FINDSPIRATION – Milch, Fernseher, Schleim, Tor (2024-009)

In dieser Reihe lasse ich mir vier zufällige Begriffe von meiner Internetseite FINDSPIRATION.net anzeigen, um direkt im Anschluss einen kurzen, handschriftlichen Text zu schreiben, der diese Begriffe verarbeitet. Das Ganze nehme ich auf und schneide es zu einem kurzen Video zusammen, in dem man einerseits sieht, wie ich den Text schreibe, ihn gleichzeitig aber auch in seiner finalen Fassung von mir vorgelesen bekommt. Mit einem Klick auf das folgende Bild gelangt ihr zum Video. Solltet ihr kein Interesse an dem Video haben, könnt ihr den Text auch einfach unter dem Bild lesen.

Sie schaltete den Fernseher aus, da sie ihn zwar irgendwann eingeschaltet, ihm aber seitdem keine Beachtung geschenkt hatte. Sie hatte ihren Gedanken nachgehen wollen, währenddessen aber Angst vor der Stille um sie herum gehabt. Ihre Gedanken waren manchmal so laut, dass sie sie mit äußeren Eindrücken übertönen musste.

Jetzt war sie müde.

Zeit, ins Bett zu gehen, auch wenn gerade hier die Gedanken am lautesten sind, während die Umgebung am leisesten ist. Aber hey, der Mensch muss schlafen. Das hatte die Natur schließlich so eingerichtet.

Sie selbst hatte etwas anderes eingerichtet, nämlich ein Ritual. Sie ging in die Küche, öffnete ein kleines Regal und nahm ein Glas in die Hand. Dann ging sie zum Kühlschrank und griff zur Milchpackung. Das traditionelle Glas Milch vor dem Einschlafen hatte sie vor vielen Jahren eingeführt und war seitdem nur in wenigen Momenten davon abgewichen.

Sie schaltete überall in der Wohnung das Licht aus und setzte sich an den Küchentisch, auf dem noch ein kleines Lämpchen leuchtete. Als sie es sich gemütlich gemacht hatte, schaltete sie auch dieses aus. Durch zwei kleine Spalten im nicht mehr ganz schließenden Rollo drang ein wenig Licht von den Straßenlaternen in die Küche herein. Sie nannte das Ganze die »Gutenachtmilch«. Ein kühles Glas Milch in fast vollkommener Dunkelheit zu genießen, half ihr aus irgendeinem tiefsitzenden Grund dabei, den Alltag zu vergessen, abzuschalten und am Ende des Tages einzuschlafen.

Sie öffnete die Milchpackung, führte sie zum Glas und schüttete deren Inhalt hinein. Sie kannte die Bewegungen mittlerweile auswendig. Sie wusste, wie lange sie schütten musste, damit die Milch nicht überschwappte. Sie musste nichts sehen. Als sie fertig war, verschloss sie die Milchpackung wieder. Sie sah die Umrisse des Glases, bewegte langsam die Hand zu ihm, griff zu und bewegte es mit geschlossenen Augen zum Mund.

Ihr erster Reflex war, sich zu übergeben. Die Milch konnte kaum noch als flüssig bezeichnet werden. Sie hatte eine dickflüssige, schleimige Konsistenz, schmeckte bitter und hatte sogar einen irgendwie scharfen, beißenden Nachgeschmack.

Sieben Schlucke.

Mehr brauchte sie nicht, um ihr Glas zu leeren. Sie stellte es zurück auf den Tisch, atmete konzentriert ein und aus und versuchte, gegen das Würgen anzukämpfen. Licht an, aufstehen, Spüle, kotzen. Sie wischte sich den Mund ab, spülte das Glas und stellte die Milchpackung zurück in den Kühlschrank.

Sie ging ins Bett, ohne sich die Zähne zu putzen. Der ekelhafte Geschmack und das unangenehme Gefühl im Magen mussten bleiben. Nur so war es ihr nachts überhaupt noch möglich, das Tor in die Welt der Träume zu durchqueren.

Ohne die Gutenachtmilch wären die Gedanken einfach viel zu laut.

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