Genürsel 2013 – 44/52 – Normalität

Genürsel 2013 - 44/52 - Normalität

Wie soll man über Normalität schreiben, wenn man nicht weiß, was Normalität überhaupt bedeutet? “Normal” ist ein schwieriges Wort. Darum kann ich es auch nicht leiden, wenn jemand auf die Frage, wie ich mich verhalten soll, mit “Normal” antwortet. Normal ist für jeden Menschen anders. Für mich ist es zum Beispiel normal, nach dem Leeren meines Darmtrackts vier jeweils drei Blätter lange Papierketten von der Toilettenrolle abzureißen und über meine entblößten Oberschenkel zu legen und erst dann die Hinternreinigung zu beginnen. Dadurch muss ich beim Wischen nicht nachreißen oder mitzählen. Sollten mehr als vier Ketten notwendig sein, wird selbstverständlich Nachschub besorgt. Im Normalfall, also Durchschnitt, reichen aber vier Papierketten aus. Ist dieses Verhalten nun normal? Für mich schon. Für meine Frau aber nicht. Die geht anders vor, was ich hier aber nicht weiter beschreiben möchte. Privatsphäre und so. Vermutlich hat jeder Mensch sein eigenes System.

Was ist also Normalität bei der Hinternreinigung? Ist Normalität gleichzusetzen mit dem Durchschnitt? Ich habe im Fernsehen schon auf der Straße durchgeführte Umfragen gesehen, bei denen Passanten gefragt wurden, wie oft sie ihr Toilettenpapier falten. Das war nur einer der Gründe, warum ich kein Fernsehen mehr gucke. Aber ich will hier nicht von Thema abweichen. Das Ergebnis war wie zu erwarten: Jeder macht, wie er will. Eine richtige Norm war nicht zu erkennen.

Noch einmal: Was ist Normalität bei der Hinternreinigung? Vielleicht, dass man sie überhaupt durchführt? Nein. Nicht jeder Mensch putzt sich den Hintern ab, die Gründe für dieses Verhalten können vielfältig sein. Wenn nach Erledigung des Geschäfts ein Wasserstrahl die Austrittsstelle reinigt, fällt das Poabputzen flach und man würde den Vorgang wohl eher als Potrocknen bezeichnen. Der von mir zuvor beschriebene Prozess fällt weg, ohne dass man hier von unhygienischem Verhalten sprechen kann. Ist das dann also Unnormalität? Auch wenn ein ganzes Land so vorgeht? Unnormal für uns, normal für die? Wer hat die Poreinigung überhaupt zur Normalität erklärt? Ich war es nicht. Meine Eltern auch nicht. Man hat sie mir beigebracht, ich habe sie gelernt, akzeptiert und als Normalität in mein Leben aufgenommen. Aber es “unnormal” nennen, wenn jemand auf sie verzichtet? Das wäre falsch.

Da ich der Meinung bin, dass “Normalität” nicht für jeden Menschen gleich definiert werden kann und auch nicht sollte, kann ich es nicht ausstehen, wenn andere dies nicht so sehen. Ein Beispiel: Ich werde auf eine Hochzeit eingeladen. Aufgeregt frage ich die Einlader, wie ich mich zu kleiden habe. Die Antwort: “Ach, mach dir keine Umstände. Zieh einfach etwas normales an.” Ich verstecke meine Aggressionen hinter einem aufgesetzten Grinsen, erscheine in meinem “Story of Ricky”-Shirt und ernähre mich den Rest des Tages von entsetzen Blicken und Getuschel.

