Die Sommerpause dauerte immer viel zu lange. Da waren zunächst die lästigen Sommerferien, während denen man sich nicht mehr täglich in der Pause sah. Und dann störte auch noch der unnatürliche Zustand, dass es selbst in Lüdenscheid im Sommer nur selten regnete. Lästig. Ärgerlich. Langweilig. Die Spiele mussten doch weitergehen.
Wenn nach den Ferien der erste Regen fiel, jubelten wir Grundschüler. Ist es soweit? Ist endlich Herbst? Es musste so sein, schließlich regnete es und wir hatten von Kalendern keine Ahnung. Leider dauerte es aber meistens noch ein wenig, bis sich der richtige Herbst endlich bei uns blicken ließ. Noch bekämpfte die Sonne jedwede auftauchende Flüssigkeit und ließ sie schnell unter ihrer Hitze verdampfen. Doch zum Glück lebte man in Lüdenscheid. Hier hielt sich der Sommer nicht zu lange auf, da sich der Regen im Stadtzentrum eine Luxusvilla errichtet hatte, in die er nach seinem Sommerurlaub schnell zurückkehrte. Und wenn er zurück kam, dann freuten sich die Grundschüler. Endlich konnte wieder Matschball gespielt werden!
Für ein richtiges Matschballspiel hatte man einige Vorkehrungen zu treffen. Zunächst einmal musste man sich so schnell wie möglich vom nervigen Essensritual entfernen, das vor dem Rausgehen abgehalten wurde. Jeder Schüler bekam entweder eine Flasche Milch oder eine Flasche Kakao vorgesetzt. Diese wurden zu Beginn der Pause vom sogenannten Kakaodienst ins Klassenzimmer geholt, der im Idealfall von Matschballspielern besetzt wurde, da diese über die nötige Disziplin verfügten, sich beim Flaschenschleppen zu beeilen. Sie wussten, dass es um jede Sekunde ging.
Waren die Getränke anwesend, stürmten die Matschballspieler nach vorne, schnappten nach ihren Flaschen, stellten sie vor sich auf die Tische, rammten ihre Strohhalme durch die Deckel und tranken um die Wette. Die Kälte der Getränke wurde ignoriert. Es musste angepfiffen werden. Schnell. Man zog an den Halmen und schluckte und schluckte und schluckte. Innerhalb einer Minute hatte jeder seine Flasche geleert und Bauchschmerzen. Pflicht erfüllt. Schritt zwei einleiten.
Die Bälle befanden sich immer in einer Art Gemeinschaftskiste. Unser Ziel war ein Softball, also einer dieser gelben, total zerfusselten Schaumstoffbälle. Ein solcher Ball musste organisiert werden. Durch das schnelle Trinken war man den Nebenklassen einen Schritt voraus, stürmte auf den Schulhof und ergatterte das runde Gold.
Jetzt musste die Wand erobert werden. Die Wand lag genau an der richtigen Stelle. Wenn man sie ansah, befand sich wenige Schritte hinter ihr eine große Wiese. Links von der Wand war der steinerne Schulhofboden etwas abgesackt und sammelte das für die Matschballpartie so wichtige Regenwasser. Durch die angrenzende Wiese waren die Pfützen alles andere als sauber. Perfekte Platzverhältnisse. Ohne diese Wand konnte Matschball nicht funktionieren.
Normalerweise gab es nur selten Kämpfe um die Wand. Jeder auf dem Schulhof wusste, dass sie nach dem Sommerende reserviert war für das größte Ballspektakel des Jahres. Man kannte uns. Wer sich uns in den Weg stellte, wurde schnell ein unfreiwilliger Matschballmitspieler. Und dafür waren sich die meisten Kinder abseits unserer Truppe zu fein.
Nun wurden die Teams gewählt. Es gab zwei Mannschaften und einen neutralen Torwart. Das Tor stellte die Wand dar, dessen Pfosten links durch eine vorstehende Mauerkante und rechts durch ein kleines Fenster markiert wurden. Die Latte war aufgrund eines Wandfarbeübergangs von Grau in Weiß auf Grundschülerkopfhöhe gut zu erkennen. Auch das machte diese Wand so perfekt. Wer auch immer sie gebaut hatte, musste schon damals gewusst haben, was sie eigentlich darstellte. Erwachsene mochten sie für eine gewöhnliche Wand halten, in den Augen eines Grundschülers handelte es sich hier jedoch um das perfekte Matschballtor. Damals ging das Gerücht um, dass einer der Mitspieler als Erwachsener mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen wird, um als Architekt diese Mauer zu entwerfen. Bis heute konnte diese Theorie weder bewiesen noch widerlegt werden.
Den Torwart zu ermitteln stellte im Normalfall kein Problem dar. Meistens übernahm immer der gleiche, mutige Junge die Rolle, da er einfach gerne Torwart war. Spannend wurde es immer dann, wenn eben dieser Junge zum Beispiel wegen Krankheit fehlte. Dann kam es gerne mal zu kleinen Streitereien. Als Matschballtorwart hatte man es schließlich nicht leicht. Aber dazu später mehr.
