Sea of Thieves – Mit dem Kompass auf heulender See

Sea of Thieves - Mit dem Kompass auf heulender See

Als ich zum ersten Mal von »Sea of Thieves« erfuhr, wurde mein Interesse nicht geweckt, sondern eingeschläfert. Ein Multiplayer-Spiel? Ich gähnte so ablehnend und laut, dass meine Therapeutin, die seit Jahren versucht, mir zu mehr sozialen Kontakten zu verhelfen, vor meiner Wohnungstür stand und mir sagte, ich solle doch zumindest so tun, als hätte ich Interesse an ihrer Behandlung.

Selbstverständlich hörte ich nicht auf sie. Ich bin ja nicht nicht verrückt. Ich ignorierte »Sea of Thieves«. Dann sah ich erste Videos und Berichte über das Spiel. Von fehlender Langzeitmotivation war die Rede. Von fehlenden Anreizen. Man könne stundenlang spielen, ohne am Ende mit wirklichem Fortschritt konfrontiert zu werden. Ich wunderte mich darüber, dass dies als Kritik am Spiel aufgefasst wurde, ignorierte dennoch fleißig weiter, da ich gerade nichts Besseres zu tun hatte und meiner Therapeutin zeigen wollte, was ich davon halte, dass sie einfach so bei mir vor der Tür steht.

Doch dann sah ich eines Tages ein »Let’s Play«, in dem mehrere Leute einfach nur immer der Nase nach segelten und dabei einen Haufen Quatsch erlebten. Ich dachte mir: »Verdammt. Das sieht ja gar nicht mal so schlecht aus. Wäre »Sea of Thieves« doch nur ein Singleplayer-Spiel. Ich glaube, ich würde es sehr mögen.«

Der Gedanke war da. Die Recherche begann. Gab es da draußen Leute, die das Spiel alleine spielten? Es gab sie. Und sie schrieben darüber. Unglaublich unterhaltsam. Zumindest die, die unterhaltsam schreiben konnten. Dann ergab sich plötzlich die Möglichkeit, das Spiel fast kostenlos auf dem PC zu spielen. Ich sagte mir: »Was soll’s. Probieren geht über Studierende, die nicht probieren.«

Es folgen meine ersten zwei Stunden in »Sea of Thieves«:

Das grundlegende Steuerungsgedöns musste ich nicht lernen, da ich es mir während des bereits angesprochenen »Let’s Plays« zuschauend angeeignet hatte. Einzelspielern werden kleine Schiffe oder Boote oder was auch immer, der Unterschied ist mir egal, angeboten, die sie problemlos alleine steuern können. Ich nahm meine erste Mission an, erhielt die Karte einer Insel mit einem klischeebeladenen roten »X« drauf und segelte los. Nach einigem Gesuche fand ich die Insel, schipperte ein paarmal dran vorbei, da sich meine Links-Rechts-Schwäche auch noch als Ost-West-Schwäche herausstellte, und ging an Land, indem ich mein Schiff gegen einen Felsen steuerte, der es prompt zum Stehen brachte und mich um ein paar Bretter erleichterte, die notwendig waren, um Löcher zu stopfen, die alles daran setzten, mein Schiff mit Wasser zu füllen und untergehen zu lassen.

Nachdem ich die Seenot abgewandt hatte, betrat ich die Insel und lief freudestrahlend hinter ein paar Schweinen her, die mich merkwürdig gut unterhielten, indem sie panisch quiekend vor mir herliefen. Ich fühlte mich wie eines dieser verabscheuenswürdigen Kleinkinder, die im Bad Vilbeler Kurpark hinter Enten herrennen und es lustig finden, panisch schreiende Tiere vor sich herzutreiben. Das war kein gutes Gefühl. Also machte ich es wie bei den Kindern: Ich schob die Schuld auf die Eltern, die ihre Kinder nicht mehr zu vernünftigen Menschen erziehen können, weil sie nur noch auf ihre Smartphones starren. Ich schrieb meinen Eltern einen Beschwerdebrief, in dem ich ihnen androhte, mit ihrem Fehlverhalten an die Öffentlichkeit zu gehen und konzentrierte mich anschließend wieder auf »Sea of Thieves«, wo sich in dieser Sekunde herausstellte, dass panisch gewordene Schweine scheinbar ihre Rettung inmitten einer Horde Giftschlangen sehen. Ich wurde gebissen und musste mich erst einmal von all den Strapazen erholen, indem ich eine ungeschälte Banane aß.

