Wenn ich mit der Bahn zur Universität fahre, habe ich in Bad Vilbel aktuell zwei Möglichkeiten: Entweder nehme ich die Bahn, mit der ich eine knappe halbe Stunde zu früh im Seminarraum sitze, oder ich nehme die Bahn, mit der ich recht pünktlich am Zielort ankomme. Die hier genannten Zeiten stellen selbstverständlich für ein einfaches Textverständnis gerundete Zahlen dar, in die ein wenig mit einfließt, dass die Züge in Bad Vilbel regelmäßig fünf Minuten Verspätung haben. Aber keine Angst, langweilige Bahngeschichten können andere Menschen viel besser als ich zum Besten geben. Ich nutze diesen Aufhänger lediglich, um zu erklären, warum ich an einem ganz bestimmten Tag wegen einer Bombe nicht zur Uni fuhr, sondern auf halber Strecke umkehrte, um ein Lied zu schreiben, das niemals fertig wurde, da es gar keine Bombe gab.
So saß ich also fröhlich in der Bahn und freute mich darüber, schon bald ein intelligenterer Mensch zu werden. Das ist doch schließlich der Grund für den Besuch einer Universität, oder? Klar, kostenlos durch ganz Hessen und Umgebung mit der Bahn fahren zu können ist auch eine feine Sache, doch seien wir realistisch: Bahnfahrten machen selten intelligent. Dafür liefern sie vielen Menschen Stoff für langweilige Geschichten. Mir nicht. Ich war in ein Buch vertieft. Ein Buch über Hundeerziehung. Weil ich jetzt einen Hund habe und somit zu einem dieser Menschen geworden bin, die Hundebücher in der Bahn lesen. Manchmal verabscheue ich mich übrigens selbst. Aber nicht so sehr wie Menschen, die über Bahngeschichten schreiben.
Für meine Nichtbahngeschichte ist es immens wichtig zu erwähnen, dass ich in einer Bahn saß. Warum? Nun, Züge haben eine besondere Eigenschaft: Wenn sie außerplanmäßig mitten auf der Strecke halten, darf man sie nicht einfach so verlassen. Steht ein Bus in einem unauflöslichen Stau fest, öffnet der Fahrer die Türen und entlässt seine Passagiere in die Freiheit. Zugfahrer dürfen so etwas nicht so einfach tun. Das ärgerte mich an dem Tag, an dem meine Geschichte spielte, sehr, da mein Zug plötzlich einfach stehen blieb und nicht mehr weiterfuhr. Ich saß in einer U-Bahn, die sich zwischen zwei Stationen befand. An Aussteigen war nicht zu denken. So verbrachte ich etwa eine Viertelstunde in einem stillstehenden Zug und nahm wichtige Informationen über Hunde auf. Wusstet ihr, dass man Hunde nicht umarmen sollte? Nein? Tja. Dann wisst ihr das jetzt.
Was ich dann irgendwann ebenfalls wusste: Dass der Zug aus nicht ganz klaren Gründen nicht weiterfahren durfte. Man wollte versuchen, uns zur nächsten Station zu bringen, damit wir den Zug verlassen konnten. Das hielt ich für sehr freundlich. Da ich mich von den zwei in der Einleitung beschriebenen Zügen für den entschieden hatte, der ziemlich genau pünktlich an der Universität ankam, konnte ich die Verspätung bereits als gegeben hinnehmen. Als wir dann nach fünfzehn Minuten die Bahn verlassen konnten, wurde mir schnell klar, dass mein Ziel noch in weiter Ferne lag.
Ich stand an der Kreuzung Eschersheimer Landstraße und Hügelstraße und war umringt von Sirenen. Polizeiauto um Polizeiauto fuhr neben mir her. Über mir kreiste ein Helikopter. Gaffer standen herum und gafften. Menschen mit Kinderwagen kamen nicht mehr vorwärts, weil Menschen, die alles ganz genau sehen wollten, den Bürgersteig blockierten. Die Spur Richtung Innenstadt auf der Eschersheimer Landstraße war abgesperrt worden. Als Fußgänger war hier kein Durchkommen mehr. Ich wechselte die Straßenseite, traf dort einen Bekannten und unterhielt mich mit ihm. Dies war der Moment, als das Wort “Bombendrohung” fiel.
Nun ist eine Bombendrohung an sich keine lustige Angelegenheit, da aus einer Drohung schnell Ernst werden kann. Ich dachte aber darüber nach, welcher Laden an dieser speziellen Stelle der Eschersheimer Landstraße bombenbedrohungswürdig wäre. Wir reden hier von Geschäften wie einem kleinen Buchladen, einer kleinen Sparkasse oder einer kleinen Metzgerei, die vor allem das Wörtchen “klein” gemeinsam haben. Ich konnte mir einfach nicht erklären, warum man einen Buchladen in die Luft sprengen wollte. Eine Metzgerei? Nun, man würde auf jeden Fall eine ziemlich unangenehme Sauerei verursachen. Aber warum? Die hier ausgestellten Tiere waren bereits tot. Tierschützer kamen zu spät und Tierhasser fanden nichts mehr, was es noch zu hassen gab. Vegetarier? Veganer? Möglichkeiten. Unwahrscheinliche Möglichkeiten. Blieb die Sparkasse. Oder die Wohnungen über den Geschäften?
