Das gehört sich unserer Meinung nach einfach nicht. Es gibt zwar Hauswände, die durch Hundeurin eher eine visuelle Aufwertung erfahren würden, dennoch möchte ich nicht, dass mein Hund alles markiert, was ihm vor die Pipipistole kommt. In der alten Heimat hat das gut funktioniert. Irgendwann kannte er die Stellen, an denen er durfte oder nicht. Keine Hauswände. Keine Wasserrohre. Hecken sind in Ordnung. Und alles, was die Stadt an den Wegesrändern angepflanzt hat, darf auch frei heraus mit dem warmen, gelben Nass benässt werden. Ist in Ordnung.
Nach dem Umzug wurde es aber erst einmal wieder kompliziert. Unser Hund merkt sich eher die genauen Gebiete, in denen er machen darf oder nicht, als das Konzept »Hauswand« und »Hecke« und »Stadtgrün« zu lernen. In einer neuen Stadt sind seine alten Gebiete verschwunden. Alles ist neu. Darum musste man ihm nach dem Umzug vieles wieder neu beibringen. »Nein, hier nicht.« wurde dann gerufen, wenn er sein Bein hob. Nach und nach lernte er es.
Einmal jedoch passten meine Frau und ich nicht auf. Er hob sein Bein neben einer Hauswand, während wir in ein Gespräch vertieft waren, aus dem wir plötzlich mit lautem Hupen herausgerissen wurden. Es entsprang einem wenige Meter von uns entfernten Wagen, der plötzlich Vollgas gab und direkt neben uns wieder eine Vollbremsung hinlegte. Als der Wagen zum Stehen kam, rief ein alter Mann aus dem Fenster: »Muss der Hund überall hinpissen?« Meine Frau und ich antworteten zunächst nicht, sondern schauten den Herrn erst einmal nur ungläubig und leicht erschrocken an. Daraufhin sah er meine Frau an, sagte: »Guck nicht so, du Arschloch!«, gab wieder Vollgas und bretterte davon.
Dies war meine erste Inspirationsquelle für mein Leben im hohen Alter. »Das möchte ich später auch machen.«, dachte ich. Im Auto Hundebesitzer*innen auflauern, deren Hunde an Hauswände pinkeln? Vollgas, Vollbremse, Arschloch rufen, wegfahren und sich so richtig schön verbittert gut fühlen? Super! Es sollen ruhig alle wissen, was gerade in mir vorgeht. Was ich von der Welt im Allgemeinen halte. Ich möchte an dieser Stelle übrigens nicht das Verhalten unseres Hundes oder unsere Unaufmerksamkeit rechtfertigen. Es war mir tatsächlich unangenehm, dass wir das Beinheben übersehen hatten, aber ein Arschlochruf aus dem Autofenster ließ mich das Ganze schnell wieder vergessen, da es sich hier definitiv nicht um einen Herrn handelte, der eine freundliche Entschuldigung von unserer Seite verdient hatte.
Mein erstes Altershobby hatte ich also gefunden. Doch das zweite war nicht weit. Das Warten auf Besitzer*innen pinkelnder Hunde würde ich mir praktischerweise mit einer weiteren Tätigkeit versüßen können, zu der ich in der Nachbarschaft motiviert wurde. Im Idealfall würde ich den Übeltäter*innen mit potenziellen Wandpinklern auf Parkplätzen auflauern, in deren Nähe sich eine Baustelle befindet. Bei uns in der Gegend finden gerade Straßenarbeiten statt und immer, wenn ich zur Arbeit gehe oder von dieser komme, gehe ich an aufgerissenen Straßen vorbei. Hier verrichten tüchtige Typen ihr Handwerk und werden dabei von einem älteren Herren beobachtet, der nicht nur gerne raucht, sondern auch sehr gerne nachschaut, ob die Herren Bauarbeiter ihr Handwerk vernünftig erledigen.
Da steht er dann. Meistens mit einer kurzen Hose und äußerst stark hochgezogenen Socken bekleidet. Zigarette in der einen Hand, die andere in die Hosentasche gesteckt. Über das Baustellenloch gebeugt. Und glotzt. Ich habe ihn noch nie mit den Bauarbeitern reden sehen. Er steht einfach nur da und guckt. Immer direkt am aufgestellten Bauzaun. Und guckt und guckt und raucht und glotzt. Ich brauche also nicht nur ein Auto, sondern muss zudem auch noch mit dem Rauchen anfangen.
