Als ich nach zehn ereignisreichen Jahren Frankfurt verließ und Bad Vilbel zu meiner neuen Heimat ernannte, war die Freude groß. Weg vom hektischen Großstadtleben und hin zur ruhigen Kleinstadtidylle. Aus etwa 710.000 Einwohnern wurden etwa 32.000 und mein von einer unangenehmen Sozialphobie durchrütteltes Inneres freute sich auf die eintretende Zeit der Ruhe, Erholung und Gelassenheit.
In den ersten Tagen nach meinem Umzug schlenderte ich durch die Parks von Bad Vilbel, folgte dem Lauf der Nidda und besah Sehenswürdigkeiten wie die Wasserburg. Die Wasserburg ist ein faszinierender Ort, an dem sich beispielsweise unzählige Enten tummeln, die hin und wieder in Viererrudeln auf einen zugestürmt kommen, um einem die Schnürsenkel zu öffnen, was zunächst schlimm klingt, jedoch die pure Erholung darstellt, wenn man es mit den Menschen auf der Frankfurter Zeil vergleicht, die auch gerne mal in Rudeln auf einen zugestürmt kommen, um sich mit einem über ihren Glauben zu unterhalten.
Was man an der Wasserburg ebenfalls gut kann: Anderen Menschen dabei zusehen, wie sie Nutrias zum Platzen bringen. Ist die Wasserburg ein faszinierender Ort, sind Nutrias faszinierende Tiere. Zunächst kann der Mensch mit ihnen angeben. Auf ein “In der Wasserburg leben Nutrias” folgt in der Regel eine kurze Pause, während der der Sprecher oder die Sprecherin die Hörerinnen und Hörer erwartungsvoll anstarrt und auf ihm oder ihr entgegenströmende Ahnungslosigkeit hofft. Wenige Sekunden später folgt dann ein “Das sind so etwas wie Biberratten.” und man freut sich, ein so kompliziertes Wort wie “Nutrias” zu kennen und es anderen Menschen beibringen zu können.
Das ist aber noch lange nicht alles, was Nutrias zu ganz besonderen Tieren macht. Nutrias lieben Menschen, da es zu deren Lieblingsfreizeitbeschäftigung gehört, Nutrias mit Futter zu bewerfen. Komme ich an der Wasserburg vorbei, erblicke ich Menschen, die Unmengen an Brot und vergleichbaren Lebensmitteln auf den Boden werfen, damit sich die Nutrias daran laben können. Nutrias lieben das Laben, weshalb man einige von ihnen nur noch als unglaublich fett bezeichnen kann.
Es ist nun wiederum schwer einzuschätzen, ob die Menschen die Nutrias genauso sehr lieben wie die Nutrias das durch besagte Zweibeiner ausgelöste Laben. In gewisser Weise ist davon aber auszugehen, denn warum sollten sie den dicken Nagern sonst so viel Essen mitbringen? Ein großer Vorteil in der Beziehung zwischen Mensch und Nutria ist, dass sich ihre gegenseitige Liebe ausschließlich dadurch bemerkbar macht, dass man überall auf dem Boden um die Wasserburg herum Brotkrümel findet. Diese Krümel können sogar andere Tiere ernähren und hinterlassen nach kurzer Zeit keine nennenswerten Rückstände. Dies kann leider von einer Beziehung zwischen zwei Menschen nicht behauptet werden. Die sich hier ergebenden Rückstände sind äußerst nervig und können ebenfalls rund um die Wasserburg entdeckt werden, und zwar an Metallgeländern: Vorhängeschlösser mit Namen von Verliebten.
Zurückzuverfolgen, wer damit angefangen hat, den eigenen Namen und den des beziehungsweise der Verliebten auf ein Vorhängeschloss zu schreiben und dieses anschließend an einer Brücke oder einem Geländer zu befestigen, mag möglich sein, ist aber eher eine Aufgabe für jemanden, der sich nicht ausschließlich auf dieses Thema bezieht, weil es ihm auf die Nerven geht. Warum es mir auf die Nerven geht? Das hat viele Gründe.