Es war an der Zeit, die Insel zu erkunden. An der Stelle mit dem »X« fand ich eine Schatztruhe, die mich betrunken machte, sobald ich sie in Händen hielt. Ich trug sie torkelnd auf mein Schiff und setzte die Erkundung fort. In einer kleinen Höhle stieß ich auf ein paar Skelette, die mich angriffen, da sie eine weitere Truhe mit ihrem Leben verteidigen wollten. Ich schaffte es während einer rhetorisch anspruchsvoll geführten Grabrede, sie davon zu überzeugen, dass sie bereits tot und deswegen nicht mehr dazu in der Lage waren, etwas mit ihrem Leben zu verteidigen. Darum ließen sie es bleiben und verteidigten die Truhe stattdessen auf Kosten meines Lebens. Ich schwang meinen Säbel, Knochen flogen umher, ich gewann und trug die Kiste zurück auf mein Schiff.

Überwältigt von meinen Piratenfähigkeiten fuhr ich los in Richtung Heimatinsel, um meine erhaltenen Waren zu verkaufen. Meine Piratenfähigkeiten beeindruckten mich vor allem, als sie mich nach der Hälfte des Weges in die Fänge eines Riesenkraken führten. Das Wasser färbte sich schwarz, Tentakel umschlungen mein Boot. Dann wurde ich gepackt und fand mich in einem der Münder wieder, sie sich am Ende eines jeden Tentakels befanden. Mit meinem Säbel konnte ich mich zwar zurück in die Freiheit säbeln, doch landete ich unsanft im Wasser und konnte meinem Schiff nur noch beim Untergang zusehen. Das Einzige, was zurückblieb, waren die beiden Schatztruhen, die nicht weit von mir auftauchten und darauf warteten, von mir gerettet zu werden.

Man kann immer nur eine Truhe tragen. Da ich mich nicht betrunken vom Kraken entfernen wollte, griff ich zu der normalen Truhe und schwamm los in Richtung der einzigen Insel, die ich vor mir erblicken konnte. Es gelang mir tatsächlich, den Kraken hinter mir zu lassen. Fröhlich schwamm ich weiter, bis eine Flosse vor mir auftauchte, die sich als Teil eines Haifischs herausstellte, der mich mangels Wimpern ohne mit diesen zu zucken auffraß.

Ich erwachte auf einer Insel mitten im Nirgendwo. Ich stand an einem Strand und blickte auf mein Schiff. Zumindest dieses hatte »Sea of Thieves« mir gnädigerweise wieder zur Seite gestellt. Alles andere war verschwunden. Für immer? Dies wollte ich herausfinden. Zurück an Bord studierte ich die Karte. Ich hatte noch eine gute Vorstellung davon, wo ich auf den Kraken und dieser gegen mich gestoßen war. Wenige Minuten später fand ich mich in besagter Region wieder und fuhr auf und ab und fand: nichts. Meine Truhen waren verschwunden. Vielleicht. Vielleicht suchte ich auch an der falschen Stelle. Das Meer in »Sea of Thieves« ist groß und die Wellen machen alles unüberschaubar. Auf eine gute Weise. Meine Truhen waren jedenfalls weg. Dafür erregte ein helles Geblitze meine Aufmerksamkeit.

Es kam vom Strand einer nahegelegenen Insel. Ich fuhr hin und fand eine Flaschenpost mit einer Schatzkarte. Eine Insel. Ein »X«. Alles klar! Piratenroutine. Truhen mussten ersetzt werden! Ich setzte die Segel, mich ans Steuerrad und meine Reise fort. Ich erreichte eine neue Insel und ließ mein Boot diesmal in einiger Entfernung zum Strand ankern, da ich nicht wieder Löcher stopfen wollte. Ich schwamm an Land und fand eine Schatztruhe. Als ich sie aufhob, begann sie zu weinen. Ich konnte keine unmittelbare Gefahr feststellen, stellte die Truhe am Strand ab und suchte weiter. Wieder fand ich eine zweite Truhe. Auch sie brachte ich zum Strand. Zeit, abzukassieren. Zunächst brachte ich die weinende Truhe auf mein Schiff. Zurück am Strand nahm ich die zweite Kiste in die Hand und sah, wie mein Schiff unterging.

