Die Geisterspinne besucht mich mittlerweile seit etwa zehn bis fünfzehn Jahren und eigentlich habe ich nie über sie schreiben wollen, weil ich gehofft hatte, dass sie nicht mehr auftaucht, wenn ich sie erst einmal vergesse. Mittlerweile bin ich da anderer Meinung. Ich habe sogar das Gefühl, dass sie immer erst dann wieder aufkreuzt, wenn ich lange nicht mehr an sie gedacht habe.
Ihr erstes Erscheinen werde ich nie wieder vergessen. Ich erwachte nachts im Bett und sah sie genau über mir an der Decke meines Zimmers sitzen.
Die Geisterspinne ist etwa dreißig Zentimeter groß und hat keinen Körper. Nur Beine. Ganz feine Beine. Beine wie die Fäden eines Spinnennetzes. Sie laufen an einem Punkt zusammen, an dem eigentlich ein Körper sitzen müsste. Aber dort ist keiner. Es sind nur Beine. Dünne, beinahe durchsichtige Beine. Ich weiß nicht, ob es acht Beine sind oder mehr. Ihr Wabern verhindert einen genauen Blick auf sie.
Es schien, als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich sie bemerke. Denn genau in diesem Moment ließ sie sich fallen.
Eigentlich fällt sie gar nicht. Sie schwebt langsam nach unten. Wie der Faden eines Spinnennetzes, der von einer leichten Brise erfasst wurde und durch die Welt getragen wird. Sie scheint es nicht eilig zu haben.
Sie ließ sich genau auf mein Gesicht fallen. Wie in Zeitlupe. Ich sah, wie ihre Beine sich von der Decke abstießen. Wie sie langsam auf mein Gesicht zu schwebte.
Ich reagierte sofort. Ich rollte vom Rücken auf den Bauch, drückte mich mit den Händen nach oben, wich der Spinne aus und weckte meine Frau, die neben mir lag und keine Ahnung hatte, was hier gerade geschah. Mein erster und einziger Gedanke war, dass meine Frau so schnell wie möglich das Zimmer verlassen musste. Ich weckte sie so sanft wie möglich, indem ich ihren Namen flüsterte. Als ich ihre Aufmerksamkeit hatte, bat ich sie einfach nur darum, langsam und ruhig das Zimmer zu verlassen. Sie war geistig noch nicht ganz anwesend, merkte aber sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie stand auf, verließ das Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Ich blieb zurück und behielt die Spinne im Auge. Ich wollte, dass dieses Mistding sich, wenn es schon jemanden angreifen wollte, mich aussuchte. Darum blieb ich im Zimmer, nur wenige Zentimeter von ihr entfernt, auf allen vieren, im Bett.
Ich versuchte, sie nicht aus den Augen zu lassen. Aber das war nicht so einfach möglich. Ich war müde. Meine Augen fielen mir immer wieder zu. Außerdem: Ihre Beine waren so dünn und durchsichtig, dass man sie nicht richtig fokussieren konnte. Es war, als würde sie wabern. Mal saß sie deutlich vor mir, dann war sie nur noch ein Nebelfaden, dann verschwunden, dann wieder da. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, aber irgendwann war sie weg. Einfach so. In diesem Moment war ich wieder vollständig zu mir gekommen. Hatte den Schlaf abgeschüttelt. Hatte verstanden, dass ich mich in einem Zustand befunden hatte, der sich irgendwo zwischen Wachzustand und Traumwelt befand.
Ich blieb vielleicht eine Minute lang im Bett hocken, bis sich meine Frau aus dem Flur meldete, um zu erfahren, ob alles in Ordnung sei. Ich rief sie zu mir und teilte ihr mit, dass dem so wäre. Ich hatte mittlerweile erkannt, dass der Geist nicht real gewesen war. Ich hatte mir die Spinne nur eingebildet. Dennoch war es ein intensives Erlebnis gewesen.
Das mich heute noch hin und wieder heimsucht.
Die Besuche der Geisterspinne während der letzten Jahre kann man problemlos an zwei Händen abzählen. Immer werde ich wach, sehe sie an der Decke, sehe sie auf mich zu schweben und bekomme ganz kurz Panik. Je häufiger sie auftaucht, desto weniger panisch werde ich. Vielleicht erreiche ich sogar irgendwann den Punkt, an dem ich ihr nicht mehr ausweiche und anschließend erstarre, sondern mich mit ihr anfreunden und unterhalten kann. Ich freue mich bereits auf die Gespräche mit ihr. Auch, wenn ich mir nicht sicher bin, was meine Frau dazu sagen wird, wenn sie alle paar Tage von meinen Dialogen mit der Geisterspinne geweckt wird.
Auf der einen Seite sind Besuche eines grotesken Wesens dieser Art alles andere als angenehm. Durch den noch halb träumenden Zustand sind sie tatsächlich sehr nervenaufreibend, da ich mich in diesem Moment einfach nicht in der Lage befinde, Realität und Einbildung voneinander zu unterscheiden. Ich erschrecke mich, weiche dem Sprung aus und erstarre, jedoch habe ich mittlerweile immerhin verstanden, dass ich meine Frau nicht mehr aus dem Schlafzimmer scheuchen muss. Der Gedanke ist zwar noch da, jedoch weiß ich unbewusst, dass es bei der Spinne nicht nötig ist. Irgendwie weiß ich, dass sie es ausschließlich auf mich abgesehen hat. Vor allem auf meine Psyche.
Gleichzeitig ist die Situation im Nachhinein natürlich unglaublich lustig. Ich finde es immer wieder faszinierend, zu welchen Leistungen der Inhalt des menschlichen Schädels in der Lage sein kann. Dass diese Einbildungen dann auch noch wiederkommen, macht es nicht uninteressanter und ich kann mir vorstellen, wie Menschen auf die Idee kommen, von etwas heimgesucht oder verfolgt zu werden.
Tja. Jetzt ist es geschehen. Ich habe über den Geist geschrieben und ihn damit unsterblich gemacht. Durch diesen Text werde ich ihn wohl nie wieder vergessen. Aber letztendlich ist das nicht schlimm. Ich denke ja doch andauernd an ihn. Außerdem ist er selbst schuld an der Situation. Er taucht schließlich immer wieder bei mir auf. Ich habe ihn noch nie besucht. Er hat mich nicht einmal zu sich eingeladen. In seine Deckenspinnenhöhle. Er hockt immer nur an meiner Decke und will mir ins Gesicht springen. Ein wenig dreist ist das ja schon. Nach unserem Aufeinandertreffen ziehe ich mich immer mit Herzrasen auf die Toilette zurück und versuche, meine Bodenständigkeit wiederzuerlangen. Wobei er sich dadurch eigentlich gar nicht allzu sehr von meinen menschlichen Besucher*innen unterscheidet.
Vielleicht habe ich meine Geisterspinne ja durch diesen Text sogar verbreitet. Möglicherweise schrecken schon während der ersten Nacht nach dem Lesen dieses Textes irgendwelche Leute in ihren Betten auf, weil sie die gleiche Spinne sehen. Diese widerliche Geisterspinne. Ohne Körper. Aber mit diesen ekelhaften Beinen. Diesen dünnen, fast durchsichtigen Beinen.