Die Elfenhainer Hochelfen halten nicht viel von Touristen. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass sie lediglich wegen des Tourismus’ davon abgewichen sind, die, ich nenne sie jetzt einfach mal so, gewöhnliche Sprache zu lernen, die man eben so spricht. Da draußen. In der Welt. In der Welt, von der sich die Elfenhainer so gerne distanzieren. Weil sie ihre Nasen so hoch in den Himmel recken, wie der Name Hochelfen es vermuten lässt.
Lange Zeit wurde die Regel aufrechterhalten, die gewöhnliche Sprache einfach nicht mehr zu sprechen, weil die Elfenhainer eben alles andere als gewöhnlich sind. Jedoch stellte sich irgendwann heraus, dass der Elfenhain den Ruf erhalten hatte, ein ganz faszinierender Ort zu sein. Selbstverständlich hatten die Elfenhainer ursprünglich kein Interesse daran gehabt, ihre Heimat in aller Munde zu sehen. Sie wollten sie für sich alleine haben und die Einzigen sein, die sich an ihrem Geschmack ergötzen konnten. Doch es kam anders. Wer sich selbst einen mysteriösen Ort errichtet, muss stets damit rechnen, dass sich dies rumspricht. Und so kam es eines Tages, dass eine Gruppe Menschen vor den Toren stand, die sich diesen vernebelten und blau leuchtenden Ort einmal genauer ansehen wollte. Zunächst war geplant, die Menschen zu verscheuchen, doch als diese einen Beutel voller Gold präsentierten, kamen die Elfenhainer schnell zu dem Schluss, dass ihr Hain ein Kulturgut war und man deswegen alles Recht der Welt hatte, daraus Profit zu schlagen.
So entstand die Elfenhainer Tourismusbranche. Zweimal die Woche werden Führungen abgehalten, die selbstverständlich genauso inszeniert sind, wie der Hain an sich. Touristen werden durch entlegene und mysteriöse Orte geführt, die ganz bewusst entlegen und mysteriös angelegt wurden, um den Touristen das zu geben, wonach sie verlangen. Natürlich führt man niemanden durch tatsächlich bewohnte und genutzte Teile des Hains. Stattdessen errichtete man sozusagen ein Touristenviertel, durch das man die ungebetenen aber gut zahlenden Personen führen kann. Die hier lebenden Hochelfen sind stets wechselnde Schauspieler, die sich ein bisschen was dazuverdienen, indem sie den von ihnen erwarteten Alltag nachspielen.
Ich kann von Glück reden, dass wir, der Jahrmarkt »Die Traute Freiheit«, bisher keine Anstalten gemacht haben, dem Elfenhain einen Besuch abzustatten, um dort unsere Künste darzubieten. Bisher habe ich unseren zuvorkommenden Leiter Granni stets davon überzeugen können, dass dort nicht viel zu holen ist. Die Elfenhainer haben kein Interesse an den Künsten von Nichtelfenhainern. Dafür sind sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Sie würden natürlich niemals zugeben, dass wir mit ihnen konkurrieren könnten, dennoch genießen sie die ungeteilte Aufmerksamkeit der Touristen viel zu sehr, als dass sie es riskieren würden, auch nur einen Bruchteil davon an uns zu verlieren. Aber das ist nicht das eigentliche Problem, das durch einen Besuch von uns entstehen würde. Ich glaube vor allem nicht, dass sich die Hochelfen plötzlich in Hocherfreutelfen verwandeln würden, wenn sie mich wiedersähen. Seit der Geschichte mit dem Anwalt bin ich mir sicher, dass sie nicht gut auf mich zu sprechen sind. Das ist meiner Meinung nach äußerst schade, habe ich doch gar nichts gegen meine alte Heimat. Sie eignet sich schließlich hervorragend, um sich über sie lustig zu machen. Gerne würde ich meine Anekdoten um ein paar aktuelle Ereignisse anreichern, doch ich glaube nicht, dass ein solcher Versuch von Erfolg gekrönt wäre.
Bevor ich jetzt auch noch die Geschichte mit dem Anwalt erzähle, möchte ich mich stattdessen mal ein wenig vom Elfenhain abwenden, so wie damals, als ich meinem Frust freien Lauf lief und mich Anergo von Albu nannte. Ich möchte heute über ein Ereignis sprechen, das meiner Meinung nach den Anfang vieler weiterer Ereignisse darstellt und mich letztendlich zu dem gemacht hat, der ich heute bin. Ich muss ein wenig zurückdenken und meine alten Notizen sortieren, dennoch ist mir bewusst, dass die nun folgende Geschichte sicherlich jeden interessieren wird, der auch nur einen Funken Spaß aus dem Kunsthandwerk des Erzählens ziehen kann.
