Es ist mir jetzt schon ein paarmal in der Bahn passiert, dass ich Zeuge eines interessanten Schauspiels zwischen drei Charakteren geworden bin. Bei Charakteren Eins und Zwei handelte es sich stets um einen Mann und dessen Kind. Immer die gleichen Rollen, nur die Schauspieler wechselten zwischen den Stücken. Es waren also nicht jedes Mal derselbe Mann und dasselbe Kind. Lediglich die Konstellation war dieselbe. Ein Mann und dessen Kind. Keine Mutter.
Stattdessen gibt es da noch Charakter Drei. Eine Frau. Stets in gleicher Besetzung. Sie unterhält sich immer zuerst mit dem Kind und anschließend mit dessen Vater. Die Gespräche an sich sind an dieser sich wiederholenden Situation nicht das Spektakuläre, das mich zum Schreiben dieses Textes bewegte. Die Inhalte sind nicht weiter erwähnenswert. Nein, es ist die Konstellation an sich. Es ist der immer gleiche Ablauf. Es ist das, was einem erst auffällt, wenn man mehrmals Zeuge davon geworden ist. Erst dann macht man sich Gedanken. Erst dann erregt die Situation meine Aufmerksamkeit.
Also: Was passiert? Die erwähnte Frau steigt immer ein paar Stationen nach mir in die Bahn. Sieht sie irgendwo einen Mann mit einem Kind und ohne Frau sitzen, fragt sie, ob sie sich dazusetzen darf. Erfolgt ein »Ja«, setzt sie sich zu den beiden und beginnt ein Gespräch mit dem Kind. »Na? Wo willst du denn hin?« Mal beantworten die Kinder die Frage, mal nicht. Beides ist für die Frau in Ordnung, denn das Gespräch wurde eingeleitet und der Einstieg ist gelungen. Das Gespräch kann nicht mehr zum Stillstand kommen.
Antwortet das Kind? Perfekt. Antwortet es nicht? Auch kein Problem. In diesen Situationen schreiten die Väter ein, die sofort der Meinung sind, sich für das zurückhaltende Verhalten ihrer Kinder rechtfertigen zu müssen. Sie entschuldigen sich manchmal sogar im Namen des Kindes. Weil es etwas schüchtern ist. Dann beantworten sie die zuvor gestellte Frage für ihr Kind. Der Gesprächsfaden wurde aufgenommen.
Die Unterhaltungen sind inhaltlich wirklich nicht relevant. Smalltalk. Namen werden ausgetauscht. Das Alter des Kindes wird genannt. Väter plaudern über das Verhalten ihres Kindes, das währenddessen neben ihnen sitzt und sich nicht anmerken lässt, was es davon hält. »Och, Schule, ich meine… immerhin geht er hin!«, muss man dann hören. Die Erwachsenen lachen, das Kind verzieht den Mundwinkel wie jemand, der äußerlich mitlacht, aber innerlich gerne im Boden versinken, auf den Schienen landen und vom Zug überrollt werden würde. Wären in diesen Momenten Datenschutzbeauftragte anwesend, würden sie selbstverständlich nichts dagegen unternehmen, sich die Situation aber in ihrer per Daumenabdruck und Passwort geschützten Notiz-App notieren, um sie bei der anstehenden Präsentation vor einem mittelständischen Betrieb zu erwähnen, um den geistig ab- aber immerhin körperlich anwesenden Zuhörer*innen mit Hilfe einer kleinen aus dem Leben gegriffenen Anekdote die Gefahren von Unterhaltungen in öffentlichen Räumen zu vermitteln.
Ich weiß mittlerweile viel über die Frau. Ich kenne ihr Alter. Ich kenne die Lage ihrer Arbeitsstelle. Den Namen der Firma. Ich weiß, als was sie dort arbeitet. Ich kenne ihre Arbeitszeiten und wo sie die letzten zwei bis drei Jahre im Urlaub war. Und noch viel mehr. All das weiß ich, weil sie es immer wieder den unterschiedlichen Vätern erzählt. Diese plaudern daraufhin ebenfalls aus dem Nähkästchen. Auch über sie erhalte ich also unzählige Informationen. Über die Väter, über deren Kinder und eventuell auch über deren Frauen. Dazu später mehr.
