Perfektion in Grautönen

Perfektion in Grautönen

Seit zwei Wochen habe ich “Dragon´s Dogma” nicht mehr angerührt. Ich spielte es vor mehreren Monaten zum ersten Mal, legte dann jedoch eine längere Pause ein. Vor kurzem überkam mich mal wieder die Lust auf das Spiel und ich startete es erneut. Trotz einer Spielzeit von etwa zwanzig Stunden erstellte ich einen neuen Charakter und begann von vorne. Diesmal jedoch auf dem höchsten Schwierigkeitsgrad, da ich das Kampfsystem des Spiels sehr mag, es aber lediglich während Kämpfen gegen größere Gegner zum Einsatz kommt. Ansonsten reicht in der Regel stumpfes Draufhauen und Blocken. Das wollte ich ändern. Zweiundsechzig Stunden im Spiel stand ich dann vor einer Entscheidung: Auftrag A oder Auftrag B?

Auftrag A hatte ich bereits während meiner ersten Spielrunde vor mehreren Monaten erledigt. Jemand war in einen Wald gerannt und ich sollte diesen Jemand nun suchen gehen. Keine besondere Aufgabe und nichts Spektakuläres. Die Alternative lieferte mir ein Auftrag in der Hauptstadt des Spiels, der mich ein Gewölbe unter besagter Stadt erforschen lassen wollte. Ich entschied mich für B, da ich den Auftrag noch nicht kannte, er meinen letzten großen Auftrag in der Stadt darstellte und ich mich anschließend sowieso in Richtung Auftrag A begeben wollte.

Als ich Auftrag B beendete, erhielt ich meine Belohnung. Anschließend das genaue Gegenteil: “Auftrag abgebrochen” erschien plötzlich auf dem Bildschirm. Auftrag A war nicht mehr lösbar. Warum dies geschah, kann ich nicht erklären. Beide Aufträge hatten nichts miteinander zu tun und es war auch nicht ersichtlich, dass hier eine Verbindung bestand. Irgendwie war das Spiel der Meinung, mir nach dem Lösen von Auftrag B Auftrag A nicht mehr anbieten zu können.

Ich betätigte die Tastenkombination ALT+F4, startete “Dragon´s Dogma” erneut und stellte fest, dass ein automatisch angelegter Speicherpunkt dafür sorgte, dass ich nie wieder zurück zu dem Zustand kommen werde, der mich vor die Wahl zwischen A und B stellt. In “Dragon´s Dogma” gibt es nur einen Spielstand. Ältere Spielstände gibt es nicht. Das Spiel speichert automatisch. Seit diesem Tag steht ein gescheiterter Auftrag rot in meinem Tagebuch und seit diesem Tag habe ich “Dragon´s Dogma” nicht mehr gespielt.

Ich leide an einer Art Zwangsstörung, die ich der Einfachheit halber mit “krankhaftem Perfektionismus” beschreiben möchte. Sie sorgt dafür, dass mir das Denken in Grautönen schwerfällt. Irgendwann kam ich an einen Punkt in meinem Leben, an dem ich Hilfe benötigte, die ich mittlerweile auch bekomme. Das bedeutet, dass ich während manchmal unglaublich anstrengender Therapiestunden und vor allem in der Zeit zwischen diesen Stunden über viele Dinge im eigenen Leben nachdenken muss. Dabei wurde mir klar, wie mir dieser verdammte Perfektionismus die Freude an vielen Videospielen genommen hat. Lasst mich einfach mal ein paar Beispiele aufzählen, um euch zu zeigen, was genau ich meine.

“Ni No Kuni” reiht sich in die große Liste meiner Lieblingsspiele ein. Ich habe unglaublich viele schöne Stunden mit dem Spiel verbracht und eine meiner Meinung nach genauso schöne Textreihe über das Spiel verfasst. Nach Teil fünf kam kein neuer Text mehr. Dabei hatte ich in diesem doch angekündigt, dass ich das Kreaturenkompendium vervollständigen wollte. Und? Was ist draus geworden? Nichts. Eines Tages stellte sich heraus, dass ich einem Monster nicht begegnet bin, dem man lediglich während einer ganz bestimmten Sequenz begegnen konnte. Dieses Monster hatte ich übersehen. Und es war auch nicht mehr möglich, ihm im Nachhinein zu begegnen. Somit klaffte eine Lücke in meinem Kreaturenkompendium. Ich konnte nicht mehr weiterspielen. Es war unmöglich. Denke ich heute zurück an “Ni No Kuni”, zieht sich mein Unterleib zusammen. Und das meine ich wörtlich. Ich verkrampfe. All die schönen Erinnerungen verblassen. Ich kann nicht einmal mehr meine eigenen Texte in Ruhe lesen, weil ich nervös werde, wenn ich mich an diese eine verdammte Scheißlücke erinnere. Seit sich die Lücke auftat, habe ich “Ni No Kuni” nicht mehr starten können. Dabei gab es noch so viel zu entdecken.

