Genürsel 2014 – 13/52 – Teppich

Genürsel 2014 - 13/52 - Teppich

Anfangs waren wir zu dritt. Er und Sie kannten sich schon länger und waren ein Paar. Sie hatten sich mit diesem Haus einen Traum erfüllt. Die eigenen vier Wände. Wer träumt nicht davon? Warum sie mich einziehen ließen? Eine reine Geschmacksfrage. Ich gefiel ihnen und passte gut in den Flur. Farblich dezent auf die Tapeten abgestimmt belegte ich den gesamten Flurboden der ersten Etage. Verließ man die Treppe nach oben, betrat man mich. Ich führte die Menschen ins Badezimmer, ins Schlafzimmer oder in die beiden Arbeitszimmer.

Es dauerte verhältnismäßig lange, bis der Umzug vollständig abgeschlossen war. Er und Sie hatten es nicht eilig und ließen es ruhig angehen. Das Schlafzimmer war der erste fertiggestellte Raum, der Rest folgte nach und nach. Ich erinnere mich noch genau daran, wie die Möbellieferanten die schweren Schlafzimmermöbel über mich trugen und schleiften. Es war ein regnerischer Herbsttag und ich am Ende des Tages entsprechend eingesaut. Als die Fremden verschwunden waren, hatten Sie und Er keine Lust mehr darauf, mich zu reinigen. Sie zogen sich lieber ins neue Schlafzimmer zurück und genossen die erste gemeinsame und vor allem gemütliche Nacht. Der Schmutz drang unterdessen tief in mich ein.

Erst am nächsten Tag machte Er sich daran, mich mit Hilfe von Reinigungsmitteln zu reinigen, die eigentlich gar nicht für mich vorgesehen waren, sondern für Sofabezüge und vergleichbare Polstermöbel. Da die beiden aber weder Alternativen im Haus noch große Lust darauf hatten, sich über Teppichreinigung zu informieren, schrubbte man mich eben mit dem ab, was man hatte. Es funktionierte. Ich erinnere ich noch heute daran, wie zufrieden die beiden grinsten, als sie mich in altem Glanz erstrahlen sahen. Sie waren total fasziniert davon, dass Sofaseife – so nannten sie das Zeug – auch auf Teppichböden funktionierte. Ich ließ den beiden ihre Freude. Dass sie den Schmutz auch mit einem einfachen Eimer voller Wasser und einem Lappen hätten beseitigen können, mussten sie nicht wissen. Sie waren zufrieden. Meine Oberfläche war sauber. Ein bisschen Schmutz blieb selbstverständlich tief in meinem Inneren verborgen. Genauso wie ein Teil der Sofaseife. Auch das verschwieg ich. Ein Teppich behält schließlich alles für sich.

Ich verriet den beiden auch nicht, dass einer der Teppichverleger am Tag meiner Verlegung in einer ziemlich verwinkelten Ecke des Flurs geschlampt hatte. Er schnitt damals etwas zu viel von mir ab, doch anstatt es den beiden zu sagen, stopfte er schnell den falsch abgeschnittenen Fetzen in die entstandene Lücke, montierte die Fußleisten an die Wand und schwieg. Der Fehler war nur schwer zu erkennen. Man musste schon genau wissen, wo man suchen musste, um ihn zu entdecken. Ich wusste es. Aber ich schwieg. Wie immer. Die beiden waren glücklich.

Es war eine Freude, ihnen zuzusehen. Sie lief andauernd singend durchs Haus und tanzte dabei. Beides alles andere als gut. Aber Sie war fröhlich. Er auch. Manchmal stand Er auf mir und sah die Treppe hinunter, während Sie unten irgendetwas zu erledigen hatte. Er hörte Ihr zu und grinste. Kam Sie um die Ecke, verschwand Er schnell in seinem Arbeitszimmer.

Beide arbeiteten von zu Hause aus. Beide schrieben. Er für eine Zeitung, Sie Bücher. Beide waren halbwegs Erfolgreich. Sie sagte immer: “Zwei halbe Erfolge ergeben einen Ganzen.” Er stimmte ihr zu. Sie waren nicht reich, kamen aber gut über die Runden. Hin und wieder leistete man sich einen kurzen Urlaub. In dieser Zeit genoss ich die Stille im Haus. Bevor der Staub mich übermannte, kamen sie aber stets wieder nach Hause. Abseits der Urlaube blieben sie aber meistens hier. Die obere Etage war der Ort, an dem sich der Großteil ihres Alltags abspielte. Sie arbeiteten viel. Jeder in seinem eigenen Zimmer. Das mag nun nach getrennten Verhältnissen klingen, doch dies war ganz bestimmt nicht der Fall. Die beiden schienen darunter zu leiden, sich nicht die ganze Zeit über sehen zu können. Mindestens einmal pro Stunde schlich einer der beiden durch den Flur und besuchte den anderen in seinem Zimmer. Sie mussten sich einfach sehen. Immer und immer wieder. Sie kamen nicht ohne einander aus. Warum man dann zwei getrennte Arbeitszimmer hatte? Weil man sich ansonsten die ganze Zeit über abgelenkt hätte. Eine komplizierte Geschichte. Aber ich freute mich. Ich wurde regelmäßig benutzt und fertigte hin und wieder in Gedanken Strichlisten an, wer wen wie oft besucht hatte. Mal gewann Er, mal Sie. Es war eine sehr ausgeglichene Beziehung.