Schnell ein Einschub: Ich werde die Frau in diesem Text nicht weiter beschreiben, denn diese Informationen gehen niemanden etwas an. Wenn ich ehrlich bin: nicht einmal mich. Aber ich schnappe sie eben auf. Immer und immer wieder. Weil sie sie immer und immer wieder in der Bahn herumposaunt. Sie ist nicht leise. Die Väter sind nicht leise. Ich sitze lediglich in der Nähe und höre zu. Ich höre zu, ohne zu lauschen. Man kann nicht weghören. Man könnte Kopfhörer aufsetzen und Musik hören. Aber das mache ich nicht, weil ich das morgens nicht mag. Und ich lasse mich doch nicht dazu zwingen, wegzuhören. Und wen es stört, dass ich zuhöre und nicht lausche, sollte sich vielleicht nicht so laut in der Bahn unterhalten.
Nachdem ich zum wiederholten Mal Zeuge dieser Unterhaltung zwischen der Frau und irgendeinem Vater mit Kind geworden bin, habe ich begonnen, mir die Frage zu stellen, warum die Frau das macht. Warum unterhält sie sich immer wieder mit der gleichen Menschenkonstellation? Sitzen in meiner Nähe ein Mann mit Kind, kann ich davon ausgehen, dass schon bald die Frau bei ihnen sitzen und ihre immer wieder gleich ablaufenden Gespräche beginnen wird. Zumindest an den Tagen, an denen sie zur Arbeit fährt. Die ich mittlerweile ja kenne. Ich habe auch beobachtet, dass sie an Kindern, die von ihren Müttern begleitet werden, vorbeigeht, ohne eine der beiden Personen anzusprechen.
Das hat dann auch gleich meine erste Vermutung negiert, die lautete, dass sie einfach nur Kinder mag und sich deswegen mit ihnen unterhalten will. Es wäre wirklich die naheliegendste Möglichkeit. Leider ist da eben ihre Abneigung gegenüber mütterlicher Begleitpersonen. Nur Kinder mit Vater interessieren sie.
Geht es also vielleicht gar nicht um die Kinder? Wird hier hemmungslos geflirtet? Ich bin mir nicht sicher. Die Unterhaltungen wirken auf den unbeteiligten Nichtlauscher nicht wie der Versuch, sich an die Männer ranzumachen. Gut, bisher waren auch noch alle Männer in einer Beziehung mit der Mutter des anwesenden Kindes. Würde vielleicht tatsächlich mal nach einer Telefonnummer gefragt werden, sollte die Frau auf einen frauenlosen Mann treffen? Leider konnte ich einen Kontaktdatenaustausch bisher nicht beobachten. Ich bleibe an der Sache dran. Weil mir ja auch nichts anderes übrig bleibt. Es ist schließlich alles so auffällig. Möchte die Frau also erst einmal ein paar Eckdaten erfragen, bevor sie versucht, das Interesse ihres Gegenübers zu wecken?
Vielleicht geht die Sache ja auch tiefer! Ab dieser Stelle driften die Spekulationen leider in eine mir eigentlich unangenehme Richtung ab. Aber sie lassen sich gleichzeitig auch nicht mehr vermeiden. Dafür stecke ich mittlerweile zu tief drin. Als Unbeteiligter. Wurde die Frau von ihrem Mann verlassen, der das alleinige Sorgerecht für ihr Kind hat? Spielt sie sich somit jeden Tag in der Bahn selbst etwas vor? Die Fahrt zur Arbeit mit Mann und Kind? Eine Wunschvorstellung, täglich ausgelebt? Gemeinsam fährt man los, dann muss sie aussteigen, aber ihr Mann kümmert sich weiter um ihr gemeinsames Kind?
Vielleicht kann die Frau ja keine Kinder bekommen und versucht nun, in der Bahn einen Mann zu finden, der ihren Kinderwunsch in gewisser Weise bereits erfüllt hat und diesen mit ihr teilen möchte? Die Vorarbeit wurde geleistet. Jetzt müssen die beiden Erwachsenen nur noch einwilligen, ihr und das Leben eines Kindes miteinander zu teilen.
Oder geht es nicht um die Liebe, sondern das liebe Geld? Ist die Frau auf der Suche nach einem einsamen, überarbeiteten Mann, der genauso viel Liebe benötigt wie er Geld hat? Ranmachen, Ehevertrag, wieder abmachen?
Es gibt so viele Möglichkeiten. Ich spekuliere und spekuliere. Immer, wenn ich sie sehe, beginnt es von Neuem. »Darf ich mich dazusetzen?« Ich höre zu. Ich sammle Informationen. Vielleicht erhalte ich eines Tages den Anhaltspunkt, auf den ich so lange gewartet habe. Die Information, die Licht in meine dunklen Spekulationen bringt.
