Genürsel 2014 – 19/52 – Erwachsene

Genürsel 2014 - 19/52 - Erwachsene

Wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, beginnt man damit, über das eigene Leben nachzudenken und zu reflektieren. Letzteres geht gerade Autofahrern, die nachts mit eingeschaltetem Fernlicht durch die Gegend brausen, auf die Nerven. Aber wer mag schon Autofahrer? Oder Menschen?

Einmal hatte ich Besuch und dieser Mensch war überrascht wegen all dem Zeug, das in meiner Wohnung stand. Videospielkonsolen, Stofftiere und irgendwelche Sammelfiguren… irgendwie habe ich von jeder Art Sammelgegenstand mindestens ein Exemplar in der Wohnung stehen. Mein Besuch sah diese Gegenstände als Wertanlage. “Naja, irgendwann bekommst du für ein paar der Dinge bestimmt gutes Geld.” Ich gab zu bedenken, dass ich all die Gegenstände eigentlich gar nicht verkaufen wollte. Daraufhin erntete ich einen ernsten Blick und ein “Naja, irgendwann wird man ja mal erwachsen.” Seit diesem Tag warte ich. Die Wohnung ist nicht leerer geworden. Ich somit auch nicht erwachsen. Kann jemand überhaupt erwachsen werden, der in einem mehr oder weniger erfundenen Dialog die zwei einzigen wörtlich wiedergegebenen Aussagen mit “Naja, irgendwann” beginnen lässt? Dieser jugendliche Formulierungsleichtsinn spricht nicht gerade für erwachsenes, seriöses Schreiben. Aber was bedeutet schon “erwachsen”? Selbstverständlich schreiben auch Erwachsene nicht immer ernste Texte. Moment. Sind ernste Texte überhaupt automatisch seriöse Texte. Das eine hat mit dem anderen doch gar nichts zu tun. Wieder so ein leichtsinniger Fehler. Wieder ein Beispiel dafür, dass ich nicht erwachsen bin.

Ernsthaftigkeit ist dennoch ein interessanter Punkt. Kann ein Wort ein Punkt sein? Vielleicht, wenn man es bei einem der erwachsenen Menschen auf der Zeil auf ein Reiskorn schreiben lässt. Reiskörner sind ziemlich klein. Aber eben nur ziemlich. Keine wirklichen Punkte. Zu einem sollten sollte ich aber langsam mal kommen.

Erwachsene besitzen die Fähigkeit, ernsthaft über das eigene Leben nachzudenken, also zu reflektieren. Sie sind dadurch nicht zwangsweise ernst, aber sie nehmen sich und die Dinge, die sie tun, ernst. Ich nehme mein Schreiben ernst und auch die grundsätzlich eher unernsten Comics, die ich zeichne. Gerade denke ich zum Beispiel über einen ernsthaft seriösen Text nach, in dem ich angehende Schriftsteller vor Wörtern warnen will, bei deren Trennung man höllisch aufpassen muss. Einmal las ich zum Beispiel am Zeilenende eines Textes das Wort “Raumord” und sofort kam der Lesefluss ins stocken, da ich dieses neue Wort erst einmal in meinen Wortschatz aufnehmen wollte. Leider hatte ich die Bedeutung des Ganzen noch nicht verstanden. Ein rauer Mord? Mord an Raureif? Während ich noch nach dem Sinn suchte, stieß ich am Anfang der Folgezeile auf ein “ung”. “Raumordnung” hatte nun plötzlich gar nichts mehr mit einer Tätigkeit zu tun, die Leben beenden konnte.

Mein Lieblingsbeispiel stellt jedoch der Tag dar, an dem man mir in der Überschrift eines Textes erklären wollte, dass “Urin stinkt”. Für einen kurzen Moment kam die Welt um mich herum ins Stocken. Was hatte der Geruch menschlichen Urins in einem Text über die menschliche Entwicklungsgeschichte zu suchen? Dann fiel mir der kleine Strich zwischen “Urin” und “stinkt” auf, der die beiden Wörter über die zwei Zeilen der Überschrift vereinte. “Urinstinkt”. Hier hätte ich als Lektor definitiv Einspruch erhoben und mich gegen die Worttrennung ausgesprochen.

