Genürsel 2013 – 40/52 – Land

Genürsel 2013 - 40/52 - Land

Ich bin froh, in diesem Land zu leben. Wenn man sich Berichte über andere Länder der Welt ansieht, kann man wirklich nur froh sein. Man hat hier so wenig Sorgen, dass es tatsächlich Leute gibt, die solche Bilder ins Internet stellen.

Genürsel 2013 - 40/52 - Land

Ich kann sie nicht mehr sehen. Wirklich nicht. Nein, es geht nicht mehr.

Wann war dieses Früher? Wenn ich mir ansehe, wer diese Bilder im Internet verteilt, dann muss dieses Früher zu einer Zeit gewesen sein, zu der auch ich jung war. Und ich bin nicht alt. Ich wurde 1984 geboren und verstehe nicht, warum ich bereits mit “früher war alles besser”-Sprüchen um mich werfen sollte. Andere schon. Leute in meinem Alter heulen einer Zeit hinterher, die sie nie erlebt haben und die nur in den verzerrten Erinnerungen verbitterter Menschen existieren. Manchmal sind die Jammerlappen natürlich auch deutlich älter als ich. Um zehn Jahre älter zum Beispiel. Und weiser.

Ich habe in meiner Jugend Hip Hop gehört. Sehr viel Hip Hop. Hip Hop ist ein sehr vielseitiges Musikgenre, wie die meisten Musikgenres. Hier mal ein paar Textzeilen.

Ich belohne geile Hoes mit Scheiße auf die Titten
Ich fick dich so tief in dein Loch, dass mein Schwanz mit deinen Rippen
Flirtet, Ficksau, ich bums dich in die Klinik, Bitch Fresse
Bevor ich dir den Sack in den Mund presse
Sieh, ich scheiße auf dein Brot, und du denkst es wäre Aufstrich
Dann siehst du, dass es Kacke ist, und ich scheiße auf dich

Nein, ich habe Lieder dieser Art nie gemocht. Aber es gab sie bereits “damals” und ich habe “damals” hin und wieder über die absurden Texte gelacht. 1999 war das, um genau zu sein. Da war ich 15. Ja, zu Omas Jugendzeiten gab es Texte dieser bösen Art natürlich noch nicht. Da gab es Volksmusik. Schlagerparaden. Hitparaden. Wollt ihr Volksmusik? Weil die Welt dann besser ist? Wegen der darin vermittelten Werte? Von mir aus. Glaubt ihr, dass eure Omas in ihrer Jugend keine Schimpfwörter verwendet haben? Wirklich? Dass es keine “Garagenbands” gab, die geflucht haben wie sonst was? Träumt weiter. Ich habe gehört, dass man früher von seinen Lehrern einen auf die Fresse bekommen hat, wenn man Schimpfwörter benutzt hat. Ob das stimmt? Fragt die, die es wissen. War das besser? Ihr entscheidet.

Vor ein paar Tagen habe ich übrigens ein Kind gesehen, das einer älteren Frau die Einkäufe getragen hat, ohne Schimpfwörter zu benutzen. Überfallen hat es die Dame in diesem Moment auch nicht. Ich hoffe, dass es keine 20 Pfennig dafür bekommen hat. Das war natürlich eine Lüge. Heute hilft ja kein Kind mehr einem Erwachsenen. Warum helfen, wenn man überfallen kann? Was auch gelogen ist: Ich habe letztens in eine Zeitung von “damals” geschaut. Das war wundervoll zu lesen! Keine Kriminalität! Wirklich! Keine! In der Zeitung stand nur Gutes! Auf der Titelseite berichtete man über ein Kind, das die Einkäufe einer alten Dame getragen hat und dafür 20 Pfennig erhielt. Dramatischere Dinge passierten damals nicht. Es gab keine Gewalt gegen alte Frauen. Nie. Wenn man den Statistiken trauen darf, haben die Überfälle auf alte Frauen erst gegen 1999 angefangen. Etwa 90 Jahre nachdem das Frauenwahlrecht in Deutschland eingeführt wurde. Hach. Damals.

Aber lasst uns hier nicht über Überfälle und Gewaltakte reden. Wir wollen ja menschliche Werte aufzählen, die heute gänzlich unbekannt sind. Wenn man in einem Lexikon aus der Zeit um “damals” unter “Werte” nachschaut, stößt man auf folgenden Eintrag:

Werte, die: Siehe “Bonanza-Rad”.

