Mein Name ist Anergo von Albu und eigentlich heiße ich Friedrich Georg Gotthold Günther Johann Theodor Wolfgang von Waldgeleucht. Alleine diese Information dürfte bei Ihnen wahrscheinlich die Interessensfackeln hell erleuchten, doch leider muss ich, bevor Sie sich voller Freude Ihre Visagen verbrennen, zunächst ein wenig ausholen und Sie mit dem gähnenden Wind der Langeweile abkühlen.
Geboren wurde ich im Elfenhain und dieser Ort ist genauso langweilig, wie mein nun einsetzendes Gähnen verdeutlichen soll. Vor vielen tausenden von Jahren hatten ein paar Hochelfen es sich doch tatsächlich in den Kopf gesetzt, dass früher alles besser war. Dieses »Früher« entstammte irgendwelchen kitschigen Büchern über Elfenstädte in Bäumen, durch die blauer Nebel wabert und leises Harfengeharfe die Luft erfüllt. Man ärgerte sich darüber, dass es dieses »Damals« nicht mehr gab, ignorierte währenddessen, dass es dieses »Damals« vielleicht niemals gegeben hat, und stellte daraufhin fest, dass man durch allerlei Zinsgeschäfte in Kombination mit der hochelfischen Langlebigkeit unermesslich reich geworden war.
Daraus folgte der Kauf einer riesigen Region mitten im Nirgendwo. Gold spielte keine Rolle und so errichtete man den Elfenhain. Einen gigantischen, künstlich angelegten Wald voller riesiger Bäume. In die Wipfel steckte man Häuser, verband sie mit Holzbrücken und legte auf diese Weise eine ganze Stadt an. Dann versteckte man hinter großen Ästen und Wurzeln, sowie in Löchern in Baumstämmen allerlei Nebelzaubereien und magische blaue Lichter, die für die gewünschte Atmosphäre sorgen sollten. Das klingt vollkommen lächerlich, ist aber die Wahrheit, was wieder einmal zeigt, dass das Leben, abgesehen von mir natürlich, immer noch die besten Geschichten schreibt.
Mittlerweile wissen nur noch die Hochelfen im Elfenhain, dass sie eigentlich in einer künstlichen Welt leben. Durch Bestechungen der Baugesellschaften war es den Elfenhainbewohnern problemlos möglich, dieses kleine Detail in einen großen Topf voller Verschwiegenheit zu werfen und letztendlich im, natürlich ebenfalls künstlich angelegten, und hier zitiere ich, »Wasserfall des Lebens« zu entsorgen.
An dieser Stelle eine wichtige Anmerkung: Ich bin kein Enthüllungsjournalist. Ich halte nicht viel von Zeitungen, da diese leider die Tatsachen der Unterhaltung vorziehen. Ich möchte mit dieser Enthüllung der Geschichte des Elfenhains keinen Skandal vom Zaun brechen. Ich sage lediglich, wie es ist. Und wer das nicht hören möchte, hat leider Pech gehabt.
Pech hatte ich auch. Schließlich wurde ich in diesem künstlichen Konstrukt geboren! Es ist nachvollziehbar, dass Hochelfen an einem Ort wie diesem nicht viel anderes übrigbleibt, als sich selbst toll zu finden und anschließend, oder auch währenddessen, miteinander Sex zu haben. Dass darunter aber unschuldige Neugeborene wie ich leiden müssen, kann ich nicht gutheißen.
Meine Eltern waren höchst interessiert am geschriebenen Wort. Was auf alle Hochelfen im Elfenhain zutrifft. Das klingt ja zunächst einmal nicht schlecht, oder? Bin ich etwa so der schreibenden Zunft anheimgefallen? An dieser Stelle kann ich nur lachen. Würde es nach meinen Eltern gehen, stünde ich nicht hier. Hochelfen des Elfenhains lieben lediglich eine einzige Form der Literatur: die eigene. Es wird nur gelesen, was Elfenhain-Hochelfen geschrieben haben. Und alt muss es sein. Texte von noch lebenden Autoren werden nicht gelesen. Wer ein Buch schreibt, gibt es in der Hain-Bibliothek ab, in der es erst veröffentlicht wird, wenn der Verfasser gestorben ist. Meistens lässt man das Werk aber auch nach dem Tod des Autors noch ein Weilchen liegen. So dreihundert bis vierhundert Jahre. Man will sicher sein, dass der Ersteller das mit dem Tod auch wirklich ernst gemeint hat. Dazu eine weitere Anmerkung: Das einzige, das langweiliger ist als die Literatur des Elfenhains, ist die diese verwaltende Bürokratie.