Tja. Jetzt habe ich den Salat. Das waren alle Wörter, die ich mir zum zuvor beschriebenen Zweck in mein Notizbuch geschrieben hatte. Jetzt kann ich das mit meinem Text wohl vergessen. Den Witz, über etwas zu schreiben und dann zu sagen, dass man das eigentlich an anderer Stelle hatte machen wollen, und jetzt nicht mehr kann, wollte ich auch endlich mal wieder bringen. Wie unerwachsen. Wenigstens kann ich das Thema nun abhaken und die Begriffe in meinem Notizbuch durchstreichen. Hin und wieder stelle ich mir die Gesichter von Menschen vor, die mein Notizbuch finden, nachdem ich es zum Beispiel in der Bahn habe liegen lassen, und darin blättern. Da steht dann durchgestrichen “Urin stinkt” und die Menschen fragen sich, was das bedeutet. Hat der prüfen wollen, ob es stimmt und deswegen an seinem Urin gerochen? “Ja, doch, stinkt wirklich.” Ob sie das Notizbuch daraufhin verbrennen?

Zurück zum Abhaken. Darin sind Erwachsene nämlich ziemlich gut. Aufräumen, Haushalt, Müll rausbringen… alles Dinge, die ich regelmäßiger tun müsste, aber nicht tue. Die meisten Erwachsenen sind da deutlich besser drin und können Prioritäten setzen. Nach dem Kochen gleich spülen. Wegräumen, was man zuvor ausgeräumt hat, sobald man es nicht mehr benötigt. Es klingt so einfach. Vielleicht ist es ja das, was ich mit dem Erwachsensein verbinde. Sich damit abfinden, dass das, was sowieso irgendwann getan werden muss, besser sofort getan werden sollte. Weil es dann in der Regel einfacher ist. Oder ist man ab einem gewissen Alter erwachsen? Hat Erwachsensein etwas mit Vernunft zu tun? Ist man gar so erwachsen, wie man sich fühlt? Warum finde ich nie Antworten, sondern lediglich immer mehr Fragen?

Als Kind hielt ich Erwachsene für langweilig, als Erwachsener, so möchte ich mich zum Wohle der nun folgenden Zeilen einfach mal bezeichnen, halte ich Kinder für langweilig kreativ unstrukturiert. Ich mag Gedankengänge von Kindern. “Kind, was malst du da?” “Einen Storch, der mit dem Auto zur Schule fährt.” “Aber das ergibt doch gar keinen Sinn, dass der Storch mit dem Auto fährt. Der kann doch fliegen.” “Der will aber gerade nicht fliegen. Und außerdem ist das Auto schön.” Ideen und Geschichten dieser Art finde ich toll und ich habe kein schlechtes Gewissen dabei, an dieser Stelle zuzugeben, dass ich gerne Ideen von Kindern stehle und als meine ausgebe. Kinder sind nämlich ziemlich langweilig und wissen mit ihren tollen Ideen nichts anzufangen. Aus dem faulen Storch mit seinem schönen Auto wird nichts gemacht. Er wird höchstens vergessen und von anderen Ideen verdrängt. Ich dagegen könnte ein ganzes Buch über einen solchen Charakter schreiben. Auch das ist eine Eigenschaft der Erwachsenen. Sie müssen immer aus allem irgendetwas machen. Ich zum Beispiel verarbeite gerne alles Mögliche zu einem Text. Oder einem Comic. Selbst mich nervt das hin und wieder. So wie andere für ihr Fotoalbum leben, lebe ich mittlerweile nur noch für meine Texte. Aber ist das überhaupt schlimm? Ich weiß es nicht. Schlimm ist es immer nur dann, wenn ich mit dem im Text behandelten Thema nichts anfangen kann. “Erwachsene”. Was für ein Blödsinn. Wer denkt sich denn so etwas aus? Da schreibe ich doch lieber eine Kurzgeschichte.

Als der kleine Storch Horst in das Alter kam, in dem Störche eingeschult werden, fiel ihm zum ersten Mal auf, dass alle Störche Horst hießen. Auch die Storchinnen. Störchinnen. Storchdamen. Dies verwunderte ihn ein wenig, aber nicht so sehr wie die Tatsache, dass seine Eltern ihn jeden Tag mit dem Auto zur Grundschule brachten und von dort wieder abholten. Nach drei Wochen traute er sich, seine Eltern diesbezüglich zu befragen. “Horst?”, fragte Horst seine Mutter, “Warum fahren wir mit dem Auto zur Schule?” “Ach, Horst, das verstehst du noch nicht. Das ist so eine Erwachsenensache. Man kann das Auto ja nicht die ganze Zeit über in der Garage stehen lassen. Dann geht es nämlich irgendwann kaputt.” “Aber warum haben wir überhaupt ein Auto? Wir können doch fliegen.”

