Genürsel 2013 – 04/52 – Gerechtigkeit

Genürsel 2013 - 04/52 - Gerechtigkeit

Vor vielen Jahren hielt ich es eines Tages für eine gute Idee, mich auf meine Brille zu setzen, um diese zu verbiegen. Warum auch nicht? Man muss schließlich alles einmal gemacht haben. Nach Abschluss dieser überaus erheiternden Tätigkeit fiel mir auf, dass sich die Brille nicht mehr so angenehm an mein Gesicht anschmiegen wollte, wie sie es bisher immer getan hatte. Ich begann, ein wenig zu weinen und überlegte, mich für immer von meiner ach so geliebten Brille zu trennen. Doch dann gab ich mir einen Ruck, fiel vom Balkon, rollte die unter diesem liegende Straße entlang und kam vor einem Optiker zum Stehen. Dies deutete ich als Zeichen und betrat das Geschäft, um meinen Brillennotstand beheben zu lassen.

Im Geschäft saß ein älterer Herr, der mich sofort freundlich empfing. Ich schilderte mein Problem und bat darum, die Brille wieder zu reparieren. Es handelte sich hier schließlich um einen Brillenarzt und somit um jemanden, der in der Lage war, meine Brille zu heilen. Das dachte ich zumindest. Statt Hilfe erntete ich böse Kommentare. Der Herr erklärte mir, dass er mir nicht helfen könne. Wenn eine Brille verbogen ist, dann ist sie das eben. Ich erklärte ihm, dass ich angenommen hatte, er würde über spezielles Gerät verfügen, um die Brille wieder richten zu können. Dies verneinte er. Selbstverständlich könne er am Gestell herumbiegen, dies sei aber keine Tätigkeit, die einem Optiker stets gelingt. Ich ließ es ihn trotzdem probieren. Er ergänzte, dass eine Zerstörung des Brillengestells nicht seine Schuld sei. Ich nickte nur und fühlte mich ungerecht behandelt.

Mag sein, dass ich das Geschäft mit einer absurden Wahnvorstellung betreten hatte, dennoch wäre ich gerne etwas freundlicher darauf hingewiesen worden. Aber gut, ich ließ den Herrn machen. Er griff zu komischem Gerät, hantierte vorsichtig an der Brille herum und bekam sie am Ende wieder geradegebogen. Ich freute und bedankte mich, er erwiderte keine Freundlichkeiten und ich verließ das Geschäft mit dem Vorsatz, es nie wieder zu betreten. Unfreundlichkeit wurde von mir noch nie belohnt, sondern mit Ignoranz bestraft. Ausgleichende Gerechtigkeit.

Einige Monate später war ich auf der Suche nach einem Nebenjob. Im Internet stieß ich auf die Anzeige eines großen, amerikanischen Unternehmens, das in Deutschland Fuß fassen wollte und auf der Suche nach Mitarbeitern war. Angewidert wandte ich mich ab. Ich stand nicht auf Füße und war zudem kein ausgebildeter Podologe. Neben besagter Anzeige fand ich ein noch viel spannenderes Stellenangebot. Ein großes, amerikanisches Unternehmen wollte seine Bekanntheit in Deutschland vergrößern. Es handelte sich hier um eine Internetseite, auf der man Geschäfte verzeichnen und bewerten konnte. Man arbeitete gerade daran, jedes Geschäft in deutschen Großstädten in die eigene Datenbank aufzunehmen, um so das Interesse der Bevölkerung auf sich zu ziehen. Dafür benötigte man Menschen, die die Straßen in ihrer Nachbarschaft auf und ab liefen, Geschäfte fotografierten und sie mitsamt allen wichtigen Informationen wie zum Beispiel den Öffnungszeiten auf der Seite verzeichneten. Ich bewarb mich auf die Stelle, bekam sie und begann meine Arbeit.

Nach einiger Zeit hatte ich unzählige Geschäfte in die Seitendatenbank eingepflegt. Nun ging es aber nicht nur darum, besagte Geschäfte auf der Seite einzutragen. Nein, man sollte auch noch etwas über sie schreiben. Also bezahlte man mich nicht nur für das Kartographieren meiner Nachbarschaft, sondern auch noch für meine Meinung. Ich sah hier zu diesem Zeitpunkt kein Problem. Ich hatte viele der umliegenden Geschäfte besucht und konnte zu jedem etwas erzählen. Also tat ich dies. Irgendwann erinnerte ich mich dann an den Optiker, der mich so unhöflich empfangen hatte. Ich fasste den Fall kurz zusammen und gab dem Geschäft die schlechteste Bewertung, die man einem Geschäft auf der besagten Internetseite geben konnte. Ich wollte die Menschheit vor der Unfreundlichkeit des Besitzers warnen. Das war meine Pflicht als Internetkritiker.