Vielleicht sollte ich mein “Story of Ricky”-Shirt kurz beschreiben: “Story of Ricky” ist ein Film, in dem ein Superkämpfer namens Ricky aus einem Gefängnis ausbricht. Auf dem T-Shirt sieht man den muskulösen Ricky, wie er seine Fäuste zur Seite streckt. Dies tut er nicht, weil er gerade aufgestanden ist und Dehnübungen macht, sondern um den zwei neben ihm stehenden Unbekannten die Gesichter einzuschlagen. Wortwörtlich. Es spritzt Blut und es fliegen Augen. Ich mag das T-Shirt, weil ich den Film sehr mag und es ihn hervorragend repräsentiert. Darum zählt es zu meiner “normalen” Kleidung. Ich trage häufig T-Shirts mit lustigen, komischen und / oder merkwürdigen Motiven. Wenn Leute nun sagen, ich solle “normale Kleidung” zur Hochzeit anziehen, gehen sie vermutlich davon aus, dass meine Motivkleidung auch für mich selbst nicht normal ist und ich weiß, dass von ihnen als normal bezeichnete Kleidung für mich eigentlich unnormale Kleidung darstellt. Und ich das, was ich als normale Kleidung ansehe, tief in meinem Innern eigentlich als unnormal bezeichne. Das tue ich aber leider nicht. Enge Hosen sind das Unnormalste, das ich mir vorstellen kann, um nur ein Beispiel zu nennen. “Zieh einfach normale Klamotten an.” ist gefährlich.

Um noch einmal kurz auf das beschriebene T-Shirt zu sprechen zu kommen: Es gehört für mich mittlerweile zur Normalität, dass ich von fremden Menschen auf dieses angesprochen werde. Na? Klingt unnormal? Ist es für mich aber nicht. Da steht man in der U-Bahn, wird von einem Mann angesehen und mit “That´s brutal!” angesprochen. Oder in einem Geschäft fragt plötzlich jemand ganz aufgeregt: “Dude! Who is Ricky?” Selbstverständlich geschieht das Ansprechen hin und wieder auch auf Deutsch. Einmal stand ich auf einer Rolltreppe und hörte plötzlich hinter mir ein lautes “Story of Ricky!” erklingen. Ich sah mich um und entdeckte drei Jungs, die definitiv zu jung für diesen Film waren und mich grinsend ansahen. Ich grinste zurück und nickte ihnen wissend zu. Die Jugend von heute. Ist sie nicht wundervoll? Oh. Entschuldigung. Es ist definitiv nicht normal, den Spruch “Die Jugend von heute.” in einem positiven Zusammenhang zu benutzen. Kann man die Äußerung “Story of Ricky!” eigentlich als “auf Deutsch angesprochen werden” bezeichnen? Diese Frage habe ich mir, um ehrlich zu sein, nie gestellt. Darum werde ich sie an dieser Stelle auch nicht beantworten. Über Antworten muss man nachdenken. Eine zu schnell gegebene Antwort hat schon so manchen… wo war ich?

Ach ja. “Normalität”. Man verhält sich also normal, wenn man sich dem Verhalten anpasst, das andere als Norm bezeichnet haben. Die eigene Meinung bezüglich dieser Norm interessiert zunächst einmal niemanden (es sei denn, sie deckt sich mit der Norm, dann wird sie fröhlich akzeptiert). “Zieh etwas normales an.” bezieht sich auf etwas, was der Aussprecher als normal definiert hat und diese Definition hat man als Empfänger zu kennen, sonst steht man plötzlich mit einem “Story of Ricky”-Shirt auf der Beerdigung eines Mannes, der eines Tages so fest in eine Faust rannte, dass ihn der Aufprall tötete. Das wäre dann natürlich eher unangemessen als unnormal, geschah aber nur, weil jemand seine Normalität als allgemeingültige Norm angesehen hat. Wer jetzt sagt “Es ist doch klar, dass man sich auf einer Beerdigung fein macht.”, sollte dann auf meine Kleiderordnungsfrage nicht das Wort “normal”, sondern “angemessen” benutzen. Das ist zwar auch vage, ich kann jedoch deutlich mehr damit anfangen als mit Normalität. Außerdem wäre in diesem Fall immerhin gewährleistet, dass ich eine Hose trage.

Genürsel 2013 - 44/52 - Normalität

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