Genürsel 2014 – 33/52 – Polizei

Genürsel 2014 - 33/52 - Polizei

Ich werde wohl nie vergessen, wie sich vor einigen Jahren die Idee in meinen Kopf gesetzt hatte, Polizist zu werden. Sie hatte sich nicht nur in meinen Kopf gesetzt, sondern mich nach langer Überlegung auch dazu gebracht, mich tatsächlich bei einer Polizeischule vorzustellen und dort zur Polizeiausbildung anzutreten. Die folgenden Wochen waren geprägt von körperlichen Betätigungen, geistigen Lehrveranstaltungen und einer praktischen Zwischenprüfung, die ich wegen eines Blumentopfs nicht bestand.

Ohne diesen Blumentopf wäre ich heutzutage vermutlich kein Schriftsteller, sondern ein Mann, der sich für Geld von aufgebrachten Fußballfans mit Steinen bewerfen lässt. “Fußballfans” ist hier übrigens ein Sammelbegriff für alle Menschen, die in ihrer Freizeit mit Steinen auf Polizisten werfen, doch möchte ich politischen Diskussionen gerne aus dem Weg gehen, die sicherlich auf mich einprasseln würden, wenn ich statt “Fußballfans” “selbsternannte politisch Interessierte” geschrieben hätte. Was ich damit sagen möchte: Da ich mich nicht gerne mit Steinen bewerfen lasse, bin ich dem Blumentopf noch heute dankbar.

Was hat es nun mit dem Blumentopf auf sich? Wer Polizist werden möchte, muss eine harte Ausbildung über sich ergehen lassen. Und liebe Industriekaufmann- und -kauffrauazubis: Ihr habt keine Ahnung, was es bedeutet, eine harte Ausbildung hinter sich zu bringen. Jeder Polizist würde gerne mit euren Problemen tauschen. Nicht zu wissen, ob der zu verbuchende Geldbetrag für ein belegtes Brötchen mit Salami und Schinkenwurst auf der Soll- oder Haben-Seite verbucht werden muss, ist nun wirklich nicht mit der Frage zu vergleichen, ob man den Mann vor sich nun erschießen sollte, weil man den Blumentopf, den er bei sich trägt, während er auf einen zugelaufen kommt, als ernstzunehmende, tödliche Waffe einschätzt oder nicht. Aber ich möchte nicht zu weit vorgreifen.

Polizisten haben in ihrem Beruf unglaublich viele Details zu beachten. Einmal unterhielt ich mich mit meinen Mitazubis und dem Ausbilder eine geschlagene Stunde lang über die Frage, ob sich ein Polizist, der sich wegen einer illegalen Tätigkeit selbst anzeigt, mit den eigenen Handschellen festnehmen und anschließend zur Wache bringen darf, oder nicht. Darf man mit Handschellen Auto fahren? Darf man als Festgenommener den Dienstwagen überhaupt noch benutzen? Muss man als Gefangener nicht hinten sitzen? Muss der Polizist während der Festnahme seine Dienstkleidung ablegen? Ist man im Moment der Festnahme überhaupt noch Polizist? Darf man sich auch außerhalb der Dienstzeiten festnehmen? Alleine über die Vorschriften und Details dieses einen Falles könnte ich ein ganzes Buch schreiben. Leider habe ich zu Beginn der Ausbildung ein Dokument unterzeichnet, das mir genau dies verbietet. Dieser Text konnte nur entstehen, weil ich ihn nach Fertigstellung meinem Anwalt überreichte, der mir ganz genau erklärte, was ich schreiben durfte und was nicht.

Wusstet ihr eigentlich, dass ein Polizist keine Katzen aus Bäumen retten darf, sondern dafür genauso wie die Zivilbevölkerung auch die Feuerwehr rufen muss? Der Grund dafür ist eine Dienstvorschrift aus dem Jahr 1825 und steht mit einem Unfall in Verbindung, in dem ein hochrangiger Polizist, eine kratzwütige Katze, ein hoher Baum und eine lange Leiter involviert waren. Als der Polizist damals die Katze erreicht hatte, führte diese ihm vor, wie Katzenkrallen und Menschenaugen miteinander reagieren. Das Ergebnis ließ das Wesen mit den Menschenaugen von der Leiter auf den alten Mann stürzen, dessen Katze eigentlich gerettet werden sollte. Zwei Menschen starben, die Katze wurde von einem zweiten, ziemlich aufgebrachten Polizisten vom Baum geschossen und am Ende beschloss man, von nun an nur noch Feuerwehrleute auf Leitern klettern zu lassen, da diese eine solche Tätigkeit während der Ausbildung erlernten. Solltet ihr also einmal eine Katze von einem Polizisten vom Baum gerettet bekommen, könntet ihr diesen theoretisch damit erpressen, da er sich nicht an die Vorschriften gehalten hat. Ob man das nun wirklich tun sollte, muss wiederum jeder für sich entscheiden.

Vorschriften dieser Art sind es, die mir schnell den Spaß an meiner Ausbildung verdarben. War es wirklich wichtig, dass ein Polizist im Dienst seine Mütze abnehmen und in der linken Hand alten muss, wenn er einen Zug betritt, und ein Polizist im Feierabend wiederum die Mütze in die rechte Hand nehmen muss? Warum? Damit eingeweihte wissen, um was für einen Kollegen es sich handelt. Das mag kompliziert und umständlich klingen, stellt aber nur die Spitze eines Eisbergs dar, dessen Fundament ein einziges Chaos aus Vorschriften darstellt, das kein Mensch alleine überblicken oder verstehen kann.

Neben all diesen theoretischen Dingen spielen natürlich auch praktische Übungen eine große Rolle, schließlich sollen die erlernten Regeln auch in gestellten Situationen angewandt werden. Eine solche Übung wurde mir letztendlich zum Verhängnis.

