Es war ein warmer Sommerabend. Ich saß auf dem Fußboden meines Dachbodens, sah aus dem Fenster und beobachtete einen Schornsteinfeger dabei, wie er auf seinem Hosenboden auf dem mit Dachpfannen belegten Dachboden des Dachs des gegenüberliegenden Hauses saß und lachte darüber, wie schnell man in einem Text aus einem Dach ein Tier machen kann, indem man “Dachs” und nicht “Daches” schreibt. Der Schornsteinfeger hörte mein Gelächter, konnte dessen Quelle aber nicht orten, da ich mich schnell hinter einem der zwei Klappsessel versteckt hatte, die schon seit Jahren auf dem Dachbodenboden herumstanden und an ein altes Ehepaar erinnerten, das in seinem Leben schon zu viel erlebt hatte, um sich jetzt auch noch über diesen albernen Jugendlichen aufzuregen, der sie als Sichtschutz nutzte. Irritiert erhob sich der Schornsteinfeger, um ein paar Minuten lang den Anschein zu erwecken, er würde arbeiten, rutschte dabei auf Vogelkot aus, fiel vom Dach und landete auf einem zufällig in diesem Moment unter dem Dach herumlaufenden Dachs. Der Schornsteinfeger überlebte das Missgeschick unbeschadet, der Dachs kam mit einer Prellung am rechten Augenlid davon. Ich verließ mein Versteck, hatte genug vom Leben da draußen und setzte mich zurück an den Computer.
Der Computer war der Grund, warum ich mich überhaupt auf dem Dachboden herumtrieb. Als meine Eltern mir damals einen Computer schenkten, beschlossen sie, dass dieser nicht in meinem Zimmer stehen sollte. Warum? Das hatte viele Gründe. Computersucht, Kontrolle, Strahlung. Sucht euch etwas aus. Die Wahrheit werdet ihr sowieso nie erfahren. Zunächst stand der Computer im Wohnzimmer, doch als sich ein paar Tage lang mein Rabaukenschulfreundebesuch mit mir im Wohnzimmer herumtrieb und meine Eltern merkten, dass sie viel lieber in Ruhe Fernsehen gucken wollten, als uns beim Doom-Spielen zuzuhören, wurde der Computer umgelagert. Auf den Dachboden. So wurde der Dachboden zu meinem zweiten Zimmer. Nein. Eigentlich wurde er zu meinem neuen ersten Zimmer.
Ich glaube, dass ich seit diesem Tag mehr Zeit auf dem Dachboden verbrachte, als in meinem eigentlichen Zimmer. Na gut. Natürlich nur, wenn man sich auf meinen Wachzustand beschränkt. Geschlafen wurde weiterhin im alten Zimmer. Trotz Klappsessel. Eine Qual war das. Und so unpraktisch. Aber denken wir doch positiv.
Mein Leben auf dem Dachboden hat dafür gesorgt, dass ich heutzutage absolut Wetterunempfindlich geworden bin. Das ist selbstverständlich eine Lüge, aber lasst mich doch. Wenigstens kennzeichne ich die erfundenen Textstellen heute mal für euch. Wenn ich das immer machen würde! Wie auch immer. Der Dachboden war ein Ort der Kälte und ein Ort des Schweißes. Ein Ort der Extreme.
Im Winter begann mein Dachbodenalltag folgendermaßen: Rauf auf den Dachboden, PC einschalten, Elektroheizung aufdrehen, zittern und warten. Der Lüdenscheider Winter kann kalt sein. Wirklich kalt. Und der Dachboden sog die Kälte auf wie ein Schwamm, der Kälte mag. In den ersten Minuten war ich mir nie sicher, ob ich gerade rauchte oder mein Atem tatsächlich so klar und deutlich in Form von Nebelschwaden meinen Mundraum verließ. Und das sagt jemand, der auf besagtem Dachboden kein einziges Mal eine Zigarette angezündet hat. Der einzige Rauch wurde hier normalerweise immer im Sommer vom überhitzten Rechner produziert. Aber ich bin schon wieder viel zu schnell. Zunächst noch ein paar Worte zum Winter. Es war kalt.
Der Sommer lief dann so ab: Rauf auf den Dachboden, PC einschalten, Ventilator aufdrehen, schwitzen und warten. Das Dachbodenfenster befand sich genau neben meinem Schreibtisch und die Sonne machte sich einen Spaß daraus, immer genau durch dieses zu scheinen. Das sorgte für unglaubliche Temperaturen und eine durch Schweißproduktion hervorgerufene Luftfeuchtigkeit, die jeden Regenwald der Erde vor Neid erblassen lassen würde. Hin und wieder wurde es dann auch meinem Rechner zu viel und er begann, die boardinterne Alarmanlage zu aktivieren. Dann wurde das Gerät ausgeschaltet, die Gehäuseummantelung abmontiert und nach ein paar Minuten gefüllt mit abkühlendem Reingepuste wieder der Einschaltknopf betätigt. Man schlug sich so durch. Und schwitze.