Es begann an einem ganz normalen Sonntagabend. Wir schrieben den elften April des Jahres 612. »Die Traute Freiheit« befand sich gerade in Horkingen und es war der letzte Tag unseres dortigen Aufenthalts. Meine letzte Vorstellung lief ganz besonders hervorragend und Filz gab noch einmal alles, um meine Geschichten mit Blitzen, Nebel und weiteren Wunderwerken zu untermalen. Wie immer ein hervorragender Anblick. Filz hat mir schon so viel gegeben. Ich habe stets versucht, mich dafür zu revanchieren. Meistens mit dem Kauf diverser Schnäpse, die er so gerne zu sich nahm.
Ich will nicht verschweigen, dass meine enormen Schweißausbrüche an diesem Abend meine Kleidung fast vollständig durchnässt hatten. Aber ich war schon immer ein äußerst agiler Geschichtenerzähler. Ich kann doch nicht stillhalten, wenn ich Geschichten über dieses spannende Leben erzähle. Ich renne auf und ab, ich gestikuliere, ich schreie, ich lache, ich singe, ich springe und ich tanze. Die Körper meines Publikums sollen niemals zur Ruhe kommen. Entweder durch die von Spannung ausgelöste Angespanntheit, oder auch einfach, weil sie nicht mehr wissen, wo sie überhaupt hingucken sollen.
Während ich also langsam und schnell zugleich auf das große Finale meiner Bühnenshow hinarbeitete, sollte nicht verschwiegen werden, dass sich auf dem Jahrmarkt auch abseits meiner Bühne so einiges abspielte. Ich habe euch ja bereits von Til erzählt, unserem genauso mutigen wie auch starken Kassenwart. Wenn ihr nun denkt, warum es in einer spannenden Geschichte vonnöten ist, dass ein Kassenwart Erwähnung findet, der hat keine Ahnung, was mit einem solchen Beruf so alles einhergeht.
Eine Quelle, die an dieser Stelle nicht genannt werden möchte, weil es ihr unangenehm ist, hier vor allen zu gestehen, dass sie für mich und meine Geschichten hin und wieder den guten Til in seinem Kassenhäuschen beobachtet, hat mir erzählt, dass es sich an genau diesem Abend eine Horde Jugendlicher in den Kopf gesetzt hatte, den Jahrmarkt zu besuchen, ohne dafür zu bezahlen. Til sah ein paar Gestalten über eine Absperrung springen und ließ es sich selbstverständlich nicht nehmen, der Sache auf den Grund zu gehen. Mit ein paar gezielten Schreien teilte er den bis an die Zähne bewaffneten Jugendlichen mit, sie gesehen zu haben, was alle bis auf einen zur sofortigen Flucht veranlasste. Es sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, über was für eine stattliche Statur Til verfügt. Zu später Stunde, in Schatten gehüllt und vor allem laut schreiend wäre auch ich jemand, der die Flucht vor ihm einem Streitgespräch mit ihm vorziehen würde. Zum Glück bin ich mit Til recht gut gestellt, was dieser öffentlich selbstverständlich niemals zugeben würde. Doch mein geschulter Blick in Kombination mit meiner Menschenkenntnis hat mich noch nie falsche Schlüsse ziehen lassen.
Der verbliebene Jugendliche kann dies nicht von sich behaupten. Er zog den absolut falschen Schluss, mit Til verhandeln zu können, indem er dessen Mutter beleidigte. Til ist für Beleidigungen dieser Art zwar nicht zugänglich, trotzdem verabscheut er alles, was ihn daran hindert, seinen Beruf als Kassenwart vernünftig ausüben zu können. Nach einigem Hin und Her, das ihm vor allem zeigte, dass dieser rüpelhafte Jugendliche von seinen Eltern nicht gerade mit überzeugender Rhetorik gefüttert worden war, schlug er den Jungen kurzerhand zu Boden und begleitete ihn daraufhin persönlich vom Gelände. Was für euch nach einer spannenden Geschichte klingt, war für Til eben genau das, womit ich meinen Rückblick begann: ein ganz normaler Sonntagabend. Zurück in seinem Kassenhäuschen genoss er die Ruhe und schaute jeden böse an, der auch nur den Bruchteil einer Anstalt machte, ihm auf die Nerven zu gehen.
