Reden wir über Röntgenbrillen. Die werden ja oft in Comics als total super dargestellt. Das habe ich ehrlich gesagt noch nie verstanden. Wenn ich von Skeletten umgeben sein will, gehe ich auf eine Modenschau. Haha. Gesellschaftskritik. Krawemms. Da geht sie hoch, die Anspruchsbombe. Dann kann ich ja jetzt endlich wieder Blödsinn schreiben. Das kann ich ziemlich gut. Sagen die Stimmen in meinem Kopf. Juhu! Verrückt bin ich auch. Was für ein interessanter Mensch ich doch bin. Gut, dass ich das immer wieder betone. Dann wirkt das nicht so angeberisch. Herrgott, ist das aufregend.
Wenn ich bei meiner Zahnärztin bin und diese gerade Lust darauf hat, den Kopf eines Unschuldigen mit gefährlicher Strahlung zu durchschießen, richtet sie einen riesigen Apparat auf meinen Schädel, verschließt alle Türen und bringt sich in Sicherheit. Manchmal rede ich mir in diesen Momenten ein, durch die Tür das durch den Sprung durch ein Fenster verursachte Geräusch zerbrechender Glasscheiben zu hören. Will ich so ein gefährliches Gerät wirklich dauerhaft eingeschaltet auf meinem Kopf tragen?
Welche Vorteile hätte man denn mit einer Röntgenbrille? Als Arzt wäre es vielleicht ganz praktisch, die Patienten direkt durchleuchten zu können, ohne sie jedes Mal in einen Raum zu sperren und durch Fenster zu springen. Aber für den Patienten? Wenn ich mir vorstelle, wie meine Zahnärztin wenige Zentimeter neben mir auf meine Backe starrt und ich mich währenddessen nicht bewegen darf, dann weiß ich nicht, ob ich das so angenehm fände. Auch für den Arzt dürfte es Situationen geben, in denen er seine Brille verflucht. Nehmen wir mal an, ein Skateboardfahrer fällt auf sein Hinterteil und vernimmt dabei ein lautes Knacken. Schnell läuft er zum Arzt, um sich den Zustand seines Hinterns mitteilen zu lassen, der Arzt seufzt, setzt die Brille auf und erfreut sich am Anblick des Skaterallerwertesten. Hin und wieder vernimmt man aus der Röntgenkabine ein verzweifeltes “Halten sie doch BITTE still.” und ein fieses Gelächter. Achso. Die Strahlung wäre natürlich auch nicht so gut.
Nein, ich will keine Röntgenbrille. Ich bin mit meiner normalen Brille zufrieden. Dank dieser kann ich immerhin die Untertitel asiatischer Filme lesen, ohne mich im Kino in die erste Reihe setzen zu müssen.
Als feststand, dass ich eine Brille benötigte, stand ich vor der Wahl: Konfrontiere ich meine Klassenkameraden sofort mit dieser Tatsache oder soll ich sie erst langsam daran gewöhnen? Ich weiß leider nicht mehr genau, wann ich mir eine Brille auf die Nase setzen musste, doch es dürfte etwa zwischen der siebten und neunten Klasse gewesen sein, was von mir auch gerne als die Zeit der Oberflächlichkeit bezeichnet wird. Ich könnte jetzt selbstverständlich alte Schulfotos durchwühlen, um die Fakten zu überprüfen, aber auf Fakten lege ich nur sehr, sehr selten wert, wenn ich schreibe. Wichtig ist, dass ich zu der Zeit eine Brille bekam, wo man dafür noch ausgelacht wurde.
Ich entschied mich für die Konfrontation. Ich holte meine Brille abends beim Optiker ab und trug sie sofort am nächsten Tag in der Schule. Ein paar Schulkollegen kamen zunächst lachend auf mich zu, weil sie dachten, dass ich mir einen Spaß erlaubte und lediglich die Brille eines Brillenträgers trug, um lustig auszusehen. Man kennt das. “Darf ich mal kurz deine Brille aufsetzen?” “Warum?” “Ich will wissen, wie ich mit Brille aussehe.” Man setzt die Brille auf und lacht, während der Brillenträger gute Miene zum bösen Spiel macht. Soso, ihr lacht über euer Aussehen, wenn ihr eine Brille tragt. Das erhöht mein Selbstvertrauen wirklich ungemein. Gerne setze ich nach diesem Späßchen meine Brille wieder auf. Unglaublich gerne.
