Als ich mich vor einiger Zeit an der Frankfurter Goethe-Universität einschrieb, um dort Germanistik zu studieren, musste ich eine beglaubigte Kopie meines Abiturzeugnisses einreichen. Kennt ihr dieses merkwürdige Angstgefühl, das einen gerne mal ganz plötzlich übermannt? Es taucht wie aus dem Nichts auf und nistet sich bei einem in den Kopf ein. Man denkt auf einmal über Dinge nach, die man eigentlich schon seit Jahren verdrängt hat. Zum Beispiel: “Wo zum Teufel soll ich eine beglaubigte Kopie meines Abiturzeugnisses herbekommen?” Meine Schullaufbahn hat mir ja vieles beigebracht, eine Sache aber leider nie: Ordnung halten. Vor allem was wichtige Dokumente betrifft.
Nach einigen Minuten der Verzweiflung stellte sich dann aber zum Glück heraus, dass ich tatsächlich eine beglaubigte Kopie meines Abiturzeugnisses besaß. Sie befand sich in einem Ordner mit der Aufschrift: “Zeugnisse”. Glaubt mir: Ich war auch überrascht. Breit grinsend wollte ich gerade bei fremden Leuten an der Haustür klingeln und ihnen erzählen, dass ich wohl doch endlich erwachsen geworden bin, dann fiel jedoch ein altes Zeugnis aus dem Ordner heraus und erregte meine Aufmerksamkeit. Natürlich stimmt das nicht. Aus dem Ordner fiel gar nichts heraus. Ich weiß aber nicht mehr, warum sich mein Blick auf das alte Zeugnis verirrt hatte und darum erfinde ich eben eine kleine Geschichte dazu.
Jedenfalls lag da also dieses Zeugnis auf dem Boden. Es war das Abschlusszeugnis der zwölften Klasse, zweites Halbjahr. Ich war erstaunt. So schlecht hatte ich meine Leistungen gar nicht mehr in Erinnerung. Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, dass meine Eltern während meiner Abiturzeit vielleicht einmal das falsche Kind aus der IKEA-Kinderabgabestelle abgeholt hatten und ich danach bei einer fremden Familie aufgewachsen war, erinnerte ich mich zum Glück an die Begründung für diese schlechten Noten: Ich hatte die zwölfte Klasse wegen schlechter Noten freiwillig wiederholt! Die Erkenntnis traf mich so plötzlich, dass ich den Rest des Tages über diese Zeit nachdenken musste.
Ich war die ersten elf Jahre meiner Schülerkarriere definitiv kein schlechter Schüler gewesen. Nach der Grundschule ging es ans Gymnasium und dort blieb ich dann bis zum Ende. Nur eben mit einer “Ehrenrunde”, wie man so schön sagt. Diese Ehrenrunde am Ende der zwölften Klasse hätte ich übrigens gar nicht in Angriff nehmen müssen. Das Schuljahr hätte ich geschafft. Ich wiederholte freiwillig. Weil ich mit einem einzigen Fach überhaupt nicht zufrieden war. Meinem Englisch-Leistungskurs.
Als es um die Wahl der Leistungskurse ging, entschied ich mich damals für Deutsch und Englisch. Über Ersteres hatte ich nicht lange nachdenken müssen. Zweiteres wählte ich, weil ich mich in der Sprache sicher fühlte. Ich guckte häufig Filme und Serien auf Englisch und auch Videospiele dieser Sprache konnte ich verstehen. Wie falsch man doch liegen kann. In dem nun folgenden Jahr lernte ich schnell, dass ein großer Unterschied zwischen dem Sprechen beziehungsweise Verstehen einer Sprache und dem Nutzen einer Sprache für Analysen und ähnliche Dinge besteht. Im Grunde hatte ich ein und denselben Kurs lediglich in zwei unterschiedlichen Sprachen belegt. Sowohl in Deutsch als auch in Englisch ging es nicht darum, die jeweilige Sprache zu lernen, sondern sie zu nutzen, um zum Beispiel Texte zu analysieren. Und dafür war mein Englisch nun wirklich nicht gut genug.
In meiner ersten Klausur erhielt ich ein “ausreichend” mit dem wohl längsten Minus, das ich in meinem Leben gesehen habe.
Ich sah den Stich als Warnung an. Hier lag offensichtlich die Grenze, die nicht übertreten werden sollte. Mein Fuß befand sich direkt auf ihr. Ich strengte mich an, lernte und erhielt aus Dank in der Folgeklausur eine glatte Fünf.
Nun, dass ein solches Resultat nicht gerade motivierend auf mich wirkte, sollte klar sein. Die nächste Fünf überraschte mich schon fast gar nicht mehr.