Das Schöne an der Situation: Man kann ihn nicht einmal auffordern, zu gehen. Schließlich steht er hinter der Absperrung. Ganz normal. Auf dem Gehweg. Da wird man ja wohl noch stehen dürfen, würde er ganz bestimmt sagen. Würde ich ganz bestimmt sagen.
Vielleicht war der Herr ja früher selbst Bauarbeiter und guckt nur, ob sich die Arbeitsweise seit seinem Ausscheiden verändert hat. Oder er wäre gerne Bauarbeiter geworden, wurde aber von seinen Eltern in einen BWL-Job gezwungen, weil er etwas »Richtiges« hatte lernen sollen. Wahrscheinlich ist beides falsch. Wahrscheinlich will er einfach nur gucken. Glotzen. Ob die alles richtig machen. Weil er Ahnung hat. »Das hätten die besser mal so und so gemacht.«, wird er dann sagen. Puh. Das wird gar nicht mal so einfach. Ich muss diesen Blick lernen. Dieses Zuschauen. Besser: Dieses »Ich gucke doch nur.«-Zuschauen. Mit eingebauter Wertung. Hin und wieder kurz mit dem Kopf schütteln. Nur ganz eben. Dass das Gegenüber es fast nicht bemerkt. Aber eben nur fast. Es wird bemerkt. Es war da. Aber eben nur so ein ganz kleines bisschen. Die Beglotzten müssen sich schlecht fühlen. Nervös werden. »Bloß keinen Fehler machen, sonst schüttelt der wieder den Kopf.«
Vermutlich weiß der Herr ganz genau, wie unangenehm es ist, wenn einem jemand während der Arbeit über die Schultern guckt. Ich zumindest werde da verrückt bei. »Ist noch was?«, frage ich meine Frau immer, wenn sie mal drei Sekunden zu lange hinter mir stehen bleibt, nachdem wir uns in meinem Zimmer unterhalten haben. Ich kann das nicht ausstehen. Dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Das möchte ich später weitergeben.
Hobby Nummer zwei wäre damit im Kasten. Während ich auf Personen aus Schublade eins warte, begaffe ich Personen aus Schublade zwei. Perfekt. Aber ich brauche noch etwas Anderes. Etwas für einen anderen Ort. Etwas für zu Hause. Und da habe ich zum Glück auch schon eine Idee.
Hier im Ort gibt es eine sehr gute Pizzeria, bei der wir oft etwas zum Abholen bestellen. Wir essen am liebsten zu Hause, da nehme ich einen kleinen Fußmarsch gerne in Kauf. Vor allem, wenn ich dabei an einem anderen Ideengeber vorbeikomme. Auf dem großen Parkplatz hinter der Pizzeria sitzt häufig ein alter Mann auf einem Klappstuhl und guckt, wer da gerade alles so angetanzt kommt, um Pizza abzuholen. Als ich dort das letzte Mal aufschlug, sprach er meinen Begleiter und mich darauf an, dass wir doch unseren Mundschutz abnehmen sollten, da uns die Bedienung sonst gar nicht verstehen könne. Corona-bedingt hatten wir zwei gerade definitiv Besseres zu tun, als unseren Mundschutz abzunehmen, und ignorierten den Herrn stattdessen. Ich vernahm noch ein leises »Als hätten wir keine anderen Probleme.«, das er leise vor sich hin grummelte, doch zum Glück lenkten ihn wenige Sekunden später zwei kleine Kinder ab, die in seiner Nähe Ball spielten. Der Ball kam auf ihn zugerollt, er hielt ihn mit dem Fuß auf und ließ eines der Kinder zu sich kommen, um den Ball wieder abzuholen. Als das Kind bei ihm war, überließ er ihm zwar den Ball, gab aber gleichzeitig ein »Geht dahinten spielen, nicht hier. Das stört.« von sich.
Wundervoll. Den ganzen Tag hinter einer Pizzeria auf einem Klappstuhl sitzen und das Verhalten anderer Menschen kommentieren? Das muss doch auch für jemanden wie mich umsetzbar sein. Jemanden, der keine Pizzeria besitzt. Ich bekam zum Glück sofort die richtige Idee.
