Seit ein paar Wochen trage ich ein rotes Päckchen Zucker in meiner Jackentasche mit mir herum. Dieses Päckchen brachte ich während des Besuchs einer Bäckerei in meinen Besitz. Es ist rot und dient der Süßung einer Tasse Kaffee. Ob es sich hierbei nun um eine große oder kleine Tasse Kaffee handelt, weiß ich nicht. Ich streue keinen Zucker in meinen Kaffee, weil dieser danach nicht mehr nach Kaffee, sondern nach Kaffee mit Zucker schmeckt, und dies nicht der Geschmack ist, den ich von einem Kaffee erwarte. Ich weiß nicht, wie viel Zucker im Durchschnitt benötigt wird, um die Bitterkeit, die ich an Kaffee so schätze, zu eliminieren. Vermutlich lässt sich das wissenschaftlich ermitteln. Man nehme alle Kaffeesorten aller Kaffeehersteller der Welt, braue aus jeder eine Tasse Kaffee und gebe sie einer dieser Personen zu trinken, die nach jedem Schluck Kaffee ihre Gesichtsmuskulatur verkrampfen lassen und dabei mit dem Kopf schütteln. “Wie bitter das doch ist.”, möchten diese interessanten Menschen ihren Gegenübern dadurch mitteilen. Nun füllt man die Tassen nach und nach mit Zucker. Immer ein Körnchen mehr. Sobald das Testsubjekt nach einem Schluck seine Gesichtsmuskulatur ruhen lässt, wurde die perfekte Entbitterungsdosis der getesteten Kaffeesorte ermittelt und darf nun auf der Verpackung vermerkt werden. Gerne mit Hilfe einer lustig bunten Ampelskala, deren Ampellampen kleine Gesichter darstellen. Ein grünes Grinsegesicht signalisiert Sparsamkeit. Mehr als 10.000 Zuckerkörner sind nicht notwendig, um den Kaffee zu entbittern. Ein rotes Schmollgesicht dagegen warnt den Käufer: Achtung! Geschmacksintensiver Kaffee! Das wäre in etwa wie die Scoville-Skala bei scharfer Currywurstsoße: “Wie viel Zuckville hat dein Kaffe?” “Rotes Gesicht.” “Ach darum siehst du heute so verbittert aus.”
Wer festgelegt hat, wie viel Zucker ein Zuckerpäckchen beinhalten muss, weiß ich übrigens auch nicht. Sind die Päckchen anderer Hersteller größer oder kleiner? Welchen Hersteller kostenloser Zuckerpäckchen sollte ich aufsuchen, um am meisten Zucker pro Packung zu erhalten? Gibt es da vielleicht irgendwelche Zuckertütennormen? Bestimmt gibt es irgendwelche Zuckertütennormen. Es gibt so viele genormte Dinge auf dieser Welt. Aber auch das weiß ich nicht. All diese Fragen kann ich nicht beantworten.
Die einzige Frage, die ich das Päckchen voller Zucker betreffend beantworten kann, ist die Frage nach dem Warum. Warum trage ich es seit Wochen mit mir herum? Der Grund dafür ist der Text, der auf die Zuckertüte geschrieben wurde: “Die süße Sünde”. Es folgt sogleich ein Einschub: Ein weiteres Wort befindet sich auf der Verpackung, dieses lautet: “Feinzucker”. Das Wort Feinzucker fiel mir aber erst beim Schreiben dieser Zeilen auf und ist deswegen nicht weiter von Interesse. Während der Internetsuche nach “Grobzucker” stieß ich auf einen Artikel mit der Überschrift “Gefälschte Grob Zucker Fake Krapfen” und verlor mein Interesse am Thema Feinzucker. Ein weiterer Einschub: Im Grunde ist “Die süße Sünde” auch nicht weiter von Interesse. Was sehr schade ist, da dies so nicht geplant war.
Als ich den Zucker beim Bäcker ausliegen sah und einen Blick auf den soeben zitierten Text warf, steckte ich ihn mir mit dem Gedanken “Da kann man doch bestimmt etwas draus machen.” in die Tasche. So läuft das nämlich fast immer bei mir ab. Ich sehe etwas und denke mir, dass ich es gerne in einem Text verarbeiten würde. Oft wird daraus nichts. Das beweist mein Notizbuch, in dem Einkaufslisten, Comic-, Text- und Buchideen um meine Beachtung kämpfen. Nicht sehr erfolgreich. Was ich aus der Notiz “Lustiger Verschreiber: Ingokasten statt Infokasten” machen soll, weiß ich bis heute nicht. Aber es ist gut, sie angefertigt zu haben. Ich habe nämlich immer Angst, etwas zu vergessen.