Als “Diablo 3” Saisons einführte, war ich Feuer und Flamme. Einen neuen Charakter beginnen, das Spiel durchspielen, Ziele erledigen und am Ende einer Saison eine einzigartige Belohnung einheimsen? Auf geht´s! Ich habe nie nachgesehen, aber es würde mich nicht wundern, wenn sich meine Spielzeit in “Diablo 3” im vierstelligen Stundenbereich bewegt. Oder zumindest ziemlich nah dran ist, dies zu tun. Dann verpasste ich das Ende einer Saison und somit auch die Belohnung. Ich beendete das Spiel und startete es monatelang nicht mehr. Einige Zeit später versuchte ich es noch einmal und spielte ein wenig – mittlerweile waren viele Saisons durchs Land gezogen -, doch hielt ich es nicht mehr aus. Der Gedanke daran, bei einem meiner Lieblingsspiele nicht jede mögliche Belohnung erhalten zu haben, sorgte erneut für Krämpfe. Seitdem habe ich “Diablo 3” nicht mehr angerührt. Denke ich an das Spiel, verkrampfe ich.

“Stardew Valley” hat mich, wie so viele andere Menschen da draußen, ziemlich überrascht. Was für ein wundervolles Spiel. Ich war so begeistert, dass ich mich kurzerhand dazu entschloss, eine Textreihe zu beginnen. Nach jeder Jahreszeit wollte ich berichten, was geschehen war. Dies tat ich. Im Frühling und im Sommer. Als ich den Herbst im Spiel beendet hatte, setzte ich mich an den Rechner, um zu schreiben. Aber irgendwie kam ich an dem Tag nicht so richtig in den Text rein. Also versuchte ich es am nächsten Tag erneut. Und am nächsten und am nächsten und so weiter. Irgendwie wollte es nicht funktionieren. Somit konnte ich auch nicht mehr weiterspielen. Ich wollte schließlich erst spielen, wenn das Schreiben erledigt war. Ich wollte während des Schreibens nicht bereits wissen, was passieren würde. Ich wollte auch nicht plötzlich einen Text über zwei Jahreszeiten schreiben. Ich hatte mir das mit der Textreihe genau überlegt und musste das somit auch durchziehen. Was passiert, wenn man sich Druck dieser Art aufbaut, muss ich wohl nicht detailliert erklären. Ich schaffte es nie, den Text zu vollenden. Somit spielte ich “Stardew Valley” auch nicht weiter. Denke ich heute an “Stardew Valley”, denke ich an den Text, den ich noch schreiben muss. Ohne den Text über den Herbst kann ich “Stardew Valley” nicht spielen. Erneut verkrampfe ich.

Ich könnte stundenlang so weitermachen. Nach siebzig Stunden ist es mir nicht mehr möglich, das neue “Hitman” zu starten. Nach fünf Texten über einen Truck fahrenden Wrestler musste ich meine Textreihe über “Euro Truck Simulator 2” abbrechen, weil ich einfach nicht mehr konnte. Ohne Inventarmod kann ich “Skyrim” nicht spielen, weil ich keinen Gegenstand liegenlassen kann. Mit Inventarmod kann ich “Skyrim” ebenfalls nicht spielen, weil ich nicht vorwärtskomme und das Betreten eines Hauses voller Essbesteck Stress in mir auslöst, der mich das Spiel beenden lässt. Momentan kann ich “Skyrim” nicht mehr starten, weil ich zuletzt eine große Villa voller Zeug betreten habe, die ich nun leerräumen muss. Ich kann “Shadow of Mordor” nicht spielen, weil die Karte voller Markierungen ist, die von mir abgearbeitet werden müssen. Ich kann “Assassins Creed 2” nicht spielen, weil die Karte von “Mordor” einen kleiner Haufen Fliegenschiss gegen den hier enthaltenen Markierungsdurchfall darstellt. Die frisch ins Leben gerufene Textreihe “Gebündelte Neugierde” über Spiele aus Indie-Bundles? Versorgt mich ebenfalls mit Magenkrämpfen. Habe ich ein Bundle-Spiel gestartet, kann ich kein anderes mehr starten, da ich ja erst über das soeben gespielte schreiben muss. Ich kann nichts auslassen. Ich muss mich an meinen Plan halten und darf von diesem nicht abweichen. Ein Spiel nach dem anderen. Ein Text nach dem anderen. Auch diese Textreihe sorgt mittlerweile für Krämpfe, die es mir schwer machen, die “Über Videospiele”-Rubrik auf meiner Internetseite überhaupt zu öffnen.

