Früher errichtete man ein Schloss immer am Ende eines Tales. Darum nannte man die Dinger auch “Schlösser”. Sie schlossen das Tal ab. Hatte man vor der Namensgebung den Erfinder des Türschlosses gefragt, ob er mit dieser einverstanden war? Nein. Hatte man nicht. Das behaupte ich an dieser Stelle zumindest auf kühnste und vor allem unbelegte Art und Weise und lenke von dieser Tatsache mit einer Folgefrage ab: Hätte der Erfinder des Türschlosses ahnen können, dass man den Begriff für seinen erfundenen Gegenstand nutzen würde, um ein Gebäude zu benennen? Nein.
Dieses Fragespiel kann noch weitergeführt werden. Hätten die Erfinder der Schlösser, einmal des Schlosses für die Tür und einmal des Schlosses für das Tal, wiederum ahnen können, dass irgendwann ein paar Menschen Lebens- und Liebesfreude daraus ziehen würden, Schlösser, und diesmal meine ich speziell die Vorhängeschlösser, an Metallgeländer zu hängen und als Symbole für Liebesbekundungen zu nutzen? Nein.
Oder? Das Vorhängeschloss hält zwei Dinge zusammen. Zwei Enden einer Kette. Die Kiste und ihren Deckel. Die Tür und den Namen. In Haushalten, die Wert auf eine besondere Innenausstattung legen, sogar die zwei namensgebenden Vorhänge. Das Vorhängeschloss hält aber nicht nur zusammen wie eine Fußballmannschaft, deren Mitglieder sich total gern haben, sondern schützt gleichzeitig vor dem Eingriff unbefugter Rabauken. Dass ein solcher Gegenstand schon bald als Symbol für eine Beziehung herhalten musste, ist doch eigentlich offensichtlich und hätte somit geahnt werden müssen. Oder? Nein.
In der Regel lautet die Antwort auf die Frage “Hätte man das ahnen können”, wenn man genau darüber nachdenkt und ehrlich zu sich selbst ist: “Nein.” Ein Beispiel: Einmal lief ein älterer Herr an mir vorbei, als ich auf einer Mauer auf dem Frankfurter Universitätsgelände saß, Musik hörte und Kaffee trank. Ich genoss die Ruhe und die Sonne und schien einen recht entspannten Eindruck zu hinterlassen. Zumindest sagte das der nette Mann zu mir. “Na, Sie sehen ja entspannt aus.” Ich nickte ihm mit einem freundlichen Grinsen zu und hob meinen Kaffeebecher, als würde ich ihm zuprosten. Er blieb noch etwa zehn Minuten vor mir stehen und starrte mich bewundernd an. So entspannt war ich. Nicht einmal das Gestarre konnte mich nervös machen. Auch, als der ältere Herr sich nach den zehn Minuten rappend in die Lüfte erhob und gen Sonne flog, blieb ich entspannt. Der Mann war mir sympathisch. Es war ein schöner Moment. Ich überlegte, ob ich diesen wundervollen Mann nicht irgendwie in meine Familie aufnehmen, ihn zu meinem selbsternannten dritten Opa machen, ihn in den Kreis meiner Ahnen aufnehmen konnte. Ich befragte das Internet und erhielt prompt eine Antwort. Würde ich ihn ahnen können? Nein.
“Hätte man es ahnen können?” ist ein Blick zurück. Der Blick zurück auf ein Ereignis, dessen Eintreffen mit Hilfe der Frage rekonstruiert werden soll. Hätte man, sieht man sich meine Ahnen an, ahnen können, was ich für ein Mensch werde? Hätte man, sieht man sich die Ahnen eines Ereignisses an, ahnen können, dass es eintritt? Nur zu gerne pickt man sich im Blick zurück genau die Dinge heraus, die zum analysierten Ereignis passen und konstruiert daraus eine Abfolge, deren Endprodukt das besprochene Ereignis darstellt und den Eindruck erweckt, es hätte nicht anders kommen können. Dabei ignoriert man alles, was nicht passt. Mein Vater ist ein sehr sportlicher Mann. Ich nicht. Hätte man das ahnen können? Selbstverständlich nicht. Das Vererben von Merkmalen ist nicht so einfach, wie ich es hier darstelle. Die Entwicklung eines Menschen ebenfalls nicht. Doch was ist schon einfach? Der Ausbruch eines Krieges? Einer Weltwirtschaftskrise?
