Genürsel 2014 – 31/52 – Energie

Genürsel 2014 - 31/52 - Energie

Manchmal fehlt sie mir, die Energie. Zunächst wollte ich von der “verdammten” Energie sprechen, doch fühlte sich das falsch an. Ich will die Energie nicht verdammen. Ich will ihr gegenüber nicht unhöflich erscheinen. Ich will, dass sie mich mag. Und bei mir bleibt. Wobei das gar nicht so einfach ist, denn bevor sie bei mir bleiben kann, muss sie sich erst einmal wieder bei mir blicken lassen.

Manchmal fehlt sie mir, die Energie. An diesen Tagen sage ich mir: “Ich hätte Lust, einen Text zu schreiben!”, doch fange ich nicht damit an. Ich weiß dann oft nicht einmal genau, warum das so ist. Nein, es hat nichts mit der Prokrastination zu tun, über die man immer wieder Artikel oder gar ganze Bücher lesen kann. Ich schiebe nichts vor mir her, weil andere Dinge spannender und das Internet voller Ablenkungsmöglichkeiten steckt. Ich kann nur einfach nicht mehr die Energie aufbringen, mit etwas anzufangen. Obwohl in meinem Innern deswegen alles auf mich einbrüllt. “Tue dies!” “Tue jenes!” “Tue überhaupt etwas!” “Tue los!”

Ich weiß nicht, was ich von der häufigen Verwendung des Wörtchens “Tue” in meinem Inneren halten soll, doch habe ich mich damit abgefunden, dass mein Inneres in einem anderen Niveau zu mir spricht, als ich in meinen Texten zu meinen Leserinnen und Lesern. Vielleicht gibt genau dieser Umstand meinen Texten ja das gewisse Etwas. Oder hindert sie daran, dieses zu erreichen. Das hängt wieder einmal vom Leser ab. Wie immer. Lästig ist das. Kann ich nicht einfach nur für mich schreiben? Dazu möchte ich mich später noch einmal äußern.

Warum fange ich nicht an? Warum fehlt mir die Energie? Ist es Überforderung? Nein. Es geht nicht darum, weniger zu tun. Mich auf weniger zu konzentrieren. Aufgabenlisten zu verkleinern. Auch das würde nichts bringen und, um ehrlich zu sein, führe ich nicht einmal Aufgabenlisten. Aufgabenlisten machen mich nervös. Ohne sie fühle ich mich besser. Was nicht bedeutet, dass mir ihr Fehlen die nötige Energie schenkt, mit etwas anzufangen. Selbst wenn ich alles bis auf eine einzige Aufgabe streichen würde, zum Beispiel das Schreiben dieses Textes, würde ich diesen konzentrierten Rest nicht angehen. Ich würde ihn liegen lassen. Und nichts tun. Weil mir die Energie fehlt.

Wo ist sie hin, die Energie? Wo ist sie geblieben? Habe ich sie etwa bereits aufgebraucht? Haben über 500 Comics über gelangweilte Pinguine meinen Ideenvorrat geleert? Haben über 80 Genürsel und die vielen weiteren Texte meine Schreibkunst zerstört? Steht nach drei Büchern einfach kein viertes mehr in meinem Kopf herum? Habe ich meine kreativen Energien verbraucht? Früher musste ich mich nicht stundenlang dazu motivieren, Stift und Papier in die Hand zu nehmen, um einen Text zu schreiben, einen Comic zu zeichnen oder mit einem neuen Buch anzufangen.

Ja, stundenlang ist keine Übertreibung. Zwischen dem Entschluss, diesen Text zu schreiben, und dessen Umsetzung liegen tatsächlich Stunden. Um ehrlich zu sein, sogar Tage. Tage, in denen ich herum saß und daran dachte, endlich anzufangen. Nicht die Beine in die Hand zu nehmen und wegzurennen, sondern zu Stift und Papier zu greifen, mich daran festzuhalten, die Unlust an mir vorüberziehen zu lassen und in die Welt abzutauchen, in der ich mich früher immer so wohl gefühlt habe. Doch verweigert mir meine Hand den Dienst. Ihr fehlt es an Energie. Sie ist schließlich ein Teil von mir. Und wenn das große Ganze keine Energie mehr hat, haben das die Kleinteile erst recht nicht.

Vielleicht ist es ja Faulheit? Vielleicht habe ich einfach keine Lust mehr, etwas zu tun? Warum ein Buch schreiben, wenn man noch so viele Bücher anderer Autoren im Regal stehen hat, die gemütlich auf dem Sofa liegend gelesen werden möchten? Tja. Wann habe ich zuletzt ein Buch gelesen, das ich nicht im Rahmen meines Studiums lesen musste? Das ist lange her. Ja, ich gucke Filme und spiele Videospiele, doch fühlt sich auch das seit langer Zeit nicht mehr so gut an wie früher. Weil es das innere Geschrei nicht verstummen lässt. Es lenkt mich nicht ab. Es sorgt nur dafür, dass ich nicht verrückt werde. Dass ich mich mit anderen Dingen beschäftige, als mit der mir so sehr fehlenden Energie. Lieber einen Film gucken, als vor dem leeren Blatt Papier stehen und der Antriebslosigkeit in ihr bleiches Gesicht starren.