“Dragon´s Dogma”, “Ni No Kuni”, “Diablo 3”, “Stardew Valley”, “Hitman”. Eine Liste voller Spiele die ich mag. Sehr sogar. Eigentlich handelt es sich hier sogar um Lieblingsspiele. Aber jedes einzelne dieser verdammten wundervollen Spiele löst mittlerweile Magenkrämpfe in mir aus. Ich habe beim Schreiben der obigen Absätze Schreibpausen eingelegt, weil mich das Denken an all diese Spiele psychisch und körperlich so mitnimmt. Ich musste hin und wieder vom Stuhl aufstehen, durch die Wohnung gehen und tief ein- und ausatmen.

Ich nutze hier Videospiele als Beispiele, doch selbstverständlich bleibt mein echtes Leben davon nicht verschon. Hier möchte ich aus persönlichen Gründen nicht zu sehr ins Detail gehen, aber ein paar Dinge kann ich selbstverständlich nennen. Warum einen Webcomic über Pinguine führen, wenn man es nicht schafft, jeden Tag einen Comic zu zeichnen? Unregelmäßige Veröffentlichungen? Unmöglich. “Die Pinguine” bereitet mir mittlerweile Magenschmerzen. Die Planung des anstehenden Unisemesters ist unmöglich, wenn mich der Gedanke daran, in einem eingeplanten Seminar wegen Überfüllung nicht zugelassen zu werden, mit Panikattacken überschüttet. Der Gedanke daran, dass ein Plan nicht funktionieren könnte, lässt mich diesen gar nicht erst anfangen. Ganz oder gar nicht ist keine angenehme Denkweise. Gehe ich zur Uni, kann ich mich nicht zu 100% auf das Schreiben meiner Bücher konzentrieren. Also kann ich Letzteres gleich lassen. Sonst leidet schließlich die Uni darunter. Oder ich schmeiße die Uni, um zu schreiben? Beides geht ganz offensichtlich ja nicht. Ich kann meine kleine Serie “GZMZ” nicht weiterführen, weil ich es einmal nicht geschafft habe, den wöchentlichen Rhythmus einzuhalten. Ich konnte nicht anfangen, meine in Bücherschränken zusammengesammelte Sammlung von Stephen King-Büchern zu lesen, weil mir Kings erstes Buch “Carrie” fehlte, das eines schönen Tages dann doch endlich in einem Bücherschrank zu finden war und mich von dem Bann befreite. Ich kann kein Wrestling mehr sehen, weil ich entweder jede verdammte WWE-Show sehen muss oder gar keine. Weil ich den Anfang meines nächsten Buches per Hand geschrieben habe, muss ich das jetzt bis zum Ende durchziehen. Auch meine letzte Hausarbeit schrieb ich per Hand. Selbstverständlich muss ich somit auch die aktuell anstehende per Hand schreiben.

Was mir in letzter Zeit besonders viel Kraft gibt, ist der Gedanke daran, dass ich es trotz alledem geschafft habe, drei Bücher zu veröffentlichen. Das Schreiben ist mir so wichtig, dass es mich immer wieder dazu bringt, die Krämpfe, die merkwürdigen Gedanken, den Stress und die Panik zu vergessen. Das ist tatsächlich die wichtigste Bestätigung für mich, die mir zeigt, dass ich nicht in allem versage. Dass ich nicht so scheiße bin, wie ich mir leider nur allzu gerne einrede.