Frühling und Herbst waren aber auch nicht ohne. Wenn es in Lüdenscheid einmal nicht regnet, wird immer gleich ein riesiges, spontanes Stadtfest veranstaltet. Mit Lagerfeuer, Grillen und anderen tollen Insekten. Das sogenannte “Lüdenscheider Regenfrei” ist auch außerhalb der Stadtgrenze bekannt. Vor allem in meinen Gedanken. Ich kann hier eine klare Empfehlung aussprechen. Lest euch mal die Einträge bei yelp dazu durch. Fünf Sterne. Mindestens. Ein Traum. Buchstäblich. Wo war ich? Ach ja, beim Regen. Dem begegnete man in Lüdenscheid fast täglich. Genauso wie ich meiner Vergesslichkeit fast täglich gegenüberstand. Meine Vergesslichkeit wiederum war irgendwann eine Beziehung mit dem hier bereits erwähnten Dachbodenfenster eingegangen. Das sorgte für feuchtfröhliche Nächte, an deren darauffolgenden Morgen ich mit einem Lappen und einem Eimer meinen Schreibtisch trocknete, weil ich vergessen hatte, über Nacht das Dachbodenfenster zu schließen.
So war das damals auf dem Dachboden. Obwohl ich eigentlich nur vor dem Computer hockte, kämpfte ich fast täglich gegen die Elemente. Ein Sturm wehte meine aus Videospielemagazinen herausgetrennten und noch nicht abgehefteten Spieletippsseiten vom Tisch, ein Regenschauer setzte meine Tastatur unter Wasser, die Hitze ließ mehrere Netzteile explodieren und im Winter verbrauchte die Elektroheizung mehr Strom als der Computer, wegen dem ich sie eigentlich eingeschaltet hatte. Oft pfiff ich beim Betreten des Dachbodens das “Indiana Jones”-Titellied und war gespannt auf die Herausforderungen, die sich mir als nächstes in den Weg stellten.
Meine Freunde begegneten dem Dachboden recht tapfer. Man hatte ja keine andere Wahl. Es musste schließlich ein Hallenturnier in Fifa 98 veranstaltet werden. Ohne Karten. Mit Verletzungen. Wegen all der Lebensfreude, die man als Videospieler den Tag über so verspürt. Was interessiert einen da das Wetter? Ganz ehrlich? Ich kann es nicht leiden, wenn sich Menschen über das Wetter aufregen. Was für ein langweiliges Thema!
Mittlerweile lebe ich nicht mehr auf dem Dachboden. Aber unter Freunden rede ich immer wieder gerne über ihn. “Weißt du noch? Als wir im Sommer den ganzen Tag lang auf dem Dachboden gesessen haben?” “Wie könnte ich das vergessen? Ich schwitze heute noch die Hitzereste weg, die damals wegen Schweißstau nicht sofort rausgekommen waren.”
Selbstverständlich gibt es auch angenehmere Erinnerungen an den Lüdenscheider Dachboden. Als Kind hatte ich dort häufig mit einem Freund aus den Klappsesseln und allerlei Kissen einen Schutzwall errichtet, hinter dem wir uns mit absolut echten Schusswaffen verschanzten und auf Angreifer schossen, die immer genau den bösen Wesen ähnelten, die wir im letzten stumpfen Actionfilm gesehen hatten.
Ich werde auch nie vergessen, wie einmal mein bester Freund bei mir übernachtete und wir unsere “Thunder Fighter” gegeneinander antreten ließen. Die “Thunder Fighter” waren Tamagotchis für harte Kerle. Man trug irgendwelche Drachenwesen mit sich herum, fütterte sie mit bestimmt ziemlich aggressiv erjagtem Zeug, machte sie so von Tag zu Tag stärker und kämpfte dann mit ihnen gegeneinander. Wir saßen mehrere Stunden lang zusammen auf den Klappsesseln und schummelten, indem wir immer und wieder das Datum auf den Geräten verstellten. So erreichten unsere “Thunder Fighter” schnell die höchste Entwicklungsstufe. Und wie sich das gelohnt hat, muss ich hier wohl nicht extra betonen.
Auch meine heutige Frau war begeistert von der Dachbodenatmosphäre. Man sagt ja, dass es in einer Beziehung wichtig sei, sich gegenseitig riechen zu können. Unser erstes gemeinsames Dachbodensommerwochenende hatte uns definitiv gezeigt, dass dies der Fall war. Anders hätte man das auch gar nicht zusammen durchstehen können.
Kennt ihr das, wenn eigentlich schlechte Erinnerungen sich pötzlich in gute und schöne Erinnerungen verwandeln? Nein? Ich auch nicht.