Obwohl ich jetzt so locker über all das schreibe, sollte klar sein, dass mich diese Noten damals ziemlich fertig machten. Ich war wie schon gesagt kein schlechter Schüler. Ich machte immer das Nötigste. Kein anderes Fach gefährdete meine Versetzung. Die schlechten Noten konnte ich rechnerisch durch bessere Noten in anderen Fächern problemlos ausgleichen. Meine Versetzung war zu diesem Zeitpunkt nicht gefährdet. Dennoch handelte es sich hier um meinen Leistungskurs. Ein Fach, das man eigentlich besucht, weil man sich sicher darin fühlt und Punkte in im sammeln will. Wirklich etwas zusammenbekommen hatte ich hier definitiv nicht. Das ärgerte michund ich begann, nachzudenken.
Im zweiten Halbjahr erlebte ich zunächst eine Überraschung in Form eines “ausreichend” mit einem Plus am Ende.
Immer noch nicht toll, aber schon mal ein Anfang. Ich sah die Rettung vor mir. Würde ich mich vielleicht noch einmal am Schopfe packen und aus dem Notensumpf ziehen können? Die nächste Klausur beantwortete die Frage ziemlich eindeutig.
Eine Fünf Minus stellt bis heute die schlechteste Note dar, die ich jemals in einer Klausur erhalten habe. Spätestens hier bemerkte ich, dass ich mir dank des falsch gewählten Leistungskurses alles kaputt gemacht hatte. Darum zog ich die Notbremse und beschloss, die zwölfte Klasse zu wiederholen.
Nach dieser Entscheidung war ich einige Zeit lang ziemlich schlecht drauf. Wenn man sich das Zeugnis dieses zweiten Halbjahres ansieht, dann bemerkt man schnell, dass ich nicht mehr bei der Sache war. Selbst im Deutsch-Leistungskurs erhielt ich in meiner letzten Klausur eine Fünf. Normalerweise sahen meine Noten hier anders aus. Als ich meinem Deutschlehrer erzählte, warum ich in den letzten Wochen des Halbjahres so abwesend gewesen war, nickte er überrascht. Ihm war mein Leistungsabfall natürlich nicht entgangen und er hatte mich darauf auch mal ansprechen wollen. Er konnte meine Wiederholungsentscheidung jedoch nachvollziehen und wünschte mir alles Gute.
In Englisch kann man nicht von einem Leistungsabfall reden. Hier blieb im Grunde alles beim Alten. Meine letzte Englisch-Leistungskurs-Klausur endete erneut mit einer Fünf und einem dicken Minus.
Natürlich bereitete mir meine Entscheidung damals Bauchschmerzen aber irgendwie wusste ich, dass ich meinen Leistungskurs nicht mehr retten konnte. Der gesamte Unterricht fand auf einem Niveau statt, das mich überforderte. Dies zu erkennen tat weh, war aber wichtig. Ich machte im zweiten Anlauf einen großen Bogen um Englisch und entschied mich lieber für einen Leistungskurs in Sozialwissenschaften, was ich bis heute nicht bereut habe.
Letztendlich bestand ich nach meiner Ehrenrunde mein Abitur ohne Probleme und wenn ich mir mein Abschlusszeugnis ansehe, dann bin ich wirklich froh über meine damalige Entscheidung. Wenn ich nicht wiederholt und meinen Englisch-Leistungskurs doch noch irgendwie gerettet hätte, wäre meine Durchschnittsnote am Ende ziemlich schlecht gewesen und wer weiß, ob ich so überhaupt an die Universität gekommen wäre. Das ist jetzt natürlich eine große “was wäre wenn”-Überlegung, da bei der Universitätsbewerbung auch noch andere Dinge eine Rolle spielen und eigentlich bin ich kein Freund solcher Spekulationen, dennoch ging mir genau das durch den Kopf, als ich die Aufnahmebestätigung der Universität in Händen hielt.
Tja, was soll ich abschließend sagen? Vielleicht: “Nehmt die Schule wenigstens in der entscheidenden Abiturphase ernst!”? Möglich. Aber wer bin ich, dass ich mich in das Leben anderer Leute einmische? Ich nahm das Ganze ja damals schon im ersten Anlauf ernst. Geholfen hat es nicht. Natürlich ist der Ratschlag ziemlich gut. Aber das ist “Seid nett zueinander!” auch. Viel wichtiger ist es wohl, eine Fehlentscheidung frühzeitig zu erkennen und daraufhin schnell zu handeln. Auch wenn das bedeutet, dass man ein Jahr an der Schule wiederholen muss. Jahre nach dem Abitur ist das sowieso vollkommen egal. Da hat man ganz andere Sorgen und denkt über andere Dinge nach als eine Ehrenrunde. Zum Beispiel: “War es wirklich nötig, die Noten meiner Englischklausuren auszuschneiden und auf einen DIN-A4-Zettel zu kleben, um sie niemals zu vergessen?”