Ich würde es mir einfach im heimischen Garten gemütlich machen. Wir wohnen neben einem Kinderspielplatz und ich muss zugeben, dass ich die Geräuschkulisse eigentlich ziemlich mag. Die Augen schließen und Eltern und Kindern bei der Kommunikation zuhören, ist toll. »Hallo Brigitte, alles klar?« »Och, es geht.« »Wieso, ist was mit Felix?« »OMAAA!« »Was ist denn, ich stehe doch neben dir.« »Wie alt ist Ihrer?« »Ich hole noch eine zweite Decke, dann können wir uns hinsetzen.« »OOOMAAAAA!« »Was ist denn jetzt mit Felix?« »Wie alt ist Ihrer?« »Ich stehe direkt neben dir!« »Wem gehört die Schaufel?«
Im Alter würde ich das natürlich eher ins Negative drehen. Unser Garten wird durch eine Hecke vom Spielplatz getrennt. Diese würde ich an einer Stelle so kurz schneiden, dass ich problemlos sitzend durch sie hindurchsehen kann. Auf die Äste würde ich noch ein kleines Kissen legen, um meine Altersweisheit angemessen abstützen zu können. Getreu dem Motto: hartes Dissen auf weichen Kissen.
Mein Plan lautet, den Kindern einfach durchgängig irgendetwas zuzubrüllen. »Ey du, spiel da mal nicht so rum.« »Ey du, geh da mal runter.« »Ey du, sei nicht so wild, das geht sonst kaputt.« »Ey du, gib dem doch auch mal die Schaufel ab.« »Ey du, lass das!« »Ey du, schrei nicht so, die Oma steht neben dir.« Das sind nur ein paar der Floskeln, die ich bisher auf kleine Karteikarten geschrieben habe, um sie später ablesen zu können. Ich würde mir einen Wecker stellen, der mir alle fünf Minuten das Signal dazu gibt, eine Floskel von mir zu geben. Ein schneller Griff in die Kartenkiste und es kann losgehen. Die Floskeln müssen ja nicht einmal zu den stattfindenden Szenarien passen. Es geht nur darum, dass da jemand hinter der Hecke sitzt und brüllt. Die Inhalte sind eigentlich egal.
Im Alter ist man offensichtlich immer darauf angewiesen, dass andere etwas machen. Man selber wartet nur. Ich warte auf pinkelnde Hunde. Ich warte auf Bauarbeiten. Ich warte auf Kinder. Und dann geht es los. Das Konzept beginnt: Vollgas, Vollbremsung, Arschloch. Vollgas geben, um den Hund, die Baustelle oder meine Kartenkiste zu erreichen. Vollbremsung beim Hundebesitzer erschrecken, Bauzaun erreichen oder Kartenlesen mit Luftholen. Und dann kommt das Arschloch. Entweder, wenn ich jemanden buchstäblich »Arschloch« nenne, jemanden anstarre oder Kinder anschreie. All das mache ich natürlich nur, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Aber dafür benötige ich die Taten anderer. Ich muss mich selbst mit anderen vergleichen, ihre Taten für schlecht halten, alle anderen Umstände ignorieren, und meine Meinung über die Hecke brüllen.
Das erinnert mich an die Brücke, die ich morgens auf dem Weg zum Bahnhof immer überqueren muss. Manchmal, wenn ich sie betrete, gibt das Metallgeländer ein lautes Knacken von sich. Als würde ich es aufwecken. Als würde es durch meine Ankunft erwachen, sich einmal strecken und dabei seine Knochen knacken lassen. Dieses Knacken ist wie bei den beschriebenen alten Männern. Wenn ich die Brücke nicht betrete, passiert nichts. Wenn doch, dann knackt es. Manchmal erschrecke ich mich noch. Meistens weiß ich aber schon, dass das Geächze starten wird, wenn ich die Brücke betrete. So möchte ich später auch mal sein. »Der Alte sitzt wieder am Spielplatz.« Knack. »Der Alte geht wieder zur Baustelle.« Knack. »Der Alte fährt wieder auf Hundebesitzer zu.« Knack. Manch einer wird sich wegen meines Geknackes noch erschrecken. Manche nicht. Sie werden wissen, dass es kommt. Und ich werde da sein, um sie nicht zu enttäuschen.