Das Metallgeländer an der Wasserburg gefällt mir, abgesehen von den Schlösser, sehr gut. Ein verschnörkeltes, aus Metallstangen konstruiertes Muster regt das Auge dazu an, es sich genauer anzusehen, einzelne Elemente zu finden, sich am komplexen Design zu erfreuen und es einfach ein bisschen auf sich wirken zu lassen. Zumindest war das früher mal der Fall. Mittlerweile hängen zig Schlösser am Geländer und stellen sich den Blicken der Betrachter entgegen. Es ist, als würde man von einem Herz umringt Namen in die Rinde einer Eiche ritzen und den Baum anschließend in einer Bobbahn platzieren. Irgendwie stört es.
Zumal viele der Schlösser alles andere als schön sind. Hin und wieder stößt man zwar auf welche, in die die Namen der Verliebten tatsächlich eingraviert wurden, doch ist das eine Seltenheit. In der Regel haben wir es hier mit Gegenständen zu tun, die aus dem elterlichen Hobbykeller entwendet, mit einem viel zu dicken Edding beschriftet und anschließend in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aufgehängt wurden. Mal war der Name eines Beziehungsteilnehmers zu lang für das kleine Schloss, mal der Stift zu dick, mal verschmierte das Ganze nach der Beschriftung und mal sieht das Schloss aus wie eine Schließvorrichtung, die zehn Generationen lang das Plumpsklo neben dem Schweinestall auf dem Familienhof vor ungebetenen Gästen schützte.
Doch natürlich haben wir es hier mit Symbolik zu tun. Das Schloss steht für eine langanhaltende Beziehung, die zwar von beiden Teilnehmern als langanhaltend eingestuft wird, aber gleichzeitig auch nicht als so langanhaltend, dass man gleich über eine Tätowierung nachdenken will. Ein Schloss kann immerhin mit einem Werkzeug entfernt werden, falls sich die Beziehung am Ende dann als doch nicht so nicht so ganz langanhaltend herausgestellt hat, wie man anfangs dachte.
Persönlich halte ich übrigens nicht viel davon, meine Beziehung zu meiner Frau mit etwas zu vergleichen, das an einem Metallgitter befestigt wird. Ich will mich nicht durch eine Beziehung an etwas Kaltes und Hartes gekettet sehen, von dem ich mich nicht mehr so einfach lösen kann. Vor allem dann nicht, wenn ich hin und wieder etwas vertrottelter Kerl den Schlüssel zum Schloss verloren habe. Auf einmal verwandelt sich ein “Ich mache Schluss.” in ein “Ich mache das Schloss ab.” und ich weiß nicht, ob ich mich damit anfreunden könnte. Bin ich dadurch unromantisch? Oder vielleicht auch gerade das Gegenteil? Weil mich eine Beziehung an schöne Dinge wie gemeinsames Entspannen denken lässt und nicht an die Zustände in einem Gefängnis?
Möglicherweise bin ich aber auch einfach aus dem Alter raus, in dem ich mit einer Beziehung öffentlich angeben will. Früher liefen ja immer all die frühreifen Liebespärchen aus der fünften Klasse händchenhaltend über den Schulhof, damit ihnen alle beim Händchenhalten zusehen und sie für diese Meisterleistung der kooperativen Körperchoreographie bewundern konnten. Heute unterstreicht man das eben zusätzlich mit dem Aufhängen von Vorhängeschlössern an öffentlichen Orten. Handelt es sich hierbei um ein weiteres Zeichen für den jährlich prophezeiten Untergang von Facebook? Hat man sich früher noch ins Internet begeben, um den Beziehungsstatus der oder des heimlichen Geliebten zu erfahren, geht man heute eben zum Geländer vor der Wasserburg in Bad Vilbel. “Ob Knatmulde noch immer mit Frudbold zusammen ist? Auf zur Burg!” Wenige Minuten später erblickt man das Vorhängeschloss der beiden, bricht heulend zusammen und schaut Nutrias dabei zu, wie sie Brotkrumen in die salzigen Tränenpfützen tunken, um ihrem Mittagessen die richtige Würze zu verleihen.
