Hin und wieder erwache ich aus unruhigen Albträumen. Mit diesen Situationen geht jeder anders um. Manche schlafen einfach wieder ein, andere spazieren zur Beruhigung durch die Wohnung und dann gibt es noch die, die eine halbe Stunde lang auf ihr Handy starren und im Internet surfen, um zu erkennen, dass die Realität schlimmer ist als jeder Albtraum, wodurch sie sich anschließend liebend gerne wieder in die Welt der Träume begeben. Ich gehe mit Albträumen dagegen anders um. Ich bleibe im Bett liegen und denke an all die Menschen, die sich nach »Casino Royale« einen Pokertisch gekauft oder sogar ein ganzes Pokerzimmer eingerichtet haben, jetzt vor ihren Tischen und in ihren Zimmern sitzen und traurig sind, weil niemand mehr mit ihnen »Poker« spielen möchte. Weil der Hype vorbei ist. Weil »Poker« eigentlich gar kein so gutes Spiel ist. Dieser Vorgang dauert bei mir keine fünf Minuten. Am Ende schlafe ich zufrieden und mit einem breiten Grinsen ein.
Als vor einiger Zeit plötzlich alle über »Schach« sprachen, wurde ich sofort hellhörig. Ich hatte noch nicht viel über den nächsten »James Bond«-Film gelesen, weil mich die Filmreihe so sehr interessiert wie uninteressante Filmreihen. James Bond als Schachspieler? Warum nicht. Solange er währenddessen grimmig gucken kann, kann der alles spielen. Zwar hatte ich gehofft, dass die Reihe als Nächstes einen Deal mit »Monopoly« eingehen würde, um die beiden großen Übel der Unterhaltungsindustrie endlich zu vereinen, aber ging »Schach« für mich vollkommen in Ordnung. Aus dem Schachbrettmuster in Kombination mit den Schachfiguren würde man sicherlich ein schönes Musikintro basteln können, über das dann wieder alle reden werden, die gerne über die Intros aus »James Bond«-Filmen reden, um mich zu langweilen.
Ich staunte nicht schlecht, als ich erfuhr, dass der aktuelle Hype in der Brettspielindustrie nicht von »James Bond« ausgelöst wurde. Selbstverständlich entstand er nicht, weil die Menschheit erkannte, dass »Schach« einfach ein ganz gutes Spiel ist. Nein, natürlich musste es da noch etwas anderes geben. Die Menschheit muss immer zuerst etwas sehen, in dem andere Menschen etwas spielen und dabei cool aussehen, bevor es sie interessiert. Bevor sie sagt: »Ich will auch so cool sein, nein ich KANN auch so cool sein und ich WERDE so cool sein und darum spiele ich das jetzt auch und seht doch nur, wie cool ich bin.« Und dieses Etwas war die Serie »The Queen’s Gambit«.
Genug von »Schach«. Ich lasse »Schach« ab jetzt einfach »Schach« sein. Und ich lasse auch alle da draußen so viel über »Schach« reden, wie sie möchten. Wenn ich sehe, dass mir plötzlich Menschen in Internetvideos etwas über die Dameneröffnung erzählen möchten und jeder eine Meinung zu »Schach« hat, weil er das ja »früher auch schon einmal gespielt hat«, dann ist das schön für diese Menschen. Kauft euch Holzschachbretter mit riesigen Edelfiguren. Richtet euch ein Schachzimmer ein. Macht, was ihr möchtet. Ich werde dadurch in ein paar Jahren besser einschlafen können.
Das Schlimmste, was man »The Queen’s Gambit« antun kann: Die Serie auf »Schach« zu reduzieren. Ja, es wird gespielt. Und das nicht zu selten. Die Protagonistin ist ein wahres »Schach«-Genie. Aber »Schach« ist nicht der Grund, warum ich die Serie gesehen habe. Warum ich gelacht habe. Warum ich geweint habe. Warum ich am Ende eine so große Freude verspürt habe, dass mir die Tränen kamen. Und bevor jetzt jemand aufschreit: Diese Aussage ist kein Spoiler für das Ende. Es geht nicht darum, ob Beth am Ende das Turnier gewinnt oder nicht. Es geht um alles andere. Es geht um Beth, ihr Leben, ihre Siege, ihre Niederlagen, ihre Freunde, ihre Sucht und ihre verdammte Stärke.
»The Queen’s Gambit« ist eine gute Serie. Sie spricht so vieles an. Die Protagonistin stößt in ihrem Leben auf so viele Hindernisse, dass es fast an ein Wunder grenzt, dass sie bis zur letzten Folge durchhält. Aber sie tut es. Weil sie stark ist. Sie ist die größte Heldin und der größte Held, die und den ich in den letzten Jahren in Filmen und Serien gesehen habe. Weil sie Fehler macht. Weil sie abstürzt. Weil sie nicht perfekt ist. Weil sie kämpft. Weil sie verliert. Weil sie gewinnt. Weil sie überheblich wird. Weil sie verzweifelt ist. Weil sie glücklich ist. Weil sie traurig ist. Kurz: weil sie alles ist. Sie ist alles, was wir in unseren Leben ebenfalls sein können. Und sind.