Es handelte sich um die alle sechs Monate stattfindende Zwischenprüfung. Fiel man hier durch, musste man das halbe Jahr noch einmal vollständig wiederholen. Oder man flog direkt von der Polizeischule. Wobei man sich hierfür schon einen wirklich groben Schnitzer erlauben musste. Zum Beispiel aus Versehen einen Menschen erschießen. Oh, ich greife schon wieder zu weit vor.

Die Prüfung lief folgendermaßen ab: Jeder Azubi wurde mit einer inszenierten Situation konfrontiert, die er mit Hilfe der gelernten Dinge lösen musste. Bei mir lautete die Anweisung so, dass ich in einen Blumenladen gerufen wurde, dessen Besitzer von einem Unbekannten überfallen worden war. Ich sollte mit dem Opfer sprechen, wichtige Daten aufnehmen und anschließend die Informationen an meine Kollegen weitergeben. Keine große Sache. Wir sollten zeigen, ob wir uns die wichtigen Schritte bei der Befragung von überfallenen Opfern gemerkt hatten. Der diesbezügliche Fragenkatalog wird intern übrigens auch als “Die zwölf wichtigen Ws” bezeichnet, hier genauer drauf einzugehen verbietet mir jedoch das bereits erwähnte unterzeichnete Dokument. Wie auch immer. Tathergang, Täterbeschreibung, Besonderheiten – für alles gab es spezielle Gesprächsanweisungen, die so genau wie möglich befolgt werden mussten.

Als ich den Blumenladen betrat, konnte ich zunächst niemanden sehen. Kein Besitzer, kein Kunde, kein gar nichts. Das war merkwürdig. Wer hatte mich gerufen? War ich in eine Falle getappt? In einen Hinterhalt geraten? Hatte man mir eine falsche Anweisung gegeben? Schickte man die Azubis mit der Erwartung, einen gewöhnlichen Raubüberfall untersuchen zu müssen, in ein Geschäft, um anschließend zu prüfen, wie sie mit Überraschungen umgingen? Oder hatten gar Terroristen heimlich die Kontrolle über die Übung übernommen und es nun auf mich abgesehen? Auf mich und alle Polizisten Frankfurts? Ich zog meine Dienstwaffe und vergaß selbstverständlich nicht, sie zu entsichern.

In diesem Moment erschien hinter mir ein Mann. Ich konnte ihn gerade so aus den Augenwinkeln erkennen. Er hatte scheinbar hinter der Ladentheke gekniet und sich auf diese Art und Weise meinen Blicken entzogen. Gemeiner Halunke. Was hatte er vor? Ich musste handeln. Es war zum Glück noch nicht zu spät. Ich schnellte herum und richtete meine Waffe auf ihn. Der Mann erstarrte und hob beide Hände. Zunächst dachte ich, um sich zu ergeben. Doch dann erkannte ich den Blumentopf in seiner Hand. Ein Wurfgeschoss. Eine Waffe. Mit der richtigen Ausbildung konnte ein Mensch einen anderen mit einem Blumentopf töten. Sowohl aus der Nähe als auch aus der Ferne. Ich steckte also in Lebensgefahr. Ich musste handeln. Für einen Warnschuss war es zu spät. Ein Schuss ins Bein hätte die Gefahr in der Hand des Mannes nicht gebannt. Außerdem hatte ich meine Waffe bereits perfekt auf den Kopf meines Gegenübers gerichtet. So sorgte eine kleine Bewegung meines Zeigefingers dafür, dass ich von der Polizeischule flog.

Dass ich nach meiner Tat nicht festgenommen und eingesperrt wurde, habe ich dem Umstand zu verdanken, dass der von mir Erschossene von niemandem auf der Wache wirklich gemocht wurde und man insgesamt sowie insgeheim recht froh darüber war, ihn los zu sein. Er hatte im Büro des Hauptquartieres gearbeitet und war dort für die Buchführung zuständig gewesen. Den ganzen Tag lang hatte er sich darüber beschwert, wie kompliziert sein Job sei und dass er immer hatte aufpassen müssen, die Soll- und Haben-Seite der Bilanzen nicht zu verwechseln. Außerdem hatte er vor ein paar Wochen eine Furz-App auf sein Smartphone geladen, die per Druck auf den Touchscreen eins von vierundsiebzig Furzgeräuschen von sich gab. Mit dieser App hatte er das gesamte Büro terrorisiert. Immer, wenn sich ein Kollege hinsetzte oder sich von seinem Platz erhob, ließ er seine App ein Furzgeräusch generieren und amüsierte sich ganz köstlich darüber.

Niemand hatte sich getraut, ihn auf die App anzusprechen. Man wollte nicht als Miesepeter gelten. Am Ende hätte sich der Herr noch darüber beschwert, dass man sein Leben zensierte. Zensur war etwas, was sich niemand vorwerfen lassen wollte. Also schwieg man. Die anderen sagten schließlich auch nichts. Stattdessen ersetzten die Mitarbeiter nach und nach ihre Schreibtische durch Stehpulte, um sich nicht mehr hinsetzen zu müssen und dem Mann mit der Furz-App so keinen Grund mehr zu geben, auf den Touchscreen zu drücken.

Wie auch immer. Ich fand mich damit ab, kein Polizist mehr werden zu können und wurde stattdessen Schriftsteller. Ob ich diesen Schritt bereue? Manchmal ja, manchmal nein. Das Leben eines Schriftstellers hat auch seine schönen Seiten. Man kann sich zum Beispiel den größten Schwachsinn ausdenken und aus diesem dann am Ende trotzdem noch etwas machen. Ich sage an dieser Stelle übrigens ganz bewusst nicht “etwas Gutes machen”.

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