Mein krankhafter Perfektionismus hat mir schon viele Videospiele ruiniert. Oder? Tja. Das ist die große Frage. Und gleichzeitig auch die große Aufgabe. “Ruiniert” ist ein hartes Wort. Ich bin der Meinung, dass der wichtigste Schritt beim Umgang mit einem Problem die Erkenntnis darstellt, dass man dieses Problem hat. Sich so etwas einzugestehen, ist zwar unangenehm, gleichzeitig aber auch toll. Anschließend wird es leider nicht einfacher, denn jetzt geht es darum, zu lernen, mit dem Problem umzugehen. Ich sage extra nicht: Es loszuwerden. Das ist in den meisten Fällen nicht möglich. Wenn der Perfektionismus so tief sitzt wie bei mir, muss man sich immer wieder daran erinnern, dass man ein solches Leben nicht führen will. Und dann ist es Zeit für die Konfrontation.

Ich werde “Dragon´s Dogma” weiterspielen. Auch, wenn mir der beschriebene rote Eintrag in meinem Tagebuch Bauchschmerzen bereiten wird. Aber das Ganze wird noch besser: Ich werde absichtlich ein paar weitere Aufträge nicht schaffen. Im Spiel gibt es mehrere Eskortierungsmissionen. Mein nächstes Ziel lautet: Zwei davon starten, zu Banditen laufen und diese den Schützling oder die Schützlingin umbringen lassen. Ich will ganz bewusst scheitern und anschließend weiterspielen. “Mut zur Lücke”.

Nichts im Leben ist perfekt. Ein Videospiel perfekt zu beenden, ist nicht notwendig, um damit Spaß zu haben. Ich habe immer dagegen angekämpft, Achievementlisten abarbeiten zu wollen. Mal ist es mir gelungen, mal nicht. Mal habe ich sie vollkommen ignoriert, mal habe ich ein Spiel gar nicht erst gestartet, weil ich beim Lesen der Liste festgestellt habe, dass ich die Multiplayer-Achievements niemals erhalten werde – zum Beispiel weil die Server down sind. Perfektion in Spielen ist nicht wichtig. Es geht auch nicht darum, über das Auftrags-System in “Dragon´s Dogma” zu diskutieren. Handelt es sich um schlechtes Spieldesign, dass Aufgaben einfach so abgebrochen werden? Das spielt keine Rolle. Die Entwickler wollten es so. Fertig. Viel wichtiger ist doch, was das in mir auslöst. Und ob ich das zulassen will.

Es ist immer schön, einen Text dieser Art mit positiven Plänen zu beenden, doch klingt das leider auch zu sehr nach Silvesterfeier in Kombination mit “Ab jetzt esse ich jeden Tag nur noch gesundes Essen, während ich auf der Toilette sitze und auf die ausgedruckte und in die Schüssel geklebte Karte von “Assassins Creed 2″ scheiße.” Ich habe schon sehr viele Therapiesitzungen hinter und noch sehr viel Arbeit vor mir. Ich bin auf einem guten Weg, doch ist dieser gleichzeitig leider auch ziemlich lang. Dass ich hier über all das schreibe, war glaube ich notwendig. Ich weiß es nicht. Ich habe über die Sache noch nie so öffentlich geredet beziehungsweise geschrieben. Das hier ist kein Wichtigmachen. Gleichzeitig will ich aber auch, dass verstanden wird, dass mich kein einfaches “Ich habe voll gerne 100% in allen Videospielen” plagt. Der krankhafte Perfektionismus sitzt tief und zeigt mir immer wieder aufs Neue, wie schlimm Videospiele mit Einkaufslisten sein können. Oder Spiele, in denen es kein Zurück gibt.

Ich hätte einfach nur gerne ein geregeltes Leben, in dem sich alles und jeder perfekt an meine Pläne hält. Ist das zu viel verlangt? Ich will nichts verpassen. Ich will jeden Lackierungs-DLC in “Euro Truck Simulator 2” besitzen, weil ich ansonsten gar nicht erst weiterspielen brauche. Ein abgebrochener Auftrag in “Dragon´s Dogma” zeigt allen Spielerinnen und Spielern da draußen, was für ein Versager ich bin. Ohne 100% in einem “Hitman”-Level kann ich den nächsten nicht beginnen. Schreibe ich mein nächstes Buch nicht per Hand, habe ich offensichtlich keine geregelte Arbeitsweise, was mir bei Fragen nach meinem Beruf peinlich ist. “Mal so mal so” bereitet mir Bauchschmerzen. Meine Lieblingsspiele bereiten mir Bauchschmerzen. Das Schreiben dieses Textes bereitete mir Bauchschmerzen. Das korrigieren dieses Textes bereitete mir Bauchschmerzen.

Dieser Text bereitet mir Bauchschmerzen.

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