Genürsel 2013 – 03/52 – Panik

Genürsel 2013 - 03/52 - Panik

Es gibt dumme Handlungen, die man ausführt, obwohl man es besser weiß. Zu viel essen zum Beispiel. Oder zu viel Kaffee trinken. Ich werde jetzt von dem Tag erzählen, an dem ich beides gleichzeitig tat.

Auf Pommes bezogen gibt es in meinem Leben den Begriff “zu viel” nicht. Wie soll das auch möglich sein? Zu viele Pommes? Verrückt. Zu viel Kaffee kann ich da schon eher nachvollziehen. Wenn ich morgens ein paar Tassen Kaffee trinke, ohne dabei etwas zu essen, dann fühle ich mich nicht gut. Ich werde nervös, mir wird schwindelig und mein Kreislauf spielt Ringelpietz mit Gegendiewandlaufen. Das will ich vermeiden. Darum trinke ich Kaffee normalerweise ausschließlich zum Frühstück. Beim Essen. In geregelten Mengen. Zumindest im Normalfall. Die eine oder andere Nachmittagstasse unter Freunden will ich hier selbstverständlich nicht abstreiten oder verschweigen.

Kaffee am Morgen hat zudem eine reinigende Wirkung auf mich. Er sorgt dafür, dass sich mein Magen von all dem Müll befreit, der sich am Vortag in ihm versammelt hat. Das hat etwas von dem Gefühl, morgens nach einer langen Fete aufzustehen und zu bemerkten, dass man vor dem Schlafengehen vielleicht doch schon ein bisschen hätte aufräumen sollen. All die verkrusteten Essensreste. Am liebsten würde man einfach alles zusammen in einen Sack stecken und diesen in die Mülltonne werfen. Leider geht das nicht. Man müsste sich eine neue Essausstattung zulegen.

Mein Magen dagegen hat kein Interesse an Tellern oder ähnlichen Dingen. Wenn er nach meinen alltäglichen Fressfesten mit einer Kanne Kaffee geweckt wird, dann legt er alles auf einen großen, stinkenden, klebrigen aber irgendwie auch angenehm warmen Haufen zusammen und wirft es in eine Tonne, die eigentlich eine Schüssel ist und von den Menschen “Toilette” genannt wird. Nach einem solchen Toilettenbesuch weiß ich immer, wie sich Jesus nach seiner Auferstehung gefühlt haben muss. Kaffee ist ein Neuanfang. Immer und immer wieder.

Pommes sind nicht wie Kaffee. Pommes bleiben und schmecken. Sie regen meinen Magen nicht dazu an, sie wieder loswerden zu wollen. Wenn ich Pommes esse, dann höre ich erst damit auf, wenn alle vernichtet wurden und ich sie in mir trage. Ich werde selbst zur Pommes. Und daraufhin zu einem Kannibalen. Ich verspeise mein eigenes Volk und fühle mich gut dabei.

Eines Tages hatte ich mal wieder Probleme damit, einen geregelten Tagesablauf zu führen und erwachte zu einer Uhrzeit, zu der die Sonne ihre Arbeit schon längst verrichtet hatte. Da normale Leute mittlerweile ihr Mittagessen hinter sich gebracht hatten und über ihr Abendessen nachdachten, wollte ich mich endlich wieder in den hoch angesehenen Mittelpunkt und Durchschnitt der Gesellschaft eingliedern und machte mir zum Frühstück ein Kilogramm Pommes. Ich bin nach dem Aufstehen immer etwas grummlig und führe ein sehr ausgeprägtes Leben als Morgenmuffel. Da sollte sich das Indieküchestellen schon lohnen. Außerdem gebe ich meiner Frau natürlich von meinen Pommes ab. Mir bleiben da am Ende des Tages höchstens nur noch 800 bis 900 Gramm Pommes übrig.

Nach dem Verspeisen dieses kleinen Morgenhappens fiel mir dann ein, dass ich meine Frühstückstradition in Form einer gepflegten Tasse Kaffee vergessen hatte. Auf diese konnte und wollte ich nicht verzichten und braute mir eine Kanne Kaffee zusammen, deren tiefschwarzer Inhalt gut zur Helligkeit des zu sehenden Sonnenlichts vor meinem Fenster passte.

Nun sollte man sich einmal bildlich vorstellen, wie mein durch Kaffee ausgelöster Wiedergeburtsprozess auf fast ein ganzes Kilo Pommes trifft. Würde man die Pommes als eine bis zum Rand gefüllte Flasche Cola darstellen, so wäre der Kaffee ein in diese Masse eindringendes Stück Würfelzucker. Man kann sich hier auch gerne das weitaus bekanntere Cola-Mentos-Experiment vorstellen. Diese chemische Reaktion fand jedenfalls in meinem Magen statt und suchte nach einem Weg, sein Ergebnis der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Als ich feststellte, dass das Experiment kurz vor seiner Fertigstellung stand, wusste ich, was zu tun war. Ich ging ins Badezimmer, klappte den Toilettendeckel hoch, griff in die Hosentasche, um mein Handy hervorzuziehen und stellte fest, dass mein Handy nicht da war. Blöd. Wenn ich die Toilette für größere Geschäftstermine aufsuche, dann brauche ich etwas, um mich währenddessen zu beschäftigen. Der gesamte Prozess kann schließlich auch mal ein halbes Stündchen dauern.