Hätte man ahnen können, dass ein Junge von einer Brücke springt und sich so das Leben nimmt? Im Blick zurück erkennt man vermutlich ein paar Zeichen, die es angekündigt haben. Die gleichen Zeichen findet man aber auch bei Menschen, die sich nicht umgebracht haben. Und dann sind da noch die vielen Bekannten des Jungen, die sagen: “Wir hatten ja keine Ahnung, dass es so schlimm um ihn steht.” Man hatte keine Ahnung. Niemand ahnte es. Nicht einmal die Ahnen des Jungen.
Was bringt er also, der Blick zurück? Man kann versuchen, aus der Vergangenheit Erkenntnisse für die Zukunft zu ziehen. “Hätte ich damals anders gehandelt, wäre ich heute besser dran. Stehe ich ein weiteres Mal vor einer Entscheidung dieser Art, weiß ich, was ich zu tun habe.” Ist das besser? Etwas hat früher nicht funktioniert, darum muss ich es heute gar nicht erst versuchen? Das Veröffentlichen eines Buches im Selbstverlag war vor 20 Jahren nichts Erfolgsversprechendes. Darum muss ich es heute nicht probieren? Oder etwa doch? Weil die Situation unglaublich komplex ist und Dinge eine Rolle spielen können, an die man, wenn man lediglich an der Oberfläche kratzt, gar nicht denkt? Weil sich Situationen in der Geschichte nie eins zu eins wiederholen? Ein Buch im Selbstverlag zu veröffentlichen hat heute ganz andere Vor- und Nachteile als früher. Die Welt verändert sich. Es gibt keine Wiederholungen.
Noch einmal: Sollte man etwas lassen, weil es früher einmal nicht geklappt hat? Sollte man etwas machen, weil es früher einmal geklappt hat? Diese und viele weitere Fragen haben immer die gleiche Antwort: Nein. Die Vergangenheit sollte uns keine Entscheidungen abnehmen. Sie kann auf Probleme hinweisen, die früher einmal aufgetreten sind, doch können diese heute möglicherweise gar nicht mehr bestehen oder ihre Relevanz verloren haben. Sie kann uns gleichzeitig zu etwas motivieren, was heutzutage unmöglich ist. Weil es früher funktioniert hat. Es ist viel wichtiger, eine Entscheidung ohne den Blick zurück zu treffen. Zu versuchen, die Situation so gut wie möglich in ihrer vollen Gänze zu erfassen und erst dann zu handeln.
Selbstverständlich fällt das nicht jedem so leicht, wie mir das Schreiben dieser Zeilen. Doch gebe ich zu bedenken, dass mir das Schreiben dieser Zeilen gar nicht leicht gefallen ist, sondern ich diesen Text mehrere Tage lang vor mir hergeschoben habe. Doch hat all das wiederum nichts mit dem Thema dieses Textes zu tun. Oder etwa doch? Natürlich hat es das. Nur durch mein Rumgeschiebe ist er letztendlich so geworden, wie er ist. Hätte man das ahnen können? Wenn in zehn Jahren jemand zu mir “Mensch, dieser Text gehört zu den besten, die du je geschrieben hast!” sagt, kann ich dann mit “Dass du das sagen würdest, ahnte ich bereits. Ich habe den Text damals oft vor mir hergeschoben. Der letzte Text, bei dem ich genauso vorging, löste die gleiche Reaktion bei dir aus. Kein Wunder also, dass du so etwas von dir gibst.” antworten? Oder passt die Antwort nicht auch zu einer kritikerfüllteren Einschätzung meines Textes? Wird der nächste Text, bei dem ich mir so viel Zeit lasse, bei der gleichen Person die gleiche Reaktion hervorrufen? Und wenn ja, kann das nicht auch Zufall sein? Oder andere Gründe haben? Möglicherweise wurden beide Texte bei strahlendem Sonnenschein auf einer Mauer sitzend und Kaffee schlürfend gelesen, während einen minutenlang ein alter Mann anstarrt. Kein Wunder, dass die beiden Texte in so guter Erinnerung blieben. Nur spielt die Zeit, die ich mir beim Schreiben ließ, in dieser Situation überhaupt keine Rolle, obwohl ich es mir dank beschränktem Blick zurück problemlos einreden kann.
Ein Wort wie “Schloss” haben wir in der Grundschule übrigens immer “Teekesselchen” genannt. Ein Teekesselchen war ein Wort mit zwei Bedeutungen. Ein Wort wie “Bank”. Oder “Tau”. Oder “Schale”. Oder “Flügel”. Oder eben “Ahnen”. Na gut, ich gebe es zu. DIESES recht unzusammenhängende und plötzliche Ende hätte man tatsächlich ahnen können.