Er sah den Tritt auf sich zukommen und wusste, dass er ihm nicht mehr ausweichen konnte. Dafür war es bereits zu spät. Auch für eine Schutzhaltung oder die Abwehr des Ganzen blieb keine Zeit mehr. Er konnte sich nur noch seelisch auf das Unvermeidbare einstellen: den Aufprall.
Dieser ließ nicht lange auf sich warten. Zwar gibt es Momente, in denen einem Sekunden wie Minuten vorkommen, doch auch die längste Zeitdehnung findet irgendwann ein Ende. In diesem Fall ein äußerst schmerzhaftes Ende.
Noch bevor der Tritt sein Ziel, also ihn, erreicht hatte, stellte er sich vor, welch Schmerz ihn in wenigen Sekunden übermannen und seine Gedanken vollständig in seinen Bann ziehen würde. Ein unvorstellbarer Schmerz. Ein Schmerz, den man gerne vermeiden würde. Aber trifft das nicht irgendwie auf jeden Schmerz zu? Welchen Schmerz empfängt man schon mit offenen Armen? Schmerz ist etwas das vermieden werden, dem ausgewichen werden sollte. Doch war das eben leider nicht mehr möglich.
Als der Tritt sein Ziel traf, ging ein Ruck durch seinen Sack. Zunächst war lediglich eine leichte Vibration zu spüren, die sich langsam vom Hoden aus ausbreitete. Langsam ist hier selbstverständlich wieder einmal nicht wörtlich zu nehmen. Ihm kam es vor, als würde sein Körper sich für einen kurzen Augenblick weigern, den Schmerz anzunehmen und in eine Reaktion umzusetzen. Das freute ihn zwar, diese Freude hielt aber nur für einen kurzen Moment an. Leider hatte sein Körper keine andere Wahl. Nach dem Ruck folgte Vibration und dann war er endlich da. Der Schmerz.
Obwohl seine Füße knapp über einen halben Meter voneinander entfernt waren, berührten sich plötzlich seine Knie. Er hatte die Kontrolle über seinen Körper verloren. Die Reflexe übernahmen sein Handeln, und sie riegelten untenrum ab. Es war, als hätte jemand “Macht die Schotten dicht!” gerufen. Jemand, der seine Oberschenkel steuerte. Die machten sich selbstständig. Als die Knie ins Schloss fielen, fiel auch er. Nach vorne. Richtung Boden. Er landete auf den Knien und nur kurze Zeit später auf der Nase.
Normalerweise streckt man, wenn man nach vorne fällt, die Hände in Richtung Boden aus, um den Sturz abzubremsen. Die Hände dachten aber nicht im Traum daran, dieser Regel Folge zu leisten. Sie folgten viel lieber dem Ruf nach geschlossenen Schotten. Die Knie reichten nicht. Die Hände mussten über den Genitalbereich gelegt werden. Warum? Aus dem gleichen Grund, aus dem man die Hände auf die Stirn legt, wenn man mit dieser gegen einen Laternenpfosten rennt. Oder auf den Bauch, wenn man mal wieder den ganzen Tag nichts anderes als Billigfertigkuchen gegessen hat. Hände gehören auf den unmittelbaren Schmerz und nicht auf den sich anbahnenden. Der Boden lag in ferner Zukunft. Der Hoden tat jetzt weh. Vielleicht noch schnell ein paar Worte der Auflockerung: Wann kann man sich schon einmal in den Schritt fassen, ohne dass es einem übelgenommen wird?
Als er den Boden erreichte, brach zunächst seine Nase und daraufhin er. Ersteres geschah aufgrund der Wucht des unabgefangenen Aufpralls, letzteres wiederum aufgrund der Tatsache, dass einem Mann unglaublich schlecht wird, wenn man ihm mit voller Wucht in den Sack tritt.
Er wusste nicht, was für eine Flüssigkeit ihm da gerade in die Augen geflossen kam. Blut? Magensäure? Der Frühstückskaffee von vor einer Stunde? Schwer zu erkennen, wenn man nichts sehen kann. Aber eigentlich interessierte ihn das auch gar nicht mehr. Nichts sehen zu können gehörte gerade zu seinen geringsten Problemen. Er hatte furchtbare Schmerzen, wollte Schreien, konnte aber nicht, weil ihm Teile seines Frühstücks im Hals steckten und sich nicht entscheiden konnten, ob sie sich wieder zurück in den Magen oder doch lieber an die frische Luft begeben sollten. Als sie sich letztendlich für die frische Luft entschieden, hatte er sein Verlangen nach Geschrei bereits vergessen.
Wenigstens konnte er wieder etwas sehen. Die Tränen hatten ihm sowohl das Blut als auch das Erbrochene aus den Augen gespült. Ja, die klare Sicht hatte wenigstens dieses Mysterium gelöst. Wundervoll. Nun konnte er beruhigt sterben. Und das wollte er auch. Und wie er das wollte. Er war bereit. Langsam verließ er die Fötusstellung, in der er es sich gerade auf dem Steinboden bequem gemacht hatte, drehte sich auf den Rücken, schaute nach oben in den Himmel und bat darum, ihm einen Engel zu schicken, der ihn in sein neues Zuhause mitnahm. Wurden Tote überhaupt von Engeln abgeholt? Hing vermutlich vom Glauben ab. Er war für jedwedes Angebot offen, doch niemand unterbreitete ihm eines. Wo sind nur all die Straßenprediger, wenn man sie einmal braucht? Man ließ ihn liegen und kein Engel sich blicken.
Dafür nahm der Schmerz ein wenig ab. Sein noch immer verschwommener Blick wurde klarer. Er sah sich um. Rechts neben ihm stand eine alte Frau und schimpfte. Sie hielt eine braune Handtasche in der Hand. Diese verdammte Handtasche. Warum nur hatte er sich ausgerechnet für diese entschieden?