Oder trauert man gar nicht, sondern plant bereits einen Angriff auf die Beziehung? Heimlich wird während einer Vollmondnacht das Schloss entfernt und anschließend der dadurch ausgelöste Beziehungskrieg beobachtet. Knatmulde denkt, Frudbold hätte heimlich Schloss gemacht (eine Formulierung, die in der Zeit, in der dieses Beispiel spielt, in die Jugendsprache aufgenommen wurde, über die selbstverständlich auch in dieser Zeit noch von alten Menschen Bücher geschrieben werden, die sich über sie lustig machen), Frudbold denkt wiederum, Knatmulde hätte heimlich mit ihm Schloss gemacht und der eigentliche Übeltäter steht grinsend daneben und reibt sich die durch seine Metallallergie ganz rauen Hände mit Feuchtigkeitscreme ein, um sie auf das schon bald anstehende Händchenhalten vorzubereiten.
Nein, eine öffentliche Zurschaustellung will ich nur zu gerne vermeiden. Auch möchte ich vermeiden, dass durch von Einsamkeit hervorgerufene Frustration geplagte und deswegen ziemlich betrunkene Menschen sich auf das Symbol meiner Beziehung entleeren. Dann doch lieber eine Tätowierung. Dass auf dieser ohne mein Wissen Urin landet, ist äußerst unwahrscheinlich.
Was machen Menschen wie ich nun, wenn sie an all den Gittern der Welt Schlösser voller Namen sehen? Selbstverständlich lassen sie sie in Ruhe. Ich pinkle sie nicht an, entferne sie nicht, rege mich nicht über sie auf. Ich schüttel nur den Kopf und stelle mir vor, wie irgendwann alle Brücken der Welt unter dem Gewicht der Symbole menschlicher Beziehungen zusammenstürzen und die Pärchen unter sich begraben. Manchmal gehe ich auch zu den Schlössern, gucke sie mir genauer an, lese die Namen auf ihnen und lache über besonders skurrile, lustige oder uninspirierte. Normalerweise mache ich mich nicht über Namen lustig, da ihre Träger in der Regel nichts für sie können, doch handelt es sich hier um eine Ausnahme. Wer ein Liebesschloss in aller Öffentlichkeit aufhängt, der muss wohl oder übel meinen Spott ertragen.
Manchmal denke ich mir auch Gesetze aus, die das Anbringen von Schlössern eindämmen könnten. Dabei mache ich es mir selbstverständlich nicht so leicht, die Aktion einfach zu verbieten. Das wäre zu einfach. Hier ein Beispiel für ein Gesetz gegen die Schlösser:
Per Gesetz darf die Waffenindustrie Munition nur noch aus dem Metall eingesammelter und eingeschmolzener Liebesschlösser herstellen.
Was folgt aus diesem Gesetz? Durch öffentlich zur Schau gestellte Liebesbekundungen werden irgendwo auf der Welt Menschen erschossen. Wer sich dagegen in aller Stille über seine Beziehung freut, rettet Menschenleben. Ich glaube, dass ein solches Gesetz viel ändern und die Welt zu einem besseren Ort machen könnte.
Alternativ könnte man den Liebenden gestatten, statt Schlösser aus Metall kleine Kränze aus Brotresten herzustellen, darin ihre Namen zu hinterlassen und sie nur wenige Zentimeter über dem Boden aufzuhängen. So würde man als Unbeteiligter die Kränze nicht bemerken, sie würden aber gleichzeitig Nutrias dazu dienen, noch fetter zu werden und Menschen dadurch noch mehr zu lieben. Ganz ohne diese Liebe durch das Aufhängen von Metallschlössern zu äußern.