Wie ich durch Zufall zum Wrack wurde

Was ich in meinem Leben nur ungern verlieren möchte, ist mein Interesse. Mein Interesse am Unbekannten. Sich Fremdem zu nähern und es sich genauer anzusehen ist toll. Zumindest dachte ich das bisher. Seit einigen Minuten sitze ich wimmernd in meiner Badewanne und habe Angst. Vor meinen neu entdeckten Fähigkeiten und der daraus entstandenen Verantwortung. Aber ich sollte von vorne beginnen.

Psychologie ist ein Bereich, der einem nicht nur viel über andere Menschen, sondern auch über einen selbst verraten kann. Wie verhält man sich in Extremsituationen und warum? Wovor hat man Angst? Was lösen bestimmte Dinge in einem aus? All diese Fragen können beantwortet werden, wenn man sich an die richtigen Personen wendet. Aber auch man selbst kann in die Rolle eines Psychologen schlüpfen. In Internetforen wird man zum Beispiel von Ratschlägen aufdringlicher Besserwisser förmlich erschlagen und jeder meint, etwas über den Anderen zu wissen, weil er ein kluges Köpfchen ist oder schon einmal etwas zu dem Thema im Fernsehen oder einem Fachmagazin gesehen hat. Natürlich sollte man diese Amateurpsychologen stets lauthals auslachen und beschimpfen. So können sie einen wenigstens abwertend in eine Idiotenschublade analysieren, in der man dann mit Gleichgesinnten ausgelassene Verrücktenfeten veranstalten kann, zu denen die Psychologienieten niemals eingeladen werden.

Ich halte mich meistens fern von Fremdanalysen. Ich denke mir hier und da natürlich meinen Teil, behalte meine Ergebnisse aber in der Regel für mich. Schließlich will ich feiern. Aufgrund meines oben beschriebenen Interesses ergab es sich nun jedoch, dass ich mit einem “Gedankenprotokoll” in Kontakt kam. Da man damit nur sich selbst analysiert, wollte ich es mir selbstverständlich genauer ansehen. Was ein Gedankenprotokoll ist, werde ich nun kurz erklären:

Mit Hilfe des Protokolls hält man seine Gefühle und Stimmungen während ungewöhnlicher Situationen im eigenen Leben fest. Hier mal ein ausgedachtes Beispiel: Ich fühle mittags ein Stechen in der linken Brust und habe panische Angst, plötzlich an einem Herzinfarkt zu sterben. Ich werde nervös, kann mich auf nichts anderes mehr konzentrieren und der Tag ist im Grunde gelaufen. Abends (oder wann auch immer ein Tag für einen endet) setzt man sich dann in aller Ruhe vor dieses Protokoll und denkt über das eben beschriebene Erlebnis nach. Dabei helfen einem verschiedene Spalten.

In Spalte 1 kommen die Fakten. “Etwa 13 Uhr, zu Hause, war alleine, Schmerzen in der linken Brust.”

Spalte 2 beinhaltet die Gefühle und Stimmungen: “Todesangst, Panik, nervös, sehr starke Gefühlsschwankungen.”

Nun folgt die Bewertung der Situation in Spalte 3: “Ich dachte, ich würde jeden Moment umfallen und sterben.”

Als nächstes nimmt man diese Gedanken und sucht Punkte, die FÜR dieses Urteil sprechen: “Herzfehler in der Familie, eigene Herzuntersuchung ergab leichte Schwächen”.

In der nächsten Spalte sammelt dann Erfahrungen, die DAGEGEN sprechen: “Rückenschmerzen, Ziehen eher im Rücken, als am Herzen, war heute schon Joggen und hatte keine Probleme.”

Anhand dieser Analyse muss man die beschriebene Situation nun neu beurteilen und kommt so vielleicht zu dem Ergebnis, dass man überreagiert hat und ist, sollte der Fall erneut eintreffen, ein wenig ruhiger.

Die Herangehensweise an ein solches Thema fand ich so interessant, dass ich es gerne einmal ausprobieren wollte. Leider fiel mir spontan kein geeignetes Thema ein. Es war etwa 1 Uhr Nachts und ich hatte den Tag über nichts aufregendes erlebt. Um nachzudenken tat ich das, was ich immer tue, wenn ich nachdenken möchte: Ich ging auf die Toilette. Aber selbst nach einer halbstündigen Sitzung fiel mir einfach nichts ein, was ich in diese Liste eintragen konnte. Also erhob ich mich von meinem Darmthron und wollte das Thema schon wieder vergessen, als plötzlich während der Spülung ein Gluckern aus der Wanne ertönte.

Zunächst erschrak ich. Oh nein. Rohrbruch. Wasserschaden. Überschwemmung. Verdammt. Ich wurde panisch. Wenn ich etwas nicht wollte, dann eine nasse Wohnung. Ich musste etwas unternehmen. Ich sah vereinzelte Haare in der Wanne liegen, die ich umgehend entfernte. Dann popelte ich mit einem Taschentuch im Wannenabfluss herum, um auch dort jedwede Behaarung zu vernichten. Zuletzt griff ich noch zum Pümpel (ich nenne das Ding übrigens “Stötzel”, was aber eine ganz eigene Geschichte verdient hätte) und pümpelte der Wanne die Seele aus den Rohren. Nachts um 1. Ja, ich hatte ein wenig überreagiert. Als ich das realisierte, machte ich Luftsprünge, rannte an meinen Schreibtisch und füllte aus:

Spalte 1: 1 Uhr, Bad, allein, Toilette abgezogen, aus Wanne ertönte ein Gluckern.
Spalte 2: Nervosität, leichte Panik, sofort gepümpelt, trotz Uhrzeit, hin und her gelaufen.
Spalte 3: Angst vor Rohrbruch und Wasserschäden.
Spalte 4: –
Spalte 5: Lange nicht mehr gepümpelt, Abfluss voller Haare, nicht zum ersten Mal passiert, kam schon einmal mit Waschbecken und Wanne vor.
Spalte 6: Ruhe bewahren, morgen früh sofort alle Abflüsse pümpeln und dann abwarten.

Schön. Ich hatte das Protokoll ausgefüllt und fühlte mich besser. Ich bin tatsächlich ungewöhnlich nervös gewesen und realisierte, dass ich überreagiert hatte. Mit dieser Ruhe ging ich dann ins Bett und schlief.

Morgens wurde ich von Wassergeräuschen geweckt. Schlaftrunken wankte ich ins Bad und wäre vor Schreck fast ertrunken. Von der Decke strömte mir ein Wasserstrahl entgegen. Der Boden war nass und es stank nach abgestandenem Wasser. Vermieter angerufen, Bewohner über mir benachrichtigt, viel hin und her und nach etwa zwei Stunden stellte sich heraus: Die Toilette in der Wohnung über mir war verstopft.

Als die Situation geklärt war, setzte ich mir einen Kaffee auf und mich an den Schreibtisch. Dort sah ich es liegen: Das Gedankenprotokoll. Ich sah den Strich in Spalte 4, stand auf, zog mich aus, setzte mich in die Badewanne und begann zu weinen. Aus großer Kraft folgt große Verantwortung. Ich weiß nicht, ob ich damit umgehen kann.

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