Es folgt ein weiterer Zeitsprung, etwa zwei Jahre in die Zukunft. Ich arbeitete schon lange nicht mehr für die amerikanische Firma. Die Anstellung war von Anfang an auf ein bis zwei Monate befristet gewesen, da man ja lediglich den Deutschlandstart inhaltsreich gestalten wollte. Um ehrlich zu sein hatte ich den damaligen Nebenjob und alle meine abgegebenen Bewertungen schon längst wieder vergessen. Bis der Optiker, den ich hier nun schon mehrfach angesprochen habe, schloss. Ich weiß nicht, warum dies geschah und habe mich auch nie getraut, nachzufragen. Aber plötzlich erinnerte ich mich wieder daran, wie sehr ich über diesen Laden hergezogen hatte. Ängstlich rief ich die Internetseite meines ehemaligen Arbeitgebers auf und suchte nach dem Optiker. Sicherlich hatte er schon viele andere Bewertungen bekommen und mein Gemecker fiel gar nicht mehr auf. Als ich den Eintrag fand, musste ich schlucken. Ja, es gab weitere Bewertungen. Leider nicht viele. Eine, um genau zu sein. Diese war nicht schlecht. Vier von fünf Punkten. Unter dieser Bewertung stand meine. Ein Punkt. Die daraus resultierende Durchschnittsbewertung muss ich hier wohl nicht noch extra vorrechnen.

Es kommt selten vor, dass ich mir selbst peinlich bin oder mir Dinge aus meiner Vergangenheit unangenehm sind. Ich richte den Blick normalerweise lieber nach vorne. Aber was bin ich damals nur für ein Vollidiot gewesen? Ein Punkt? Weil der Optiker nicht in der Lage war, Metall zu verbiegen, ohne es zu zerbrechen? Oh, nein, Moment. Er hatte es ja geschafft! Trotz seiner Warnungen hatte ich das Geschäft mit einer geraden Brille verlassen. Auftrag erfüllt. Gute Bewertung? Nein. Die schlechteste. Ich Vollidiot.

Das muss man sich einmal vorstellen. Da sitzt man als Optiker in seinem kleinen Geschäft und freut sich über jeden Kunden. Man hat sich vor vielen Jahren selbstständig gemacht, kommt jeden Tag zur Arbeit, ist stolz auf das, was man bisher geleistet hat und fühlt sich wohl. Leider ging heute Morgen die Kaffeemaschine kaputt und man ist zudem über eine Bordsteinkante gestolpert und hat sich dabei das Knie verdreht. Man ist entsprechend grummelig drauf. Plötzlich kommt da so ein Depp um die Ecke, der nichts Besseres zu tun hat, als sich auf seine Brille zu setzen. Nun soll man das Gestell wieder geradebiegen. Umsonst. Was physikalisch nur bedingt möglich ist. Man versucht und schafft es, der Typ geht und gibt einem auf einer bescheuerten Internetseite voller Wichtigtuer eine schlechte Bewertung, weil man ihm dabei nicht noch die Füße massiert hat. Vollidiot

Natürlich gehe ich jetzt nicht davon aus, dass meine Bewertung dafür gesorgt hat, dass der Optiker schließen musste. Aber wenn ich auch nur ein oder zwei Leute durch meine Bewertung von einem Besuch des Ladens abgehalten habe, gehöre ich wohl zu den ungerechtesten Menschen der Welt und somit zu den unzähligen Menschen, die täglich diese abartige Internetseite aufrufen, um Bewertungen anhand oberflächlicher Momentaufnahmen abzugeben. “Der Optiker ist nicht gut, weil er mein vollkommen verbogenes Brillengestell zwar reparieren konnte, mich dabei aber nicht angelächelt hat. Drecksladen.”

Ich fühle mich schlecht. Wirklich, wirklich schlecht. Das hat doch nichts mehr mit Gerechtigkeit zu tun. “Ich bin Kritiker auf einer angesehenen Internetseite. Meinem aufmerksamen Blick entgeht nichts. Snörbdisnörb. Ich muss zu wirklich allem meine Meinung abgeben. Und eine Bewertung. Snörbdisnörb. Dadurch fühle ich mich nämlich wichtig. Jeder sollte seine Meinung in die Welt schreien. Snörbdisnörb.”

Ich habe meine Bewertung mittlerweile gelöscht. Obwohl es dafür eigentlich zu spät ist. Das Geschäft wird schon bald aus der Datenbank verschwunden sein. Ich habe meine Lektion gelernt.

Genürsel 2013 - 04/52 - Gerechtigkeit

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