Manchmal begreift man eben nicht, wie wichtig andere Leute im eigenen Leben sind. Was andere für einen getan haben, wird leider häufig schnell vergessen. Und dann steht man eines Tages da und erkennt, dass es plötzlich zu spät ist, um sich bei diesen Menschen zu bedanken. Diese Erkenntnis trifft jeden einmal. Zum Beispiel wenn die Großmutter stirbt, bevor man sie nach einem Monat Funkstille noch einmal anrufen konnte. Man hat es einfach vergessen. Man hat nicht daran gedacht, sich in letzter Zeit bei ihr zu melden. Das kann ich auch morgen noch machen. Und dann ist sie plötzlich weg. Und man hat nicht angerufen. Man hat sich nicht bedankt. Man hat ihr nicht gesagt, wie dankbar man ihr für alles ist, was sie für einen getan hat. Und jetzt ist es zu spät.
Und dann ist da noch die Sucht. Diese verdammte Sucht. Die einem einzureden versucht, ohne sie nichts mehr zu schaffen. Wie soll ich denn bitte ohne Koffein mein nächstes Buch schreiben? Mich jemals wieder konzentrieren können? Früher waren meine Texte besser, weil ich dank Koffein schneller denken konnte. Jetzt kann ich nur noch an Koffein denken, weil ich es brauche. Niemals wieder werde ich gute Texte schreiben können. Dafür bin ich zu müde. Dafür benötige ich Koffein. Oder anderes Aufputschzeug. Ich brauche es.
Ich brauche es zumindest mehr als andere Leute. Wer braucht schon Freunde? Ich kann selbst auf mich aufpassen. Und vor allem brauche ich keine Tipps von irgendwelchen Menschen, die meinen, etwas besser zu können als ich. Ich kann schreiben. Ich kann sogar sehr gut schreiben. Ich habe schon drei Bücher veröffentlicht. Und jetzt willst du mir etwas über das Schreiben erzählen? Hau ab! Ich brauche dich nicht! Du kannst mir nichts beibringen!
Am Ende von »The Queen’s Gambit« konnte ich erst einmal nur still am Schreibtisch sitzen und an die Decke gucken. Nicht, um dort Schach zu spielen, sondern um an all die Dinge zu denken, die mich an der Serie begeistert haben. Und dann musste ich grinsen. Weil ich mich an die schöne Zeit mit meiner Großmutter erinnerte. Weil ich mich an meinen besten Freund erinnerte, bei dem ich einfach weiß, dass er, auch wenn wir uns viele Monate lang nicht mehr gesehen haben, in dem Moment für mich da sein wird, wenn es mir einmal richtig schlecht gehen sollte. Weil ich an all die Dinge dachte, die meine Freunde in mein Leben gebracht haben, und wie schlecht meine Texte ohne sie geworden wären.
Außerdem musste ich grinsen, weil ich mich an die Szene mit dem Schachclub erinnerte. Wie diese ganzen weißen Jungs aufgereiht vor Beth standen, grimmig guckten und dachten, sie seien so cool wie James Bond beim Pokerspielen. Sie dachten, sie seien die Besten. Sie dachten, sie stünden gerade lediglich einem kleinen, dummen Mädchen gegenüber, dem sie zeigen mussten, wer der Herr im Haus ist. Und dann zieht Beth sie ab. Gleichzeitig. In unter zwei Stunden. Denn in »The Queen’s Gambit« geht es auch um Emanzipation. Auf eine fast schon passive Art und Weise. Es wird nicht mit erhobenem Zeigefinger ermahnt. Es wird einfach gezeigt, wie es damals war. Der Rest muss bei den Zuschauer*innen von alleine passieren. Das traut die Serie uns zu. Das alles von alleine zu verstehen.
Die Serie strahlt ganz allgemein gesprochen eine beeindruckende Ruhe aus. Das einzig Übertriebene ist das Schachspielen. Alles andere ist… einfach nur das Leben. Mit allen Höhen und Tiefen. Vor allem aber ist »The Queen’s Gambit« eine Serie voller toller Charaktere. Jeder hat seine Ecken und Kanten. Jeder hat eine eigene Geschichte zu erzählen. »The Queen’s Gambit« erzählt wiederum die von Beth und wie sie letztendlich mit allen anderen Geschichten zusammenhängt. Und ein bisschen erzählt die Serie auch etwas über Schachstrategien. Aber nicht, um uns dazu zu bringen, anderen zu erzählen, dass man früher ja auch mal Schach gespielt hat. Nicht, um uns dazu zu bringen, unsere Wohnung mit Schachbrettern vollzustellen. »The Queen’s Gambit« zeigt uns lediglich, dass das Leben wie ein Schachspiel sein kann. Es gibt unzählige Figuren. Es müssen Opfer gebracht werden. Und wer nur spielt, um zu gewinnen, wird vermutlich niemals zufrieden sein.
Und das schreibt gerade jemand, der Vergleiche wie »Spiel X ist wie das Leben« überhaupt nicht ausstehen kann. Aber ich kann auch Menschen nicht ausstehen, die mir etwas über »Schach« erzählen wollen. »James Bond«-Filme mag ich auch nicht. Und »Poker« ist sowieso viel schlimmer als »Schach«. Trotzdem schreibe ich drüber. Jedenfalls ist »The Queen’s Gambit« eine tolle Serie. Und Beth ein ganz toller Mensch.