Man fängt schnell an, sich in Situationen wie diesen Gedanken zu machen. Gehe ich nun zur Uni oder nicht? Der Weg führte mich an dem bedrohten Ort vorbei. Wenn in dem Moment, an dem ich dort vorbeigehe, nun die Bombe explodiert… wollte ich das riskieren? Gedanken dieser Art sind so furchtbar anstrengen, dass ich tatsächlich das Wort “furchtbar” verwende, um sie zu beschreiben. “Furchtbar” ist das Lieblingswort von Menschen, die über ihre Bahnerlebnisse berichten, da sie nichts lieber tun, als Wörter falsch verwenden. Wie auch immer: Ich ließ meine Gedanken nicht weiter in Richtung Panik driften, sondern holte sie zurück auf den Boden der Tatsachen. Die Geschichte mit der Bombendrohung hatte ich lediglich hier und da aufgeschnappt, meistens mit den beigefügten Worten “Aber ich weiß nichts Genaueres”. Das reichte meiner Meinung nach nicht aus, um irgendwelche Schlüsse zu ziehen.
Ich stand an einer Ampel, um eine Straße zu überqueren, als ich weitere Gesprächsfetzen aufschnappte. Man hätte bereits in der Früh ein paar auffällige Leute an einer Tankstelle gesehen. In diesem Moment erkannte ich, dass ich mich hier in einem riesigen Wust aus Klatsch und Tratsch befand, dessen Verursacher das Wort “Wust” vermutlich so selten verwenden, dass sie zunächst “Wurst” gelesen haben und sich wunderten, wie so eine Wurst aus Klatsch und Tratsch wohl schmeckt. Und wann sie im hiesigen Supermarkt runtergesetzt als Schnäppchen erworben werden kann. Darauf hatte ich keine Lust. Und das sagt jemand, der sehr gerne Wurst isst.
Also beschloss ist, zu Fuß zur Uni zu gehen. Voller Tatendrang machte ich mich auf den Weg und dachte daran, was mein Fitnessarmband durch meine Tat am heutigen Tag wohl für Höchstleistungen in der Endabrechnung anzeigen würde. Was für ein wundervolles Leben ich doch führe. Überwacht auf Schritt und Tritt. Kann man sicherer durch ein Gebiet voller Bomben stolzieren? Vermutlich nicht. Ich begann zu grinsen, griff zu meinem Notizbuch und begann, mir den Text für das Lied über den heutigen Tag auszudenken. Schließlich brauchen Tage, an denen schlimme Dinge passieren, ein Lied, das den Menschen dabei hilft, die tragischen Ereignisse zu verarbeiten. Diesmal wollte ich derjenige sein, dessen Lied als erstes durch die trauernden Anlagen der Welt ertönt.
Ich hatte bereits drei Zeilen in meinem Notizbuch untergebracht, als ich von einem Polizeiauto aus meinen Gedanken gerissen wurde. Das Auto trug riesige Lautsprecher auf dem Dach, aus dem eine Durchsage ertönte. Man informierte die Bevölkerung über das Geschehene:
Ein Mann hatte die von mir bereits erwähnte, kleine Sparkasse überfallen. Währenddessen hatte er ein Paket auf dem Boden der Sparkasse platziert und behauptet, dass es sich hierbei um eine Bombe handelte. Nach der Tat floh er, ließ jedoch die Bombe liegen. Die Polizei suchte diesen Mann. Es gab eine Täterbeschreibung und ein paar warnende Worte.
Tja. Das war nun keine Bombendrohung im klassischen Sinne. Das Ganze hatte ja nicht einmal etwas mit Terroristen zu tun. Nachdem ich dies erfahren hatte, stellte ich mein Geschreibe ein. Der Überfall auf eine Sparkasse war nun wirklich nicht das Großereignis, das mit einem Lied untermalt werden musste. “Weißt du noch, als die Sparkasse in Frankfurt überfallen wurde? Wo warst du an dem Tag, als es geschah?” “Ich war gerade auf Schnäppchenjagt im Supermarkt, als ich davon erfuhr. Abends saß ich dann vor meinem Schallplattenspieler und hörte Himmens “Ode an das Unglück”. Was für ein Tag.” Dialoge dieser Art hielt ich für so unwahrscheinlich, dass ich mein Lied nicht beendete. Stattdessen erkannte ich, dass das mit dem sogenannten Schienenersatzverkehr nicht funktionierte und ich vermutlich mit einer Verspätung von über einer Stunde an der Universität eintreffen würde. Bei einem Seminar mit einer Dauer von neunzig Minuten hielt ich es für angebrachter, umzukehren und wieder nach Hause zu fahren.
Zu Hause erfuhr ich dann sogar, dass die Bombe gar keine richtige Bombe gewesen war. Von einer Enttäuschung zu sprechen wäre jetzt selbstverständlich absoluter Blödsinn. Niemand wurde verletzt, die Betroffenen kamen mit dem Schrecken davon und ich bin lediglich ein kleines bisschen weniger intelligent geworden. Dafür hatte ich es immerhin geschafft, den Tag ohne einen Bahntext hinter mich zu bringen. Nur meinem Lied trauere ich ein wenig hinterher. Ich glaube, es wäre sehr gut geworden.