Gestern kam das über mich, auf das man als Mensch des Schreibens den ganzen Tag über wartet. Während ich auf meinem Sofa saß, meine Ideen verfolgte und vergeblich versuchte, eine Gute zu fangen, zu fesseln und auf ein Blatt Papier zu bannen, sah ich sie plötzlich: Sie hatte sich von der Gruppe gelöst und mich anscheinend noch gar nicht bemerkt. Sie graste ruhig und friedlich auf einer Anhöhe und gab sich vom panischen Geschehen um sie herum vollkommen unbeeindruckt.
Unbeeindruckt war ich dagegen absolut nicht. Ich war angespannt und zugleich konzentriert. Ich wusste, dass dies heute vielleicht meine letzte Chance war, eine von ihnen zu fangen und zu bändigen. Ich fokussierte mich nur noch auf das Erreichen meines Ziels. Jetzt oder nie. Schreiben oder nicht schreiben.
Langsam näherte ich mich meinem Opfer. Sie hatte mich noch immer nicht bemerkt. Oder ich war ihr so egal, wie mir ihr Grund nicht wegzulaufen. Ich bin kein Psychologe. Ich bin Jäger. Erspähe ich eine gute Idee, muss ich sie jagen. Vor allem, wenn sie es mir so leicht macht, wie mein Gegenüber. Selbst als ich nur noch wenige Meter von ihr entfernt war, gab sie kein Zeichen einer Regung von sich. Sie stand einfach nur da und kaute auf dem sich zuvor ins Maul gestopfte Gras. Ich ergriff meine Chance und stürmte los.
Problemlos bekam ich sie zu packen. Sie hatte noch immer kein Interesse daran, vor mir zu fliehen, sich zu wehren oder auch nur den Hauch einer Reaktion zu zeigen. Ein wenig beleidigt war ich schon. Traute sie mir etwa nichts zu? Egal. Ich hatte sie. Sie gehörte mir und ich griff zu Stift und Papier.
Worte strömten aus meiner Hand, drangen in den Stift ein und flossen dort als Buchstaben wieder heraus. Ich fühlte mich wie ein Vogel, der sich vom Wind treiben ließ. Ich musste nicht mehr viel tun, ich konnte die Worte strömen lassen. Worte, die mich schon bei ihrer ersten Niederschrift schmunzeln ließen. Es kam mir so vor, als hätte ich diesen Text schon einmal geschrieben. Als würde ich ihn lediglich kopieren. Ich kannte jedes Wort, ich wusste, wo ich hin wollte und ich kannte den Weg zum Ziel. Ein Traum wurde wahr.
In diesem Moment hielt ich inne. Ich ließ mein Opfer los. Noch immer ließ es keinerlei Regung erkennen. Noch immer kaute es auf seinem Gras und tat, als wäre nichts gewesen. Nein. Nicht, als wäre nichts gewesen. Es schien ihm so zu ergehen, wie mir in diesem Augenblick. Es wusste bereits, was sich hier abspielte. Ja, es wusste Bescheid.
Und dann sah ich sie, ich sah die Markierung. Tatsächlich. Mein Name. Ich musste das Fell erst ein wenig zur Seite kämmen, um ihn genau erkennen zu können, doch jetzt stand er deutlich vor mir. Ich bin schon einmal hier gewesen. Der Länge des neu gewachsenen Fells nach zu urteilen sogar vor langer Zeit. Hatte ich es tatsächlich vergessen? Hatte ich allen Ernstes vergessen, dass ich dieser Idee vor vielen Jahren schon einmal nachgegangen bin? Hatte ich wirklich bereits Seiten zu diesem Thema beschrieben? Genau so, wie ich es gerade tat?
Erschrocken fuhr ich vom Sofa hoch und rannte in mein Archiv. Es dauerte einige Minuten, bis ich fündig wurde. Dann hielt ich ihn in der Hand. Meinen Text von damals. Und mir wurde bewusst, dass ich älter geworden bin. Älter und vergesslicher. Ich setzte mich wieder auf mein Sofa und begann zu weinen.