Genürsel 2014 – 04/52 – Wette

Genürsel 2014 - 04/52 - Wette

Der erste Tag meiner Semesterferien läuft nun schon seit acht Jahren immer gleich ab: Ich mache eine Ballonfahrt. Jeden Montag startet im Frankfurter Stadtwald der Wetteballon, in dessen Korb man hoch über den Dächern Frankfurts Sportwetten abgeben kann. Da sitzt man mit anderen Sportwetteninteressierten in einem riesigen Wetteballonkorb aus besten Flechtmaterialien und ruft per Mobiltelefon Sportwetteninternetseiten auf.

Auf diesen Seiten meldet man sich über Links an, die man vom Piloten erst im Korb mitgeteilt bekommt. Der Pilot erhält von den Internetseitenbetreibern nämlich eine Provision, um mit diesen Einnahmen die Rasierwasserindstrie zu unterstützen. Wir wiederum erhalten ein Startkapital, um die ersten Wetten platzieren zu können und die Wettsucht in jedem von uns zu wecken

Wetten läuft bei mir immer gleich ab: Ich suche mir die sichersten, schon bald ablaufenden Wetten heraus, platziere den Minimalbetrag auf den Sieger und warte. So habe ich schon bald dreihundert Wetten gleichzeitig laufen und immer etwas zu tun, während der Veranstalter wiederum mit einem riesigen Megaphon bewaffnet versucht, die Menschen unter uns davon zu überzeugen, dass wir keine Außerirdischen sind und sie das Geschieße einstellen können.

Selbstverständlich ist mein Wettsystem nicht wasserdicht. Bei einem Sieg erhalte ich nur einen Bruchteil des Einsatzes zurück. Eine einzige Niederlage schmerzt, ein einzelner Sieg dagegen ist fast nicht zu spüren. Man freut sich eher darüber, nichts verloren zu haben und dass die Menschen auf dem Erdboden trotz der Verbreitung von Schützenvereinen dann doch ziemlich schlechte Schützen sind. Ein Tipp: Wenn ein UFO über eurer Stadt erscheint, greift nicht sofort zur Flinte. Das könnte als unfriedlicher Akt verstanden werden.

Ich gebe es zu: Ich interessiere mich gar nicht für Sportwetten. Ich finde lediglich das Ballonspektakel unglaublich spannend. Wie der mit Panzerglas verstärkte Korbboden unter den einschlagenden Schüssen vibriert, ist besser als jede Pomassage. Das dabei entstehende Geräusch erinnert an einen Hagelsturm, den man am Kamin und am Fenster sitzend mit einem Buch in der Hand und einem warmen, feuchten Teebeutel im Mund genießt, während den bei Wind und Wetter joggenden Extremsportlern die Schädeldecken zerschlagen werden.

Hin und wieder fliegen ein paar der abgegebenen Schüsse am Korb vorbei und in den Ballon hinein, der daraufhin ein erheiterndes Zischen von sich gibt. Es ist, als würde er den Menschen unter sich signalisieren wollen, dass sie zu laut sind. Hätte er einen Mund und einen Zeigefinger, würde er letzteren in diesen Momenten sicherlich erhoben zu ersterem führen. Leider hat der Wetteballon weder Finger noch Mund. Aber das ist nicht schlimm. In meiner Vorstellung hat er beides. Und noch viel mehr. Augen zum Beispiel. Augen, mit denen er entspannt auf uns alle hinuntersieht.

Wirklich still wird es im Wetteballonkorb nur selten. Meistens immer dann, wenn wir durch eine Wolke fliegen und uns die panischen Erdbodenbewohner aus den Augen verlieren. Dann lässt sich der Pilot immer mit einem Seufzen auf den Hosenboden fallen, schließt die Augen und entspannt sich, während wir durch den uns umgebenden Nebel angestrengt versuchen, die Bildschirme unserer Telefone nicht aus den Augen zu verlieren. Man will ja nicht aus Versehen eine falsche Wette platzieren. Das Ende einer Wolke kündigt sich immer mit dem langsam einsetzenden Kugelhagel an, gefolgt vom Stöhnen des Piloten, der sich wieder erhebt und zum Megaphon greift. Ein bisschen tut er einem ja schon leid.

Zurück zu den Sportwetten. Das ganze endet jedes Mal in einem Desaster. Ich verliere mehrere tausend Euro. Immer. Seit acht Jahren habe ich den Wetteballon noch nie mit einem Gewinn verlassen. Zumindest nicht mit einem finanziellen. Mit einem menschlichen? Selbstverständlich. Menschlich habe ich bisher nach jeder Ballonfahrt eine neue Stufe erreicht. Darum ärgere ich mich auch nicht über meinen Verlust. Er ist tragbar. Ich bin schließlich ein besserer Mensch geworden.

Die Landung ist jedenfalls noch mal ein ziemlich nervenaufreibender Moment. Meistens ergibt sie sich früher als geplant, weil der Ballon durch all die auf ihn abgefeuerten Schüsse die Luftdurchlässigkeit eines luftdurchlässigen Gegenstandes angenommen hat. Irgendwann können wir uns nicht mehr am Himmel halten und stürzen ab. Der Aufprall fällt heftig aus, ist aber nichts im Vergleich zu den Prügelattacken, die wir über uns ergehen lassen müssen, wenn die bewaffneten Menschenhorden uns erreicht haben und uns die außerirdischen Gesichter einschlagen. Selbstverständlich klärt sich das Missverständnis nach spätestens drei bis vier Toten auf, man lacht, umarmt und küsst sich, und geht daraufhin getrennte Wege.

Frisch gestärkt habe ich nach einer solchen Reise im Wetteballon den gesamten Unistress hinter mir gelassen und den Kopf frei. So lasse ich den Rest der Semesterferien ganz entspannt auf mich zukommen. Mit Sportwetten beschäftige ich mich selbstverständlich erst wieder, wenn die nächste Ballonfahrt ansteht. Ich bin ja nicht bescheuert.

Genürsel 2014 - 04/52 - Wette

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