Genürsel 2013 – 10/52 – Höhle

Genürsel 2013 - 10/52 - Höhle

Du meine Güte. Wie sieht es hier denn aus. In diesem Teil meiner Höhle war ich aber lange nicht mehr. Erst mal eine Fackel anzünden. Das Licht hilft. Zwar führt es einen unerbittlichen Krieg gegen die Dunkelheit, doch ich bin mir sicher, dass es diesen in den nächsten Minuten nicht verlieren wird. Zeit, sich umzusehen.

Dort hinten steht eine Kiste. Ich weiß genau, was sich in ihr befindet. Hass. Besserwisserei. Gemecker. Man könnte sagen, dass diese Kiste das Fundament meiner aktuellen Lieblingsbeschäftigung darstellt. Trotzdem habe ich sie verschlossen. In der Hoffnung, sie nie wieder öffnen zu müssen. Ja, die Erinnerungen werde ich wohl niemals loswerden und ich habe dem Inhalt der Kiste viel zu verdanken, doch letztendlich bin ich froh, all den Ballast abgelegt zu haben.

Damit sich die Kiste nicht durch einen plötzlichen Luftzug von selbst öffnet, habe ich den Deckel mit einem Buch beschwert. Das Buch ist nicht besonders dick, spielte aber eine tragende Rolle in meinem Leben. Mit ihm habe ich diesen Lebensabschnitt beendet. Sein fast vollständig weißer Deckel reflektiert das Fackellicht und es scheint fast so, als würde es mich traurig angucken. Oder ist es wütend? Wer weiß. Bücher können nicht reden. Obwohl sie einem viel über jemanden erzählen können.

Letztendlich habe ich die Kiste jedoch hinter mir gelassen. Im häufiger genutzten Bereich meiner Höhle steht nun eine neue Kiste, gefüllt mit Gelächter, Spaß und Chaos. Sie bildet eine Art Gegenbewegung zu meinem damaligen Lebensmittelpunkt. Kritisieren ist leicht. Spaß haben und diesen verbreiten dagegen nicht. Schön, dass es mir nach all den Jahren endlich gelungen ist, diese Richtung einzuschlagen und einigermaßen zu beherrschen.

In diesem Moment blendet mich ein grelles Licht. Es kommt aus der Wand direkt neben mir. Dies ist meine ganz persönliche Wand. An ihr befestige ich die Dinge, auf die ich stolz bin. Meine soeben gemachte Äußerung hat einen neuen Punkt an ihr erschaffen. Für einen kurzen Moment ist mir diese Wand peinlich. Aber zum Glück nicht lange. Ich stehe dazu: Ich bin stolz auf manche Dinge, die ich in meinem Leben erschaffen habe. Und wenn ich stolz auf etwas bin, dann möchte ich es so vielen Personen wie möglich zeigen.

Leider wird man schnell als eingebildeter Angeber bezeichnet, wenn man gut über selbsterschaffene Dinge spricht. Oder eigene Fähigkeiten lobt. Es scheint fast so, als müsse man sich heutzutage zwanghaft schlecht machen. “Da bin ich nicht gut drin.” “Das habe ich nie verstanden.” “Ich kann das noch weniger als du.” Immer und immer wieder höre ich solche Aussagen und habe das Gefühl, dass der Wettstreit um die eigenen Fähigkeiten mittlerweile in die falsche Richtung geführt wird und man stolz auf das ist, was man nicht kann.

Und dann komme ich um die Ecke. Stolz erzähle ich von einem meiner Texte. Einer Idee. Einem Buch. “Ich finde das gut.”, sage ich. “Uuuuh! DU findest das gut!”, höre ich. Sofort überlege ich, was ich falsch gemacht habe. Ich habe gut über mich gesprochen. Zwar war es nicht meine Absicht, anzugeben, dennoch kam es so rüber. Weil man immer angibt, wenn man etwas selbsterschaffenes mag. Diese Momente waren mir früher peinlich. Mittlerweile kommentiere ich sie nicht einmal mehr. Ich stehe zu meinen Leistungen. Ich kann mir genauso gut eingestehen, wenn ich etwas falsch oder schlecht gemacht habe. Nur, weil ich hin und wieder geradeaus fahre heißt das doch nicht, dass ich den Rückwärtsgang vergessen habe.

Ich wende mich von meiner Wand ab, trete auf ein Skateboard, stolpere und lande mit meinem Hosenboden auf dem Höhlenboden. Wie lange stand ich eigentlich nicht mehr auf einem Skateboard? Ich würde nie behaupten, ein solches Gefährt jemals richtig beherrscht zu haben. Aber ich wusste, wie man mit den Dingern Spaß haben konnte. Schmerzhaften Spaß. Leider liegt meine letzte richtige Skateboardtour mittlerweile schon viele Jahre zurück. Was Entfernungen doch so anrichten können.