“Ach Horst.”, mischte sich nun Horsts Vater Horst in das Gespräch ein, “bewahre dir deine jugendliche Neugier. So wirst du es bestimmt einmal weit bringen. Wir haben dieses Auto, weil es so schön ist.” “Wäre Fliegen nicht einfacher?” “Fliegen ist anstrengend. Und nicht so schön. Außerdem werden alle deine Klassenkameraden ebenfalls zur Schule gefahren. Willst du, dass man sich über dich den Schnabel zerreißt, weil deine Eltern dich nicht zur Schule fahren?” “Ich glaube nicht.”, antwortete Horst. Wirklich zufrieden war er mit der Antwort zwar nicht, er musste seinem Vater jedoch in dem Punkt zustimmen, dass ihr Auto unvorstellbar schön war.

So fuhren die drei Horsts schweigend weiter in Richtung Grundschule. Am Ziel angekommen verließ Horst das Auto und erst eine Stunde später, als der Unterricht längst begonnen hatte, fiel ihm auf, dass er gar nicht Horst der Sohn, sondern Horst der Vater und somit fehl am Platz war. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen und keine peinliche Szene zu provozieren, ließ sich Horst aber nichts anmerken und nahm so gut es ging am Unterricht teil.

In der Deutschstunde sollten die anwesenden Kinder sich eine Kurzgeschichte ausdenken (Störche sind in der Grundschule deutlich weiter als Menschen und haben diese deswegen in dieser Kurzgeschichte auch als die dominante Spezies auf dem Planeten abgelöst). Leider fehlte Horst als Erwachsener die nötige Kreativität. Ihm fiel einfach nichts ein. Verzweifelt fragte er den neben ihm sitzenden Jungen Horst: “Worüber schreibst du?” “Über einen Elefanten, der die Sprache der Störche zwar verstehen und sprechen kann, dies aber nicht tut und auch niemandem verrät, weil er keine Lust auf Konversationen mit Störchen hat.”

Horst war fasziniert von dieser Idee. Sie ließ ihm keine Ruhe mehr. Als ihn seine Frau und sein Sohn aus der Grundschule abholten, hatte er beschlossen, Schriftsteller zu werden und die Geschichte seines Mitschülers Horst auszuarbeiten. Als das Buch nach einigen Wochen fertig und auf dem Buchmarkt erhältlich war, kaufte es niemand. Das Thema war viel zu absurd für die breite Masse. Erwachsene fanden das mit dem sprechenden Elefanten zu albern, für Kinder und Jugendliche dagegen waren die im Buch aufgeworfenen philosophischen Fragen zu kompliziert und langweilig. Horst ließ sich von diesem Misserfolg selbstverständlich nicht unterkriegen. Er hatte nichts anderes erwartet. Nur Kinder glauben, mit Büchern Erfolge feiern zu können. Erwachsene sind da weitaus vernünftiger.

Wie auch immer. Was bringt all das Reflektieren, wenn mit dem Erwachsenwerden die Reflexe nachlassen? Erwachsenwerden braucht Zeit und was das bedeutet, ist klar: Man wird alt.

P.S.: Wann ist man eigentlich erwachsen genug, um mit einem Aktenkoffer oder einer Aktentasche rumzulaufen? Ich bewundere ja immer die älteren Herr- und Damschaften, die mit einem Aktenkoffer in der Hand über das Universitätsgelände schlendern. Aktenkoffer sind toll und unglaublich praktisch. Aber irgendwie stehen sie nur Menschen eines gewissen Alters. Ich laufe deswegen stets mit einem Rucksack auf dem Rücken herum. Ich will mich ja nicht zum Gespött der Leute machen, wie diese 16-jährigen Bankerazubis, die mir mit ihren viel zu großen Anzügen und besagten Aktentaschen über die Zeil entgegengelaufen kommen. Was haben die eigentlich in diesen Taschen? Von Papi und Mutti geschmierte Pausenbrote, einen Apfel und ein Notizbuch wahrscheinlich. Ich bin jedenfalls meiner Meinung nach noch nicht erwachsen genug für einen Aktenkoffer. Aber ich freue mich bereits auf den Tag, an dem ich es endlich sein werde. Auch wenn das bedeutet, dass ich ab dann eine Hand weniger frei habe, wenn ich unterwegs bin. Unpraktisch? Ja. Aber auch schön. Da bin ich ganz wie Horst. Also der Erwachsene.

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