Traurige Truhen beginnen hin und wieder zu weinen, was das Schiff mit Tränenflüssigkeit füllt. Wer keinen Eimer zur Hand hat, um diese aus dem Schiff zu schöpfen, hat leider Pech gehabt. Wie ich. Ein weiteres meiner Schiffe befand sich auf dem Meeresboden. Ich schwamm hin und brachte die weinende Truhe zurück an den Strand. Eine Meerjungfrau erschien und bot mir an, mich zu einem neuen Schiff zu transportieren. Leider würde ich dadurch alle Truhen verlieren. Das sah ich jetzt mal überhaupt nicht ein. Eine Alternative musste her. Und diese fand ich in Form eines kleinen Ruderboots, das zufällig an einer abgelegenen Seite der Insel ankerte. Also nicht wirklich ankerte. Es hatte keinen Anker. Es war ein verdammtes Ruderboot.

Egal. Ich trug die Truhen zum Boot und vergewisserte mich, dass die nervige Heulsuse nicht auch dieses Wassergefährt gefährdete. Nein. Sie heulte und heulte, doch das Ruderboot hielt stand. Scheinbar kann sich in Ruderbooten kein Wasser sammeln. Logik hatte damit zwar nichts zu tun, doch das hatte sie im bisherigen Verlauf meiner Reise ehrlich gesagt noch nie gehabt. Ich fand mich damit ab, als Pirat mit Miniboot in die Annalen einzugehen, schwamm aufs Meer hinaus und geriet in einen Sturm, der mit Blitzen und gigantischen Wellen um sich warf und mir die letzten Überreste meiner mickrigen Orientierung nahm.

Irgendwann endete der Sturm. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Irgendwo sah ich eine Insel. Auf diese schwamm ich zu. An Land stieß ich auf einen hohen Berg, den ich erklomm, um mich umzusehen. Nach kurzer Zeit fiel mir etwas auf: Ich kannte diese Insel. Es war die Insel, die ich ganz zu Beginn meines Abenteuers betreten hatte. Die mit den ersten beiden Truhen. Die Truhen waren zwar nicht mehr anwesend, dafür kam aber mein Orientierungssinn zurück. Ich ging in mich und rief die Karte der Region in meinen Gedanken auf. Eine richtige Karte gibt es in »Sea of Thieves« lediglich an Bord des eigenen Schiffs. Und dort, wo dieses sich im Augenblick befand, war keine Karte mehr einsehbar. Ich wusste noch grob, wie ich die Insel von meinem Heimathafen aus erreicht hatte. Erst nach oben, dann nach rechts. Norden und Osten. Bezogen auf die Rückfahrt also: Westen und Süden. Ich griff zum Kompass, suchte Westen, stieg in mein Boot und fuhr los.

Mit der Zeit wurde es dunkel. Ich ruderte und ruderte. Bis ich vor mir eine Insel erkannte. Mit Lichtern. Vielen Lichtern. Es war ein Dorf. DAS Dorf? Ich wusste es natürlich nicht, aber ich wollte es versuchen. Was sollte ich auch sonst tun? Die Insel kam näher und näher. Die Lichter wurden größer und größer. Das Geheule der Truhe hörte ich schon gar nicht mehr. Dann begannen ein paar der Lichter, sich zu bewegen. Ich griff zum Fernglas und erblickte ein riesiges Schiff. Ein Schiff für vier Spielerinnen und Spieler, die gerade auf die Insel zufuhren, die ich erreichen wollte. Piraten. Echte Menschen. Verdammt.