Nun benötige ich natürlich nicht zwangsläufig mein Handy, um mich zu beschäftigen. Ich habe immer ein paar Zeitschriften auf dem Badewannenrand liegen, die gelesen werden können. Diese Zeitschriften werden nur weggeräumt, wenn geduscht wird. Um sie vor Feuchtigkeit zu schützen. Die Größe des Badezimmers lässt es leider nicht zu, einen anderen Platz für Zeitschriften einzurichten. Ist aber normalerweise auch kein Problem. Vor dem Duschen bringt man die Zeitschriften weg, nach dem Duschen legt man sie wieder an ihren Platz. Das klappt zumindest bei disziplinierten Menschen mit einem gewissen Ordnungssinn ganz gut. Mein Ordnungssinn ist als kleines Kind leider mal in einen großen Kessel voller Zaubertrank gefallen. Seit diesem Zeitpunkt lebt es in Form eines dicken Kindes in der Nachbarschaft, guckt durch sein Kinderzimmerfenster in meine Wohnung und zeigt mir den Mittelfinger. Um es kurz zu machen: Ich hatte nach dem letzten Duschvorgang die Zeitungen natürlich nicht zurückgelegt.

Ich begann abzuschätzen, wie viel Zeit ich noch hatte, bevor ich mich untenrum einsauen würde. Zwar wurden um das Pommesaustrittsloch bereits Warndreiecke aufgestellt, bis zum Schlimmsten hatte ich aber gefühlt noch etwas Zeit. Also verließ ich das Badezimmer wieder, um meinen 3DS zu holen.

Schon als junges Kind begann ich damit, auf der Toilette mit tragbaren Videospielkonsolen zu hantieren. Das hat mit alten LCD-Spielen angefangen, wurde nach dem Erhalt eines Gameboys zur Lebensphilosophie und ist auch heute noch aktuell. Der 3DS lag auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer (Es handelt sich hier schließlich um ein Arbeitszimmer und ich muss nicht immer innerlich lachen, wenn ich es so nenne.), ich schnappte ihn mir, ging ins Bad, befreite mich von all den Hosen, die man als angesehener Menschenbürger so an sich trägt, setzte mich hin und stellte fest, dass die Batterien des Geräts leer waren. Panik. Ich hatte gerade den Ausscheidungsprozess eingeleitet. Schnell legte ich einen Notstopp ein und machte die Schotten dicht.

3DS auf den Boden. Aufstehen. Hosen hoch. Aber auflassen. Keine Zeit für Formalitäten. Pommes auf dem Vormarsch. Zähne und Pobacken zusammenkneifen. Bad verlassen. Wohnzimmer. Zeitschriftenstapel. Kenne ich schon. Kenne ich schon. Interessiert mich gerade nicht. Kenne ich schon. Bücher? Wo ist mein Kindle? Keine Ahnung. Handy? Keine Ahnung. Jemand klopft. Aber nicht an der Haustür. Sondern an meinem Inneren.

“Ja bitte?”
“Ich bin es.”
“Wer?”
“Pommes.”
“Und?”
“Ich müsste dann jetzt.”
“Ich bin gleich da.”
“Es ist dringend.”
“ICH WEISS!”

Muss los. Hose rutscht. Stolpere fast. Hose hoch. Flur. Arbeitszimmer. Kindle? Nein. Handy? Nein. Ladekabel? Nein. Panik? Ja. Stift. Papier. Flur. Bad. Hose. Sitzen. Aufstehen. Andere Hose. Sitzen. Wiedergeburt. Entspannung. Durchatmen. Brief schreiben.

Sehr geehrte Frau Panik,

ich weiß, dass Sie auch nur Ihre Arbeit machen und letztendlich nichts dafür können, dass ich ohne Ablenkungsmöglichkeit nicht mehr auf die Toilette gehen kann.

Dennoch wäre ich Ihnen überaus dankbar, wenn Sie sich aus meinen Privatangelegenheiten heraushalten würden.

Danke.

Mit freundlichen Grüßen,

ein Feind.

Ich habe den Brief bis heute noch nicht losgeschickt. Das liegt an der vor kurzem stattgefundenen Portoerhöhung. Ich habe hier noch einen Haufen 55-Cent-Briefmarken rumfliegen. Sich nun noch einen gleichgroßen Haufen 3-Cent-Briefmarken zu kaufen klingt nicht nach einem Unterfangen, das Spaß macht und mich in meinem Leben weiterbringt.

Genürsel 2013 - 03/52 - Panik

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