Meine Eltern waren so interessiert an dieser öden Literatur, dass sie mich nach ihren Lieblingsautoren benannten. Und zwar allen. Ich mache es kurz: Büchner, Fontane, Goethe, Grass, Lessing, Schiller. So heißen meine Namensvettern. Die größten Literaten unter den Hochelfen des Elfenhains. Ich nannte sie einmal »Die Elfenhainies« und bekam dafür eine Ohrfeige von meinem Lehrer. Vor der ganzen Klasse. Die Klasse war empört. Und stimmte den Taten des Lehrers uneingeschränkt zu. Wenn ich höre, dass in anderen Teilen dieser Welt Rebellen bewundert werden, kann ich nur mit dem Kopf schütteln. Nicht im Elfenhain. Alles folgt festgelegten Bahnen. Und das ist auch gut so, schließlich hat immer alles gut funktioniert. Außer eines dieser blauen Lichter fällt aus, weil irgendein Raufbold zu oft draufgespuckt hat. Dann ist plötzlich die Hölle los. Und da es nur einen Raufbold im Elfenhain gegeben hat, war der Schuldige genauso schnell gefunden wie geohrfeigt.
Meine Eltern waren zu feige, um etwas gegen das Gefeige zu unternehmen. Vielleicht haben sie mir auch nie verziehen, dass mein erstes gesprochenes Wort weder »Mama« noch »Papa«, sondern »blau« war. Was es über Familienverhältnisse aussagt, wenn das Kind noch vor dem Konzept der elterlichen Fürsorge das Konzept der Farben und ihrer Benennung versteht, muss ich an dieser Stelle wohl nicht erklären, aber ich bin fest davon überzeugt, dass meine Eltern alles andere als begeistert von meinem aufkeimenden Sprachgebrauch waren.
Das hat sich auch nie geändert. Als ich zum ersten Mal anmerkte, dass die Geschichten, die wir lesen mussten, diese Geschichten der großen Literaten, allesamt veraltet klangen und nur wenig mit dem eigentlichen Leben zu tun hatten, musste ich acht Jahre lang nachsitzen. Im Grunde, jetzt, wo ich so darüber nachdenke, saß ich in meinem Leben länger nach als in der Schule. Immer wieder kamen in mir Zweifel am Lebensstil der Elfenhainer auf, die ich auch immer wieder äußerte und so dafür sorgte, dass ich der einzige Bewohner dieses merkwürdigen Ortes war, dessen Backen nicht bleich, sondern rot waren.
Unter den Elfenhainern ist es üblich, dass sie sich bei Eintreten der Volljährigkeit den Vornamen aus ihrem Sammelsurium an Vornamen heraussuchen, der ihnen am besten gefällt. Nicht phonetisch, sondern auf den Autoren bezogen, von dem er stammt. Hat man mich zu einem Goethe-Anhänger erzogen, werde ich also zu einem Johann von Waldgeleucht. Eher Schiller? Friedrich von Waldgeleucht. Und so weiter. Im Elfenhain leben viele Hochelfen mit wenigen Vornamen. Darum ist der Nachname auch so wichtig, der immer mit ausgesprochen wird, was die langweiligen und zähen Gespräche unter den Elfenhainern nur noch mehr in die Länge zieht.
Gespräche unter Elfenhainern konnte ich ab einem gewissen Alter nur noch überleben, indem ich jedes Mal innerlich auflachte, wenn einer der Nachnamen genannt wurde. Neben den »von Waldgeleuchts« gab es da unter anderem noch die »von Sonettgesangs«, die »von Nebelgewabes«, die »von Baumgepflanzes« oder die »von Buchgeleses«. Vielleicht erzähle ich irgendwann mal eine einzige Geschichte nur über diese Namen, ihre Struktur und wie sie entstanden sind. Wie sich Familien voneinander abspalten, weil sie sich nicht mehr auf das Leuchten des Waldes reduzieren lassen möchten, sondern lieber auf das Gewabe des Nebels. Und was das für Streitereien hervorbringen kann. Aber dafür bleibt heute keine Zeit mehr.
Als ich mein einhundertstes Lebensjahr erreichte, stand ich also feierlich auf dem, erneut ein Zitat, »Baumstumpf des Lebensweges« und war umringt von hochnäsigen Hochelfen, die alle darauf warteten, für welchen Literaten ich mich entschieden hatte. Selbstverständlich hatte ich andere Pläne. Als ich meinen Namen, Anergo von Albu, verkündete, stieß ich auf alles andere als Zustimmung. Stattdessen stieß man mich vom Stumpf, um mir die Leviten zu lesen. »So etwas hat es hier noch nie gegeben! Was fällt dem denn ein?«, hörte ich alle Anwesenden sagen, was mich nur noch mehr darin bestätigte, das Richtige getan zu haben.