Nein, es ist keine Faulheit. Dann wäre das Geschrei in mir nicht so laut. Es ist Antriebslosigkeit. Antriebslosigkeit auf einem beängstigend hohen Niveau. Ich schaffe es nicht mehr, zu schreiben. Ich schaffe es nicht mehr, zu zeichnen. Ich habe keine Lust mehr auf diese Dinge. Genauso wie ich keine Lust mehr auf Videospiele, Filme oder Bücher habe. Oder darauf, mich mit anderen Menschen zu treffen. Oder darauf, irgendwas zu unternehmen. Ich sitze zu Hause, tue nichts und höre mir selbst dabei zu, wie ich wahnsinnig werde. Dass einen das nicht zu neuen Taten motiviert, sollte klar sein. Es ist eine Spirale, die leider abwärts führt. Was am unteren Ende wartet, kann einem Angst machen.

Wie schaffe ich es nur, die Abwärtsbewegung zu stoppen? Mich wieder aufwärts zu bewegen, wäre selbstverständlich das ultimative Ziel, doch sollte ich klein anfangen. Schon ein Stillstand wäre für mich erst einmal ein Fortschritt. Ein Fortschritt, den ich mir hart erarbeiten muss.

Was ich dafür definitiv nicht benötige, sind Lebensratgeber. “In zehn Tagen zu einem breiteren Lächeln.” “Endlich wieder glücklich.” “Der Weg in ein entspannteres Leben.” Sehe ich Bücher dieser Art vor mir in Buchhandlungen stehen, möchte ich wegrennen. Gleich nachdem ich die Buchhandlung angezündet habe. Die Vorstellung, sein Leben mit Hilfe eines Buches wieder in den Griff zu bekommen, ist in meinen Augen absurd. Ich will nicht abstreiten, dass Bücher dieser Art einem dabei helfen können, über sich selbst nachzudenken. Vielleicht versetzen sie dem einen oder anderen auch einen kleinen Stoß in Richtung Besserung. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht stellen sie Probleme wie Antriebslosigkeit auch als Lappalie dar, die man mit Hilfe eines einfachen Buches heilen kann. “Es ist doch alles nicht so schlimm. Lies dieses Buch und es wird dir besser gehen!”

Doch, es ist schlimm. Sehr schlimm sogar. Ich bin eine leere Batterie und habe mein Ladegerät verloren. Es wiederzufinden ist mein größtes Ziel. Denn hier liegt ja mein Problem: Ich will etwas tun, nur fehlt mir die Energie dafür. Der Druck ist zu groß. Was man vor vielen Jahren aus Spaß gemacht hat, ist plötzlich zum Beruf geworden und somit mit Zwängen verbunden, die zur Last werden können. Ich schreibe und zeichne nicht mehr für mich, sondern auch für andere. Wie werden die reagieren? Werden sie überhaupt reagieren? Was, wenn nicht? Was, wenn doch?

Denkt man als Mensch, der nicht gerne von anderen Menschen umgeben ist, darüber nach, wie andere Menschen über einen denken, produziert das Stress, Sorgen, Angst und allgemeines Unwohlsein, gegen die man jedes Mal ankämpfen muss, möchte man aktiv werden. Die daraus entstandene Wand ist schwer zu überwinden. Leider befindet sie sich in meinem Rücken, was es fast unmöglich macht, sich auf meiner Abwärtsspirale umzudrehen und in die andere Richtung zu laufen. Der Weg nach unten ist frei, der Rückweg versperrt.

Selbstverständlich stimmt das nicht. Der Rückweg ist nicht versperrt. Er ist nur mit Arbeit verbunden. Mit einem riesigen Haufen Arbeit, der sich nicht auf Papier, sondern in meinem Kopf befindet. Ich muss umdenken. Ich muss mich frei machen. Ich muss lernen, mit unangenehmen Ängsten zu leben. Ich muss mich auf mich konzentrieren, gleichzeitig aber auch den Umgang mit anderen Menschen erlernen. Ich muss Verhaltensweisen ablegen, die mich abwärts ziehen. Ich muss mich mit neuen, vollkommen anderen Dingen beschäftigen, um neue, vollkommen andere Energie zu tanken.

All das ist kein “Ab jetzt wird alles anders!”-Gerede. Dieses hält in der Regel nur kurzfristig an und ist mit einem “Ab jetzt mache ich alle Hausaufgaben sofort!” vergleichbar. Oder einem “Ab jetzt räume ich jeden Tag die Wohnung ein bisschen auf.” Also den Gedanken, die man beim Lesen eines Lebensratgebers bekommt. Besagte Gedanken zu bekommen, ist nicht schwer. Schwer ist es, sie auch umzusetzen. Jeden verdammten Tag. Ja, jeden “verdammten” Tag. Auch, wenn man es nicht will. Wenn sich der eigene Körper gegen einen stellt. Wenn er vor Angst keinen Schritt mehr geradeaus machen kann und lieber umdrehen möchte, um in einem feuchten Erdloch zu versinken. Man genau das aber nicht macht, sondern lieber Dinge im eigenen Leben ändert und umstellt, um sich nicht aus dem feuchten Erdloch zu ziehen, sondern gar nicht erst darin zu versinken. Oder stecke ich schon drin? Wenn ja: Wie tief? Moment. Ist das überhaupt wichtig?

Nein, ist es nicht. Es ist nicht wichtig zu sehen, wie weit man schon im Loch steckt. Wichtiger ist es, nicht weiter zu versinken. Sich nach und nach rauszuziehen. Und sich dann davon weg zu bewegen. Schritt für Schritt. Bis man endlich wieder verstanden hat, wie man das früher gemacht hat, das mit der Energie.

Genürsel 2014 - 31/52 - Energie

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