Nachdem sich der Torwart an die Wand gestellt hatte, wurden die Mannschaften gewählt. Entweder bildeten sie sich auf natürliche Art und Weise oder es wurde gewählt. Wichtig waren hierbei auch immer laute Schreie wie: “Anstoß Erster alles Kapitän Borussia Dortmund Matthias Sammer!” Wer einen solchen Satz als erster und am lautesten rausschreien konnte, hatte den Anstoß für das eigene Team erobert und sich zudem die im Satz enthaltenen Privilegien gesichert. Die anderen mussten sich dann andere Identitäten zulegen, zum Beispiel Guido Buchwald. Hin und wieder gab es auch mal keinen geordneten Anstoß. Die Mannschaften standen fest, irgendwer wurde warum auch immer geschubst, trat dabei versehendlich gegen den Ball und es konnte losgehen. Man muss ja nicht immer aus allem ein Drama machen.
Nach dem Anstoß musste der Matschball so schnell wie möglich in eine der oben beschriebenen Pfützen geschossen werden. Kam er darin zum Stehen, rannten alle Grundschüler auf ihn zu. Derjenige, der ihn zuerst erreichte, trat schnell und feste auf den Ball, um ihn plattzudrücken. Dadurch sog der Ball Wasser auf. Nun kam die Wiese ins Spiel. Ball auf die Wiese, weiter drauftreten, Matsch aufsaugen, vielleicht noch einmal in die Pfütze und das Ganze währenddessen am besten auch noch so aussehen lassen, als würde man gerade Fußball spielen.
Irgendwann hatte man dann für sich entschieden, dass der Matschball fertig, nein, perfekt war. Man sprintete in Richtung Tor und versuchte auf dem Weg, den feuchten und dampfenden gegnerischen Füßen auszuweichen. Wurde man gestoppt, ging man sofort in den Angriff über. Kam man durch, schoss man so fest man konnte auf das Tor. Nein, eigentlich schoss man gar nicht auf das Tor. Um noch mal auf die Torwartfrage zurückzukommen: Meistens schoss man auf das Gesicht des Torwarts. Warum auch nicht? Das hier war schließlich Matschball und kein Topfschlagen.
Noch mehr als beim Fußball entschied beim Matschball der Torwart, wie das Spiel ausgehen sollte. Schließlich stellte sich hier ein Mann beiden Mannschaften in den Weg. Das Halten eines Schusses endete mit dem Eindringen von Feuchtigkeit in die eigene Kleidung oder in den Mund. Gerne mussten nach einem Schuss auch mal kleine, gelbe Schaumstoffkugeln aus den Augen des Torwarts gepult werden, während er wegen seiner guten Reflexe von der Hälfte der anwesenden Matschballspieler ausgeschimpft und geschubst wurde. Entschied sich der Torwart dagegen für den gesunden Menschenverstand, blieb er zwar trocken, verlor aber seine Ehre und wurde von der anderen Hälfte beschimpft und geschubst. Matschball war ein Spiel der harten Entscheidungen und des Mutes. Am Torwart konnte man am Ende einer Pause erkennen, ob die Partie “zu Null” geendet hatte oder nicht.
Bei dem Matschball an sich handelte es sich um das perfekte Spielmaterial. Zunächst sog er so viel Wasser und Schlamm auf, dass man auch nach längeren Dribblings noch einiges an den Torwart abzugeben hatte. Außerdem gab es durch die zurückbleibenden Druckstellen an der Wand nie Streitereien, ob der Schuss nun ein Treffer war oder nicht. Jeder Schuss hinterließ eine eindeutige Markierung. Das war auch der Grund, warum wir damals vollständig auf einen Schiedsrichter verzichteten. Außerdem hätte ein Schiedsrichter wegen des ewigen Geschubses mit seinem Abgepfeife den Spielfluss gestört und wäre am Ende selbst geschubst worden.
Leider war der Matschballspaß schnell vorbei. Eine Partie dauerte aufgrund der Länge einer Pause nur wenige Minuten und am Ende wurde man von allen Seiten ausgeschimpft. Zunächst vom Hausmeister. Dieser verbot uns Woche für Woche das Ausüben unserer matschigen Sportart, da er nach jeder Partie die Wand schrubben musste. Es wurde sogar einmal ein “Betreten verboten”-Schild vor der Wiese aufgestellt, um uns von ihr fern zu halten. Vermutlich hatte man vergessen, dass Grundschüler noch ein paar Jährchen von der Führerscheinprüfung entfernt sind und deswegen nicht wissen, was dieser rot umrandete Kreis bedeuten soll außer: “Ich sehe aus wie ein Basketballkorb! Bewerft mich mit Bällen und Steinen! Schnell! Es geht um euer Leben!”
Nach dem Hausmeister schimpften die Lehrer mit uns. Es ist klar, dass wir nach einer Matschballpartie eine alles andere als reinigende Wirkungen auf den Klassenfußboden hatten. Hätte jemand eine Wasserflasche auf dem Boden ausgekippt, hätte man Matschball gleich weiterspielen können.
Und dann waren da noch unsere Eltern. Diese hatten zwar schnell gelernt, dass man Kinder nicht für die Schule “fein machen” sollte (vor allem nicht im Herbst), was sie jedoch nach einer Matschballpartie vorgesetzt bekamen, war selbst für sie immer wieder schockierend. Dreckige Jacken, Pullover, Hosen, Socken, Schuhe, Gesichter, Hände und Kinder im Allgemeinen, das bekamen sie von ihren geliebten Erzeugnissen aus Dank mit nach Hause gebracht. Ich hatte damals gedacht, meine Eltern hätten das Ende des Sommers so gehasst, weil sie sich nicht mehr in die Sonne legen konnten. Mittlerweile habe ich aber verstanden, was wirklich in ihren Köpfen vorging. Herbst bedeutete dreckige Kinder.
Für uns stand der Herbst jedoch für etwas anderes: Matschball!