Dann wurde Sie von Woche zu Woche schwerer. Immer und immer wieder spürte ich das eine oder andere Gramm mehr. Zunächst bewegte Sie sich häufiger als sonst durch den Flur und schien nervös zu sein. Dann machte Er es ihr nach und besuchte Sie ebenfalls immer häufiger in ihrem Zimmer. Aus den vorherigen sechzig Minuten zwischen ihren Besuchen wurden dreißig. Dann fünfzehn. Und dann war sie auf einmal verschwunden. Mitten in der Nacht hörte ich Schreie aus dem Schlafzimmer. Die beiden stürzten auf den Flur, Er stützte Sie ab, Sie blutete, sie schafften es die Treppe hinunter und ins Auto. Es dauerte ein paar Stunden, bis Er wieder zu Hause war. Ich hörte Ihn in der Küche hantieren und dort auf und ab laufen. Plötzlich war Er es, der sang. Er telefonierte den ganzen Tag lang. Dann rannte Er nach oben in sein Arbeitszimmer. Mit einem neuen Möbelstück unter dem Arm. Drei Tage später zog Es bei uns ein.

An die Treppe montierte man ein Gitter, damit Es sie nicht hinunterpurzeln konnte. Dabei konnte Es noch nicht einmal krabbeln. Es konnte lediglich getragen werden. Und das wurde Es auch. Man hatte eine Wiege auf Rädern gekauft. Besuchte der eine den anderen, wurde die Wiege mitgenommen. Es wohnte sowohl im einen als auch im anderen Arbeitszimmer. Was für ein lustiges Schauspiel. Es war wie früher, nur dass ihnen jemand bei ihrem Hin-und-Her Gesellschaft leistete. Vielleicht simulierten die zwei auch eine Art Staffellauf. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass nach ein paar Wochen die Räder der Wiege das Ganze nicht mehr mitmachen wollten. Eines schönen Tages brach eines von ihnen einfach ab. Zum Glück passierte Ihm nichts. Das kaputte Radgestell verpasste lediglich mir eine etwa fünf Zentimeter lange und sehr tiefe Narbe. Er und Sie starrten sie lange an, doch entschieden dann, es auf sich beruhen zu lassen.

Monate später machte Es sich während eines Krabbelausflugs nicht nur in die Hose, sondern auch in mich. Man hatte die Windel nicht richtig befestigt und als man merkte, dass sie etwa drei Meter von Ihm entfernt auf dem Boden lag, war es zu spät. Zum Glück war es nur Urin. Man reagierte schnell und der Fleck verschwand. Zumindest für menschliche Augen. Tief in meinem Innern behielt ich wenig Urin für mich. Erinnerungen. Der wertvollste Schatz eines Teppichs.

Es war mir eine Freude, Es beim Wachsen zu beobachten. Wieder bemerkte ich den Gewichtsanstieg. Gleichzeitig bewunderte ich die immer genaueren Bewegungsabläufe. Irgendwann spürte ich Seine Hände nicht mehr, sondern nur noch die Füße. Ich vernahm Wörter, Gelächter, Geschrei und Geweine. Er hatte sein Arbeitszimmer verlassen und sich stattdessen einen Laptop gekauft, den Er jeden Tag in ein anderes Zimmer trug, um dort ungestört zu arbeiten. Das Leben veränderte sich durch Es´ Erscheinen, doch nie zum Schlechten hin. Man reagierte auf Veränderungen und passte sich an.

Dann kam der Unfall. Eines Morgens stand er auf, betrat mich, blieb stehen und fiel um. Sie hörte den Aufprall, rannte zu ihm, drehte ihn auf den Rücken und schrie seinen Namen. Er antwortete nicht. Der Notarzt kam und nahm ihn mit. Sie und Es folgten ihm. Es weinte, Sie versuchte, Es zu trösten und stark zu bleiben. Dies war das letzte Mal, dass ich Ihn sah. Den Speichel, der Ihm nach seinem Sturz aus dem Mund gelaufen war, trage ich noch immer in mir. Ich werde Ihn nie vergessen. So wie Sie ihn auch nie vergessen wird.

Sie war nun ganz auf sich gestellt. Sie weinte viel. Manchmal saß Sie auf mir vor der Schwelle zu seinem ehemaligen Arbeitszimmer und sah hinein. Ihre Tränen sog ich nach und nach auf. Sie weinte immer nur dann, wenn Es nicht zu Hause war. Sie musste Ihm gegenüber ja Stark bleiben. Es kam in den Kindergarten und daraufhin in die Grundschule. Dann kamen die Möbelpacker. Sie nannte es einen Tapetenwechsel, aber ich weiß, dass Ihr dieses Haus einfach zu groß geworden war. Zu viele Erinnerungen.

Und jetzt? Unsere gemeinsame Zeit ist abgelaufen. Sie und Es sind ausgezogen und kommen nie wieder zurück. Mich hat Sie nicht mitgenommen. Mich und all die Erinnerungen blieben zurück. Dreck, Sofaseife, Schweiß, Blut, Urin, Speichel, die Narbe und so unglaublich viel mehr. Unzählige Erinnerungen. Er, Sie und Es haben mich nie groß beachtet, obwohl ich immer da war. Selbstverständlich macht mir das nichts aus. Dies ist mein Schicksal. Ich hatte ein tolles Leben. Jeder von uns hofft, an jemanden wie Sie und Ihn zu geraten. Jemanden mit einer aufregenden Geschichte. Jemanden mit vielen Erinnerungen.

Die neuen Bewohner – wieder ein Er und eine Sie – werden mich ersetzen. Soeben kommen die Menschen die Treppen herauf, die meinen Nachfolger verlegen werden. Ich wünsche ihm eine schöne Zeit. Vielleicht kann ich ja noch einen kurzen Blick auf ihn werfen. Vielleicht legt man mich ein paar Minuten lang neben ihn. Dann kann ich ihm von meinen Erinnerungen erzählen.

Ein bisschen wünsche ich mir ja, noch hier bleiben zu dürfen.

Genürsel 2014 - 13/52 - Teppich

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert