Genürsel 2013 – 34/52 – Erziehung

Genürsel 2013 - 34/52 - Erziehung

Eigentlich ist er immer stolz auf seine Tochter gewesen. Ist es nicht schön, wenn Kinder etwas lernen? Und wenn sie dieses Wissen dann auch noch anwenden? Und weitergeben möchten? Eigentlich schon. “Eigentlich”. Was für ein schönes Wort das doch ist. Man sagt etwas, setzt das Wort “Eigentlich” in den Satz ein und schon sagt man das Gegenteil. “Das ist eigentlich ganz gut.” Nach einem solchen Satz kommt immer ein Aber. Eigentlich war er immer stolz auf seine Tochter. Aber nicht heute. Heute ging sie ihm so sehr auf die Nerven, dass er sie am liebsten in einem Wald aussetzen würde. Ohne Brotkrumen. Dafür mit drei Hexen, um sicherzugehen. Hexen ohne Öfen, sondern mit Schusswaffen. Eigentlich wollte er sich solche Gedanken ja abgewöhnen.

“Wir müssen auf der Straße fahren! Weil wir erwachsen sind! Auf dem Bürgersteig fahren nur Kinder. Die das noch nicht wissen! Die nicht auf der Straße fahren dürfen! Papa! Wir müssen auf der Straße fahren! Damit Kinder genug Platz haben! Du! Auf dem Bürgersteig dürfen wir nicht fahren! Papa! Wir müssen auf die Straße! Papa!”

Verdammt noch mal, halt endlich deine Fresse! Das ging nun schon seit Minuten so! Er saß auf einem Fahrrad und transportierte auf dessen Gepäckträger die Einkäufe nach Hause. Sie fuhr ihm hinterher. Auf ihrem eigenen, kleinen Fahrrad. Das hatte er ihr zum Abschluss der Fahrradprüfung geschenkt. Hätte er gewusst, was er mit diesem blöden Fahrrad anrichtet, hätte er es verbrannt und seiner Tochter die Beine abgehackt. Oh. Da waren wieder diese Gedanken, die er sich ja eigentlich abgewöhnen wollte.

“Du, Papa! Wir müssen auf die Straße! Der Lehrer hat gesagt, dass Erwachsene nicht auf dem Bürgersteig fahren dürfen! Das hat auch der Polizist gesagt! Papa! Du musst auf die Straße, nicht auf den Bürgersteig! Weil auf dem Bürgersteig dürfen nur Kinder fahren!”

Man hatte seiner Tochter also beigebracht, dass Erwachsene nicht auf dem Gehweg fahren dürfen. Das war eigentlich keine schlechte Regel. Aber das hieß noch lange nicht, dass man sie nicht auch einmal ignorieren durfte. Zum Beispiel in Situationen, in denen man eine Einbahnstraße entgegen der erlaubten Richtung befahren musste. Mit einem kleinen Kind im Schlepptau. Das die Klappe nicht halten konnte. Er wollte einfach nicht mit seinem Kind auf der Straße fahren, wenn ihm Autos entgegenkommen konnten. Hier war alles entweder zugeparkt oder zugewuchert. Man konnte nicht mal eben schnell rechts ranfahren. Darum fuhr er auf diesem verdammten Bürgersteig mit diesem verdammten Kind im Schlepptau. Das Schlepptau hätte er gerne in einen Strick und das Kinderrad in einen Galgen verwandelt, wenn er sich Gedanken dieser Art nicht eigentlich abgewöhnen wollte.

“Ich kann auch mit dir auf der Straße fahren! Papa! Ich kann hinter dir herfahren! Ich bin ja jetzt auch kein Kind mehr! Papa! Ich will Kindern nicht den Platz auf dem Gehweg wegnehmen! Das ist bestimmt gefährlich! Du? Papa! Wir müssen auf die Straße!”

Und was für ein Kind du noch bist. Ein Kind, das offensichtlich falsch erzogen worden war. Ein Kind, das gerade seinen Vater erziehen wollte. Beim Fahrradfahren. Schreiend. Mit dieser Quietschstimme. Beim verdammten Fahrradfahren. Auf dem Gehweg. Fünf Minuten betrug die Fahrtzeit zwischen Supermarkt und Garage. Vielleicht sollten sie einen Umweg machen? In zehn Minuten könnten sie die Talsperre erreichen. Die Talsperre, in der regelmäßig Kinder ertrinken. Nein, nicht schon wieder. Eigentlich. Aber.

“Papa? Wir müssen auf der Straße fahren! Auf dem Gehweg fahren Kinder! Papa? Du? Wir müssen auf der Straße fahren!”

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