Ich lege das Skateboard auf einen großen Haufen Zeug, der sich mitten in meiner Höhle befindet. Unsortierte Dinge, die ich irgendwann einmal benutzt habe. Und gut fand. Oder auch nicht. Das hier anzutreffende Chaos ist manchmal überwältigend. Aber auch genauso wichtig für mich.

Hinter dem Haufen steht ein Schreibtisch. Auf ihm liegt ein Buch voller Fotos meiner Freunde. Wobei Freunde hier gar nicht zutrifft. Zwar bezeichnet man die hier gesammelten Gesichter als “Freunde”, mit vielen stehe ich aber gar nicht mehr in Kontakt. Das ist auch der Grund dafür, warum ich dieses Buch so selten aufschlage, geschweige denn in die Hand nehme. Ich habe schnell herausgefunden, dass ich für Bücher dieser Art nicht geschaffen bin. Neben dem Buch liegt ein Taschenrechner. Das “+”-Symbol ist ziemlich abgenutzt. Man kann es kaum noch erkennen. Doch auch auf dieser Taste liegt eine dicke Staubschicht. Am Rande des Tisches sitzt ein kleiner Vogel und schaut mich an. Er zwitschert vor sich her. Mal fröhlich, mal wütend, mal laut, mal leise. Tatsächlich still ist er aber nie. Ich habe mich an seine Laute gewöhnt. Um ehrlich zu sein bekomme ich sie schon gar nicht mehr richtig mit. Nur hin und wieder unterhalte ich mich noch mit meinem kleinen, gefiederten Freund. Oft habe ich Spaß dabei. Von den drei Dingen auf dem Tisch mag ich ihn noch am liebsten. Manchmal geht mir sein Gezwitscher aber auch auf die Nerven. Dann ignoriere ich ihn einfach für ein paar Tage. Schwergefallen ist mir das noch nie.

Schließlich bin ich gerne für mich alleine. Das heißt nicht, dass ich niemanden um mich haben möchte. Jedoch lasse ich Treffen lieber in meinen eigenen vier Wänden stattfinden. Das ist wie bei einer Ausstellung. Wenn ich meine Sachen zwischen die von anderen stelle, gehen sie schnell in der Masse unter. Errichte ich jedoch einen Ort, an dem ich ihnen genügend Platz lasse und sie angemessen präsentiere, dann habe nicht nur ich etwas davon, sondern auch meine Besucher. Sie können mich gezielt aufsuchen und für sich entscheiden, ob sie gerade Lust auf meine Anwesenheit und produzierten Dinge haben oder nicht. Wenn nicht, bleiben sie meiner Ausstellung einfach fern. Wenn sie aber Lust auf grelles, gelbes Licht und absurde Unterhaltungen haben, dann können sie mich jederzeit besuchen.

Die Fackel verliert an Leuchtkraft. Der Krieg neigt sich dem Ende zu. Ich wende mich vom hinteren Höhlenbereich ab. Zeit, meine Höhle zu verlassen. Ich verbringe viel zu viel Zeit damit, mich in sie zurückzuziehen. Hin und wieder muss man sich auch mal draußen sehen lassen. In der Nähe des Ausgangs steht ein riesiger Spiegel. Er ist im Laufe der letzten Wochen immer größer geworden. Ich stehe immer häufiger vor diesem Spiegel. Aber nicht aus Eitelkeit. Das Interesse an dem, was andere über mein Äußeres denken, ist fast vollständig verschwunden. Mittlerweile habe ich sogar meine Frisur abgelegt und trage einfach nur noch Haare auf dem Kopf. Oder eine Kappe. Ich benutze den Spiegel, um über mich selbst nachzudenken. Er reflektiert mich. Und das ist es, was mich in letzter Zeit am meisten interessiert.

Es ist alles viel persönlicher geworden in meiner Höhle. Und ich fühle mich wohl dabei. Noch bevor die Fackel vollständig erloschen ist, werfe ich sie in die Kaffeequelle neben mir. Irgendeinen Sinn muss sie ja haben. Früher hatte ich mich täglich über ihre Existenz gefreut. Ich konnte gar nicht mehr ohne sie. Mittlerweile ist sie zu einer Nebensache in meiner Höhle geworden. Auch das ist ein Grund, warum ich mich hier mittlerweile so wohl fühle.

Genürsel 2013 - 10/52 - Höhle

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