Wenn mich einmal jemand fragen würde, was mich inspiriert, würde ich dieser Person vermutlich zunächst eine runter hauen. Das schreibe ich selbstverständlich nur, um Menschen zu verunsichern, die sich irgendwann vorgenommen hatten, mir diese Frage einmal zu stellen. Bisher kam das übrigens noch nicht sehr häufig vor. Und um die Massen zu beruhigen: Bisher habe ich auch noch keinen der Frager geschlagen. Manchmal schreibt man Dinge, die gar nicht stimmen, um einem Text die letzte Würze zu verleihen. Zählt Zucker eigentlich zu Gewürzen? Seht ihr? So einfach ist das mit den Inspirationen. Ein wenig Geschwafel hier, ein paar ausgekramte Notizen dort und schon hat man eine Frage konstruiert, die zumindest mich dazu gebracht hat, kurz innezuhalten und mich im Internet über Zucker zu informieren.
Meine Inspiration ist die Außenwelt. Sehe ich etwas, was meine Aufmerksamkeit erweckt, behalte ich es in Erinnerung, als Notiz in meinem Notizbuch oder als Gegenstand in meinen Jackentaschen. Sollte ich einmal ohne Jacke unterwegs sein, dienen meine stets großen Hosentaschen als Lagerraum. Ohne Hosen gehe ich nur selten aus dem Haus. Ohne große Hosentaschen ebenfalls. Ich will ja nichts vergessen.
Nur eine Sache vergesse ich regelmäßig und ohne mir darüber den Kopf zu zerbrechen: Meine Träume. Ich hatte nie großes Interesse an Traumtagebüchern. Ich träume zwar gerne und am liebsten verrückt, dies irgendwo festzuhalten, hielt ich aber nie für eine gute Idee. Wenn ich nach einem verrückten Traum aufwache, denke ich mir in der Regel “Na, das war ja was!” und freue mich auf den nächsten, anstatt der Vergangenheit nachzurennen. Bevor ich jetzt einen weiteren Einschub präsentieren muss, schränke ich diese Aussage am besten sofort ein: Manche Träume bleiben schon ein wenig länger in meinem Gehirn hängen. Einmal träumte ich davon, in einer Bar zu sitzen und von der dort arbeitenden Bardame ein Rätsel gestellt zu bekommen. Warum dies geschah, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur noch daran, dass es ungemein wichtig war, es zu lösen. In Träumen weiß man immer wieder unglaublich viele Sachen “einfach so”. In Filmen würde man das als Fehler oder Logiklücke bezeichnen. “Warum weiß der das? Wie unrealistisch.” In Träumen hinterfragt man das normalerweise nicht. Ich überlege, Traumkritiker zu werden und auf einer Internetseite die Träume anderer Menschen zu kritisieren. “Dass Sie in diesem Moment von einem Wal gefressen und es sich in seinem Magen gemütlich machten, halte ich für unrealistisch. Dass Sie dann aber auch noch irgendwie einfach so wussten, dass es sich bei dem Wal um die Reinkarnation Ihres verstorbenen Urgroßonkels handelte? Absurd. Ihr Traum bekommt von mir fünf von zehn Punkten. Geben Sie sich beim nächsten Mal bitte etwas mehr Mühe.”
Bevor ich mein Geschäftsmodell weiter ausarbeite, möchte ich lieber über besagten Rätseltraum reden. Als ich aus diesem erwachte, war ich nämlich ziemlich sauer. Ich hatte das Rätsel nicht lösen können. Ich überlegte und überlegte. Das Rätsel ließ mir keine Ruhe. Warum hatte ich mir ein Rätsel erträumt? Gab es überhaupt eine Lösung? Bis heute habe ich das Rätsel nicht geknackt. Ich erinnere mich auch nicht mehr an alle Details. Diese waren schon nach wenigen Minuten aus meinem Kopf verschwunden.
Zum Abschluss folgt für alle Ratefuchse da draußen das erträume Rätsel: Ein Wissenschaftler schreibt jeden Tag etwas in sein Tagebuch. Etwas über sein Leben und über seine Forschungen, also ausformulierte Beiträge. Eines Tages verschwindet er spurlos. Das Einzige, was zurück bleibt, ist sein Tagebuch. Man liest es sich durch, um herauszufinden, woran der Wissenschaftler gearbeitet hat und warum er verschwunden ist. Hier die Fakten: Am letzten Freitag im August, dem 30.08. um genau zu sein, schreibt der Wissenschaftler wie immer etwas in sein Tagebuch. Einen Tag später, am Samstag dem 31.08. schreibt er den gleichen Eintrag erneut in das Tagebuch. Es ist, als hätte er ihn ohne es zu merken abgeschrieben. Die Einträge sind absolut identisch. Aber an keiner Stelle geht er darauf ein, warum er seinen Beitrag wiederholt hat. Im Laufe der nächsten Tage folgen wieder ganz normale Tagebucheinträge, die jedoch von Tag zu Tag kürzer werden. Eine Woche später, wieder an einem Freitag erfolgt der letzte Beitrag. Am folgenden Samstag bricht das Tagebuch ab und der Wissenschaftler ist verschwunden. Die Frage lautet nun: Worüber hat der Wissenschaftler geschrieben.
Ich saß in der Bar und überlegte. Nach dem Erwachen lag ich in meinem Bett und überlegte. Dann war ich tierisch genervt. Sich ein Rätsel zu erträumen gehört wohl zu den unbefriedigendsten Dingen, die man sich vorstellen kann.