Wie ich das vermisse.

Neulich habe ich meiner Mutter seufzend in Erinnerungen schwelgend erzählt, wie toll ich es damals immer fand, dass sie sonntags dreieinhalb Stunden in der Küche gestanden hat. Sie brach mir die Nase. So musste ich darüber nachdenken, was MICH eigentlich daran hindert, sonntags dreieinhalb Stunden in der Küche zu stehen. Welche übermächtige Macht es mir verbietet. Warum ich nicht mehr dazu in der Lage bin. Klar: Die heutige Zeit ist schuld. Schade, dass die menschlichen Werte wie “Die Frau steht stundenlang am Herd” heute nicht mehr existieren. Ich würde den ganzen Morgen mit dem Bonanza-Rad auf der Straße Werte vermitteln und mir danach den Wanst vollhauen. Dann würde ich beim Spülen helfen. Für Geld. Und mich darüber freuen.

Aber ach du meine Gute wie sehr ich doch seufzend der Zeit hinterhertrauere, in der ich meine Mutter fragen musste, ob ich Freunde treffen durfte. Mensch, war das super. “Mama? Darf ich mich mit Carlos treffen?” “Nein.” “Danke, Mutter.” “Bitte, Lieblingssohn.” Und dann lagen wir uns seufzend in den Armen und beteten, dass diese Zeit niemals enden würde.

Ich will auch endlich wieder in den Ferien arbeiten. Der Druck in den Schulen steigt, Eltern beschweren sich, dass die Kinder immer mehr lernen müssen, da ist es doch das Mindeste, dass die Kinder in den Ferien endlich mal wieder arbeiten gehen. So richtig geile Knochenjobs müssen das sein. Fließbandarbeit oder so. Ausbeuten muss man die. Damit die sich über die 20 Pfennige freuen, die alte Frauen ihnen zustecken, nachdem sie ihnen nach der Arbeit auch noch ihre Einkäufe getragen haben.

Menschliche Werte, wo seid ihr abgeblieben? In welches Land hat es euch nur verschlagen? Etwa in ein Land, in dem man nicht mal eben schnell per Internet etwas nachschlagen kann, wenn man etwas wissen möchte? Wo man noch mit dem Bonanza-Rad in die Bibliothek fahren muss! Oder wo man stundenlang nervös auf den Freund wartet, der eigentlich schon längst hätte da sein müssen. Dass sein Auto auf der Straße den Geist aufgegeben und er deswegen nicht mehr vorwärts kommt, kann er uns ja leider nicht mitteilen, weil es in diesem wundervollen Werteland keine Handys gibt. So wie damals. Als menschliche Werte noch menschliche Werte waren. Als das Telefonat mit der im anderen Bundesland sitzenden Familie Unsummen gekostet hat und man sich deswegen kurzfassen musste, um Familienwerte zu vermitteln.

Es ist wirklich schade, dass all diese tollen Werte weg sind. Einfach so. Zack. Und man kann nichts dagegen tun. Man kann Kindern nicht mehr beibringen, wie sie sich zu verhalten haben. Es geht einfach nicht mehr. Man muss es gar nicht versuchen. Und stundenlang kochen tut auch niemand mehr für einen.

Wisst ihr, was ich manchmal mache? Manchmal habe ich sonntags spät am Abend Hunger. Dann gehe ich zur Tankstelle und gebe viel zu viel Geld für irgendeinen qualitativ minderwertigen, ungesunden Müllkuchen aus. Den esse ich dann ganz alleine am Stück zu Hause. Danach fühle ich mich schlecht, weil mir genau das auch ist. Ich fühle mich dreckig. Ich schwöre, dies nie wieder zu tun und weiß bereits, dass ich mich gerade selbst belüge. Weil ich es toll finde, dass man heutzutage an all den Müll kommt. Jederzeit. Und ich finde es toll, im Internet auf Leute zu treffen, die unglaublich interessantes, spannendes, lustiges oder unterhaltsames Zeug schreiben, das ich “damals” nie gefunden hätte. Wer das hier liest, ist ein Hurensohn.

Genürsel 2013 - 40/52 - Land

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