Mein Name ist keine kreative Glanzleistung. Er entstand innerhalb der fünf Minuten, die mir blieben, bevor ich ihn verkünden musste. Erst wollte ich mich »Baum« nennen, was mir dann aber doch etwas zu plump war, sollte er mich doch den Rest meines Lebens begleiten. Außerdem stellte er die Pointe eines Witzes über das Lispeln dar, den irgendwie jeder im Elfenhain kennt und immer wieder jedem kundtut, der aus Sicht des Witzerzählers aufgeheitert werden muss. Ich kann diesen Witz nicht leiden, darum wollte ich nicht stets daran erinnert werden, wenn ich mich vorstelle.
Also sah ich mich panisch um, um eine bessere Idee zu bekommen. Aber ich konnte nicht viel mehr erkennen als Bäume, Hochelfen, Nebel und blaues Licht. Das Licht war es dann, was mich auf eine Idee brachte. Die Komplementärfarbe von Hellblau ist Orange. Schnell stellte ich ein paar Buchstaben um und erhielt »Anergo«. Um meine Herkunft zu ehren, fügte ich noch das traditionelle »von« hinzu, das jedem Elfenhainfamiliennamen vorauseilt. Aus »Blau« machte ich »Albu« und fertig. Ich stellte mich auf den Stumpf, nannte meinen neuen Namen, ließ mich ein wenig schubsen, lief nach Hause und stopfte mein wichtigstes Hab und Gut in einen Beutel, den ich mir über die Schulter warf, um mit ihm zusammen den Elfenhain zu verlassen.
Seitdem streife ich durchs Land. Mittlerweile seit achtzehn Jahren. Vierzehn davon gehöre ich einem wundervollen Jahrmarkt an, der mich nicht nur durch alle Regionen dieser Welt führt, sondern mir auch dabei hilft, mein Lebensziel zu erreichen. Ich bin nämlich auf der Suche. Ich bin zwar ein Geschichtenerzähler, doch suche ich nicht die Geschichten der Gegenden, durch die ich reise. Ich suche lediglich eine einzige Geschichte. DIE Geschichte. MEINE Geschichte. Ich weiß nicht genau, wo der Mittelpunkt der Welt liegt, bin mir aber sicher, dass er sich in meiner Nähe befinden muss. Und darum ist es mein Ziel, meine eigene Geschichte so lebhaft, unterhaltsam und spannend zu erzählen, wie es mir möglich ist. Und dafür muss ich Dinge erleben.
An dieser Stelle endet der erste Teil meiner Geschichte. Selbstverständlich habe ich noch viel zu erzählen, doch möchte ich mir ein paar Ereignisse noch für später aufheben. Zum Beispiel die Geschichte über den großen Jahrmarktbrand, den ich nur stoppen konnte, indem ich einen durchgedrehten Elefanten erschoss. Oder den Tag, an dem Til, unser Kassenwart, mit nur einem Faustschlag sieben Elfen sieben Beine brach. Und warum man dem Minotaurus Granni, dem Leiter dieses Jahrmarktes, keinen Bären aufbinden sollte, mag aufgrund seiner behörnten Gestalt zunächst offensichtlich erscheinen, doch gibt es dafür noch einen ganz anderen Grund, den die dies bezeugen könnende Bärenfamilie aber leider aus rechtlichen Gründen weder bestätigen noch abstreiten darf.
So. Das war es für heute. Bevor ich ins Bett gehe, schaue ich noch mal schnell bei meiner guten Wahrsagerfreundin Ypni vorbei, um ihr zu sagen, dass sie wieder einmal Recht mit allem hatte. Nicht unbedingt, weil das stimmt, sondern weil es sie immer so freut, wenn ich ihr das sage.
Und danach muss ich Filz noch einmal ganz gehörig auf seine schleimigen Schultern klopfen, weil er als mein Bühnentechniker immer einen so guten Job macht. Er sagt zwar, er bringe alles durcheinander, scheint aber nicht verstanden zu haben, dass ich genau dieses Durcheinander so an ihm schätze. Ich weiß noch, wie er sich einmal während des großen Finales meiner Bühnenshow eine gefühlte Ewigkeit selbst paralysiert hatte und ich ihn aus dem Zelt tragen musste, weil es noch in dieser Nacht abgebaut werden musste. Ich bin so stolz auf ihn! Gut, dass ich ihn vor kurzem aus dem Matsch gezogen habe, in dem er gelegen und keine Anstalten gemacht hatte, sich jemals wieder aus ihm zu erheben.
Und dann muss ich mir bei Vynnie noch ein bisschen Zigarrenkraut holen. Was für ein Teufelszeug. Ich will wirklich nicht wissen, was da alles drin ist. Ich will das Zeug einfach nur rauchen. Weil es so gut schmeckt. Und Geschmack schlägt meinen Drang, Dinge zu hinterfragen.
Jetzt reicht es aber wirklich. Bis zum nächsten Mal.