Seit ein paar Tagen stehe ich mit Kinderheimen in Kontakt, um die Frage zu klären, ob irgendwo Kinder zum Ausleihen angeboten werden. Einen solchen Service würde ich nur zu gerne in Anspruch nehmen, um der Frau eine Falle zu stellen. Ich würde mich mit einem Kind bewaffnet in die Bahn setzen und warten. Auf das Ansprechen der Dame. Ist es erfolgt, würde ich das Kind umgehend durch das Bahnfenster entsorgen, da es seine Pflicht erfüllt und für mich somit keinen Nutzen mehr hätte.
Und dann? Würde ich die Frau zur Rede stellen? Sie auffordern, mir die Wahrheit zu erzählen? Ihr sagen, was ich von ihrem Verhalten halte? Nein. Natürlich nicht. Ich würde mich bei ihr entschuldigen.
Was geht mich all das überhaupt an? Was bin ich für ein Mensch, der in der Bahn sitzt, Menschen beobachtet, ihr Verhalten analysiert und daraus irgendwelche Schlüsse zieht? Was fällt mir denn ein? Was soll das? Und dann driften diese Analysen auch noch in eine so unangenehme Richtung ab! Je länger ich spekuliere, desto schlimmer wird es. Ein Sorgerechtsstreit? Unfruchtbarkeit? Betrügereien? Was ist denn los mit mir?
Und das ist ja noch nicht einmal alles! Dann erdreiste ich mich auch noch, einen Text darüber zu schreiben. Über die Frau. Über ihr Verhalten. Ich bringe plötzlich andere Menschen dazu, über die Taten einer Frau zu sprechen, die sie noch nie gesehen haben. Von der nicht einmal sicher ist, ob sie überhaupt existiert.
Ich bin Schriftsteller. Das ist meine Ausrede. Sollte mich eines Tages jemand wegen meines Verhaltens zur Rede stellen, würde ich genau das antworten: »Ich bin Schriftsteller.« Ich darf das. Ich bin schließlich immer auf der Suche nach Figuren, die ich in meine Texte einbauen kann. Eine Frau wie die hier beschriebene, stellt ein gefundenes Fressen für mich dar. Durch sie komme ich auf Ideen. Sie sind für mich der Buchumschlag, auf dessen Inneren ich hemmungslos herumschreiben kann.
In der Einleitung meines Buchs »Genürselte Spritzbuben mit Kranzbinden« weise ich darauf hin, dass der Übergang von Wahrheit und Dazugedichte bei mir fließend ist. Was sich wie eine Alltagsbeschreibung liest, kann komplett erfunden sein. Und in den merkwürdigsten Dingen kann mehr Wahrheit stecken, als man denkt.
Das bringt uns zu der wichtigen Frage: Gibt es diese Frau denn nun oder nicht? Habe ich sie je getroffen? Und wenn ja, wie oft? Vielleicht habe ich sie ja nur zweimal gesehen und alles Weitere erfunden, um meine Beobachtungen interessanter zu machen. Vielleicht ist die Frau auch nur eine Vermischung aller Frauen, die während Bahnfahrten mit Kindern anderer Menschen reden, weil sie Kinder so mögen, ich dieses Verhalten aber überhaupt nicht nachvollziehen kann. Oder ist sie wirklich nur erfunden? Oder real? Das Schöne ist doch, dass das gar keine Rolle mehr spielt. Ich habe über die Frau geschrieben. Darum gibt es sie jetzt nun mal. Vermutlich haben ein paar Menschen, während sie meine Interpretationen ihres Verhaltens gelesen haben, eigene angefertigt. Man kann aus dem Material doch noch so viel mehr herausholen. Eine Kindermörderin auf der Suche nach ihrem nächsten Opfer. Eine Psychopathin. Der Krimi schreibt sich doch wie von selbst. Macht es nicht Spaß, über das Verhalten anderer Menschen zu reden und Dinge daraus abzuleiten?
Ja. Macht es. Und dafür würde ich mich gerne bei der Frau entschuldigen. Ich habe Gerüchte über sie in die Welt gesetzt. Vielleicht habe ich sogar sie selbst als Gerücht in die Welt gesetzt. Und das tut mir leid. Eigentlich möchte ich nicht gleich ein ganzes Persönlichkeitsprofil eines Menschen erstellen, dessen Verhalten mir einmal in der Bahn aufgefallen ist. Aber es ist so einfach. Und jeder macht es. Einer geht bei Rot über die Ampel: Das macht der bestimmt immer so. Eine stolpert mit dem Smartphone in der Hand über eine Bordsteinkante: Die guckt bestimmt immer nur auf ihr Telefon. Beobachtung, Schublade auf, Beobachtung rein. Fertig. Das Gegenüber wurde analysiert und eingeschätzt. Das Leben ist von nun an ein bisschen leichter geworden. Ich kenne mein Gegenüber. Dieses muss ab jetzt wiederum durchgängig gegen dieses voreilig erstellte Bild ankämpfen. Meistens vergebens. Der war mal so. Also wird er auch heute noch so sein.