Ich teilte jedem Lacher schnell mit, dass es hier nichts zu lachen gab und erntete Blicke voller Trauer und Mitleid. Ich ließ sie einfach an meiner Brille abprallen und sagte mir die ganze Zeit über: “Da musst du jetzt durch. Das geht vorbei.” Zum Glück hatte ich recht. Nach ein oder zwei Tagen war die Sache geklärt. Ich gehörte zu den Brillenträgern und jeder wusste es. Da ich nicht mehr in der Grundschule war, kam ich immerhin an Bezeichnungen wie Brillenschlange vorbei. Somit war das alles doch gar nicht mal so schlimm.
Die Entscheidung für die Konfrontation fiel mir übrigens nicht so schwer, wie es klingen mag, denn worauf ich definitiv keine Lust hatte, war Alternative zwei. Ein paar Mitschüler hatten keinen Bock auf ihre Brille und fühlten ihre Schönheit durch die Brille ungerecht behandelt. Darum setzten sie sie nur im Unterricht auf. Griff der Lehrer zur Kreide, holten die Schüler ihre Brillenetuis hervor. Hatte man durch dieses Verhalten wenig Aufmerksamkeit erregen wollen, so hatte man mehr als versagt. Ich fiel mit stets getragener Brille weniger auf als die Leute mit Brillenetui, die immer wieder belustigte Blicke ernteten. Ja, auch von mir.
Ich sollte vielleicht noch auf die Brillenalternative zu sprechen kommen: Kontaktlinsen. Nach diesen werde ich auch häufig gefragt. Warum nur benutze ich keine Kontaktlinsen? Dann müsste ich doch nicht immer eine Brille auf der Nase tragen. Wie super das wäre! Oder? Nein, wäre es nicht. Ich will mir nichts ins Auge stecken. Ja, ich kenne die Vorteile einer Kontaktlinse, aber ich will mir einfach nichts ins Auge stecken. Ich habe ziemlich trockene Augen und muss den ganzen Tag lang irgendwelche Augentropfen auf sie tröpfeln. Außerdem bin ich vergesslich. Ich würde die Dinger ganz bestimmt nicht über Nacht oder wann auch immer aus meinen Augen entfernen. Ich würde sie einfach vergessen. Und verlieren. Jemand, der manchmal vergisst, vor dem Schlafengehen das T-Shirt auszuziehen, in dem er den Alltag verbracht hat, und darum einfach in diesem einschläft, ist mit Kontaktlinsen vollkommen überfordert. Darum lassen wir das doch einfach.
Manchmal, wenn ich in die Stadt fahre, denke ich übrigens darüber nach, meine Brille nicht aufzusetzen, um die ganzen hässlichen Menschen um mich herum nicht sehen zu müssen. Das klingt jetzt irgendwie gemein, darum sage ich besser, dass das nicht stimmt und ich nur toll klingen will. Was dagegen stimmt: Ich war in der Schule immer Torwart und als Torwart trägt man keine Brille, wenn man Splitter in den Augen nicht so gut findet. Ich glaube, dass mich das zu einem guten Torwart gemacht hat. Ich habe nur den Ball gesehen. Nicht die Blicke meiner Gegenspieler. Ob die wütend waren oder nicht, habe ich nie mitbekommen. Ich bin immer nur in Richtung des Balles gesprungen. Der Rest meines Körpers fand das übrigens nicht so gut. Wie oft ich mir während Fußballspielen irgendeinen Finger umgeknickt habe, weiß ich schon gar nicht mehr. Aber man hat den Schmerz ja auch nicht zeigen wollen. Wahnsinn. So viele Lügen. Ich trage gar keine Brille. Oder? Moment. Doch, ich trage eine. Aber um ehrlich zu sein vergesse ich das sehr oft. Das verstehen Kontaktlinsenträger natürlich nicht. Aber wer unterhält sich schon gerne mit Kontaktlinsenträgern. Die kann ich nicht leiden. Genauso wenig wie die Wahrheit.
Was ich dagegen leiden kann, sind Klobrillen. Aber ich will hier nicht andauernd über Toiletten reden. Andererseits hätte ich da schon eine ziemlich spannende Geschichte für euch. Na gut. Weil ihr es seid: Ich weiß nicht, warum dies geschieht, doch die Klobrille an der Toilette in meinem Badezimmer löst sich mit der Zeit immer von selbst. Irgendwie dreht sich die Mutter durch all die an diesem Ort erzeugten Vibrationen von selbst ab und dann wackelt irgendwann die Klobrille, wenn man sich auf sie setzt. Ab einem gewissen Punkt sitze ich dann auf der Toilette, greife hinter und unter mich und drehe die Mutter wieder fest. Herrgott, ist das aufregend. Durch die rosarote Brille betrachtet. Damit hätte ich die hier auch eingebaut.