Egal! Es wurde schon wieder heller. Ich wusste nicht, ob das jetzt gut für mich war, aber mal ehrlich? Wer achtet schon auf ein kleines Ruderboot? Kurz überlegte ich, die Truhe heimlich an Bord des anderen Schiffs zu schmuggeln, um ihm lachend beim Untergehen zuzusehen. Aber ich entschied mich dagegen. Ich wollte endlich einmal abkassieren. Ich machte einen großen Bogen um die Spieler, selbstverständlich nicht, ohne sie aus den Augen zu lassen. Segel wurden eingeholt. Leute sprangen umher. Ich musste mich zusammenreißen, mich nicht zu übergeben. Menschen, die Freude hatten, mit anderen Menschen zusammen zu spielen. Widerlich.

Mit dem Fernrohr erspähte ich den Laden, in dem man Schatztruhen verkaufen konnte. Ich fuhr darauf zu, rammte dabei eine Felswand, kam nicht mehr vorwärts, nahm die weinende Truhe, sprang ins Wasser, schwamm zum Laden und verkaufte sie. Das Gleiche wiederholte ich mit der anderen Truhe. Ich erhielt insgesamt etwa 1.000 Gold. Was wahnsinnig wenig ist. Aber ich hatte es geschafft. Ich hatte meine verdammte Reise hinter mich gebracht. Nach über zwei Stunden.

In »Sea of Thieves« gibt es keine Charakterentwicklung. Es gibt keine Skillpunkte. Keine besseren Waffen. Man kann lediglich sein Ansehen bei verschiedenen Gruppierungen steigern. Ansonsten gibt es zwar andere Waffen und Kleidungsstücke, diese verändern aber lediglich das Aussehen der Spielerinnen und Spieler und ihrer Ausrüstung. Man wird nicht besser. Man bekommt nicht »+2 auf Stärke«. Es werden keine Leisten gefüllt. Und dafür wird das Spiel von vielen Menschen kritisiert. Weil man am Ende einer Runde keine Fortschritte macht. Man kann alles verlieren und steht am Ende mit nichts da. Nach dem Krakenangriff hätte ich das Spiel beenden können und mich auf dem gleichen Stand wie vor dem Spielstart befunden. Die gleichen Items. Das gleiche Gold. Das gleiche Schiff. Ende.

Ende? Von wegen. Die ersten zwei Stunden in »Sea of Thieves« waren großartig. Weil ich eine fantastische Reise mit Höhen und Tiefen hinter mich gebracht habe. Diese zwei Stunden haben mir etwas ganz Besonderes gebracht: Eine Geschichte, die ich weitererzählen kann. Ein Erlebnis. Und das ist mir so unglaublich viel mehr wert als ein »Ich bin jetzt auf Level 6 und mache mehr Schaden.« Ich spiele Videospiele, weil ich etwas erleben will. Darum fallen mir Rezensionen auch so schwer. Ich brauche diese verdammten Geschichten, um etwas erzählen zu können. Das Chaos, das Risiko, die Orientierungslosigkeit, der Frust, der Spaß, der Zufall, die Schweine… was will ich denn mehr? Erfahrungspunkte? Für Erfahrungen wie »Töte drei Schlangen.«? Nein. Davon erzähle ich drei Tage später niemandem. Aber von meiner Reise in »Sea of Thieves«? Davon wollte ich unbedingt jedem erzählen. Weil sie so aufregend war. Zumindest für mich.

Ich habe keine Ahnung, was mich in den nächsten zwei Stunden mit »Sea of Thieves« erwarten wird. Vielleicht habe ich schon alles gesehen. Vielleicht wiederholt sich von nun an alles. Vielleicht spiele ich das Spiel nach weiteren zwei Stunden aus diesen Gründen auch nicht mehr. Das mag alles sein. Aber auch das ist mir im Grunde egal. Na gut, es wäre wahnsinnig schade. Trotzdem kann mir auch diese eventuelle Enttäuschung nicht die zwei Stunden kaputt machen, über die ich da oben so ausschweifend geschrieben habe. Diese Erfahrung kann mir keiner nehmen. Und das ist toll. Und darum ist »Sea of Thieves« toll. Und darum ist es toll, Videospiele zu spielen, die auch mal darauf verzichten, einen mit Leisten, Punkten und Verbesserungen zu bombardieren. Die ihren Spielerinnen und Spielern zutrauen, ihre Geschichten selbst zu suchen und zu erleben.

Für zwei Stunden war ich ein Pirat.

Kein erfolgreicher Pirat.

Aber ein Pirat.

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