Solltet ihr euch nun fragen, warum Til so harsch gegen Eindringlinge vorgeht, möchte ich euch umgehend ein wichtiges Detail verraten, das nicht zu unterschätzen ist. Klar, natürlich geht es hier auch ums Geld. Wir machen Kunst und haben dadurch nichts zu verschenken. Aber gleichzeitig besuchen auch Familien unseren Jahrmarkt. Familien mit Kindern. Und diese müssen beschützt werden. Vor allem vor der nur so vor Gewalt strotzenden Dorfjugend. Viele Eltern sind froh, sich bei uns von ihrem harschen Alltag ablenken lassen zu können. Darum bieten wir ihnen auch die Möglichkeit, ihre Kinder für eine kurze Zeit in unsere Obhut zu geben, damit sie selbst mal ein wenig abschalten können.
Was andere Jahrmärkte mit einem einfachen Bällebad bewerkstelligen, übernimmt bei uns Vynni, also quasi das personifizierte Bällebad. Vynni ist wie ich ein Geschichtenerzähler. Jedoch richten sich seine Geschichten eher an eine deutlich jüngere Zielgruppe, die ich mit meinem zugegeben recht ausschweifenden Geschwafel nur selten davon überzeugen kann, mal für ein paar Minuten die Klappe zu halten. Ich habe schon häufig vernommen, dass die Bespaßung von Kindern keine angesehene Kunst sein soll, dieser Aussage kann ich jedoch nur widersprechen. Kinder sind eine Zielgruppe, die ich niemals erschließen werde. Ich bewundere Vynni für seine Geduld und sein Einfühlungsvermögen.
Immer wieder gelingt es ihm, mit zum Leben erweckten Steinfiguren die Aufmerksamkeit der Kinder vollkommen für sich zu beanspruchen. Er verfügt über eine beeindruckende Kreativität und wenn er erst einmal damit begonnen hat, seine Märchen zu erzählen und steinerne Helden gegen ebenso steinerne Drachen antreten zu lassen, verliere auch ich die Fähigkeit, mich anderen Dingen zu widmen. Vynni ist für mich keine Konkurrenz. Wir bedienen komplett andere Zielgruppen. Aber er ist in seinem Handwerk ein genauso großer Meister wie ich.
Und es wäre nicht auszudenken, wenn während einer der hier beschriebenen Vorführungen plötzlich ein Pulk betrunkener Jugendlicher das Zelt betreten und die Atmosphäre zerstören würde. Auch dafür haben wir Til.
Til kümmert sich auch um undankbare Kundschaft, von der unsere Wahrsagerin Ypni vermutlich mehr Geschichten erzählen kann als ich. Während des hier beschriebenen Abends stand auf einmal ein älterer Herr in Ypnis Zelt, der vollkommen aufgelöst behauptete, ihre Wahrsagerei hätte ihn in den Ruin getrieben. Ypni hätte ihm Glück vorausgesagt, das dann aber beim Glücksspiel ausgeblieben war. Alles hatte er verspielt. Sein letztes Gold hatte er nun für eine Eintrittkarte in unseren Jahrmarkt ausgegeben, um sich bei Ypni zu beschweren.
Was für eine kurzsichtige Gestalt. Definiert »Glück« lediglich mit Hilfe des Goldes, das er in seinen Taschen trägt. Er erkannte einfach nicht, dass es höchst wahrscheinlich zu seinem Besten war, kein Gold mehr zu besitzen. Mit Leichtigkeit gelang es der wortgewandten Ypni, den Mann von seinem eingetretenen Glück doch noch zu überzeugen. Man sollte nie vergessen, dass man die Worte der Karten in vielerlei Hinsicht deuten kann und nicht jeder dazu in der Lage ist, die wirkliche Bedeutung zu erkennen. Zufrieden verließ der Mann Ypnis Zelt, ohne dass Til ihn hinausbegleiten musste.
Ich beschränke meine weitere Erzählung von nun an größtenteils auf diese vier Personen: Filz, Til, Vynni und Ypni. Denn wie bereits angedeutet: An diesem ganz gewöhnlichen Sonntagabend geschah etwas mit uns, was unser gemeinsames Schicksal für immer verändern sollte. Aber jetzt, wo ich so auf die Länge dieses Kapitels blicke, ist mir klargeworden, dass ich alles Weitere im nächsten erklären sollte.