Tja. Ich bin eben Schriftsteller. Ich darf das. Was für eine schöne Ausrede. Ich brauche die Beobachtungen, die Analysen, die Schubladen und die Bequemlichkeiten. So entstehen schließlich meine Figuren. Ich sehe jemanden etwas tun, erfinde unzählige Dinge um sein Verhalten herum und notiere mir all das. Teile sind real. Teile sind erfunden. Am Ende weiß ich selbst nicht mehr, was wahr war und was nicht. Wichtig ist letztendlich nur die Figur. Wichtig ist am Ende nur die Notiz. Aus diesen Notizen entstehen Figuren. Gut, nicht aus allen Notizen. Die meisten von ihnen werden zwar nie Verwendung finden, aber ich habe sie als Inspirationsquellen in meinem Notizbuch verewigt und kann auf sie zugreifen, wenn ich sie doch einmal benötigen sollte. Zum Beispiel für einen Text über das Leben. Einen Text wie diesen.
Manchmal blättere ich durch meine Notizbücher und erinnere mich an diese Figuren. Manchmal klappt das leider nicht. In einigen Fällen weiß ich gar nicht mehr, was ich mit einer bestimmten Notiz eigentlich gemeint habe. Zum Beispiel mit dem Eintrag: »REWE Gurke Typ«, auf den ich vor einigen Tagen stieß. Ich weiß einfach nicht mehr, was für einen Typen ich da im REWE antraf und was er mit einer Gurke angestellt hat. Der Eintrag ist mittlerweile acht Jahre alt. Gut, vielleicht habe ich ihn aber auch nur erfunden, weil ich gerade zu faul bin, meine alten Notizbücher vom Dachboden zu holen und in ihnen nach lustigen, nichtssagenden Einträgen zu suchen. Aber das, so viel solltet Ihr mittlerweile gelernt haben, spielt ebenfalls gar keine Rolle für diesen Text. Wenigstens bin ich ehrlich, indem ich euch auffordere, an allem zu zweifeln, was ich in meinen Texten erzähle. Auch aus dem Typen mit der Gurke werde ich irgendwann mal etwas machen. Wobei ich das ja soeben getan habe.
Kommen wir noch einmal zurück zu der Frau. Die hat sich jetzt mittlerweile einige hundert Wörter voller Entschuldigungen von mir anhören müssen und weiß nicht so recht, wie sie damit umgehen soll. Dass ich ein Kind aus der Bahn geworfen habe, trägt sie immerhin mit Fassung. Wir reden noch ein wenig, bis ich anmerke, dass sie an der nächsten Station aussteigen muss. Sie wundert sich kurz, woher ich das weiß, doch dann fällt ihr ein, dass ich sie wochenlang belauscht habe. Ich will mich erneut entschuldigen, doch sie winkt ab. Es reicht. Ihr ist das alles total egal. Sie will sich mir gegenüber nicht einmal rechtfertigen. Wofür ich sie bewundere. Diese Frau ist wirklich faszinierend. Ich bin beeindruckt. Und dann fällt mir etwas ein.
Schnell zücke ich mein Notizbuch. Während ich Seite für Seite überfliege, erzähle ich ihr, dass ich mal während des Lesens eines Artikels über das Leben einer Wissenschaftlerin auf einen Satz gestoßen bin, den ich herrlich zweideutig fand. Ich bitte sie darum, ihn sich anzuhören und mir ihre Meinung mitzuteilen. Die Frau verneint. Sie müsse jetzt wirklich los. Sie dürfe ihre Station nicht verpassen. Ich nicke. Bestätigend. Verständnisvoll. Und ihr zum Abschied. Sie steht auf, nickt zurück und geht. Mehr brauchen wir nicht. Wir werden uns wiedersehen. Donnerstag. Um acht Uhr. Wie immer.
Einige Minuten später finde ich den gesuchten Eintrag. Ich lese ihn ein paarmal und muss grinsen. Er lautet:
»Ihr Kind brachte sie per Kaiserschnitt zur Welt.«
Vielleicht ist das ja die Lösung. Vielleicht wurde die Frau von ihrem eigenen Kind per Kaiserschnitt auf die Welt gebracht.
Bin ich dann das Kind?