Genürsel 2014 – 20/52 – Schnäppchen

Genürsel 2014 - 20/52 - Schnäppchen

An einem angenehmen Abend voller Frost und Kälte spazierte ich mit meiner Frau durch die Eschersheimer Nachbarschaft. Das machen wir fast täglich. Ein kleiner Spaziergang tut der Seele gut. Vor allem einer Seele, die fast den ganzen Tag lang vor dem heimischen Computer sitzt und virtuelles Zeug produziert. Das Internet mit Inhalten anzureichern macht zwar Spaß, wirkt aber oft ziemlich ermüdend. Frische Luft tut da mehr als gut. Blöd nur, dass man in Eschersheim direkt an einer der größten Straßen Frankfurts lebt. Die hier vorherrschende Dunstglocke hat meine Frau und mich schon oft im Schlafzimmer gut unterhalten können. “Hast du gefurzt?” “Nein, du?” “Nein.” “Wer dann?” “Frankfurt.” Die berühmte Frankfurter Dungdunstglocke. Man könnte Bücher über sie schreiben.

Ich schreibe aber jetzt lieber etwas Anderes. Kein Buch, sondern ein Text soll hier entstehen. Früher nannte ich Texte dieser Art übrigens immer Kolumnen, doch leider wurden zu dieser Zeit alle von ihnen vom Kolumnenportal kolumnen.de abgelehnt, weil sie nicht lustig waren. Seitdem traue ich mich nicht mehr, meine Texte Kolumnen zu nennen. Stattdessen nenne ich sie Texte. Das ist auch viel allgemeiner. Da kann man sich mehr erlauben und steckt nicht im Kolumnenkorsett fest. Was auch immer das nun wieder bedeuten mag. Textgattungen sind meiner Meinung nach noch schlimmer als Musikgenres. Und wer sich im Bereich der mit Metal überschriebenen Musikkünste auskennt, der weiß, was das bedeutet.

Wir spazierten also durch die Nachbarschaft und unterhielten uns angeregt über den Geruch Frankfurter Ausscheidungen, als mein Blick plötzlich an einer auf dem Boden liegenden Plastiktasche haften blieb. In der Tasche befand sich ein Haufen Bücher. Meine Frau schrie auf. Ich hatte beinahe ihre Hand gebrochen. Immer, wenn ich etwas sehe, was ich haben will, verkrampfe ich. Halte ich dabei die Hand meiner Geliebten in der Hand, kann das schon einmal Schmerzen erzeugen. Schmerzen voller Schmerz bei ihr, Schmerzen voller Schuldgefühle bei mir. Ich ließ meine Frau schnell los. Aus Mitleid. Außerdem brauchte ich beide Hände, um die Tüte hochzugeben und umgehend zu untersuchen. Noch heute führe ich das Leben eines dreijährigen in einem Spielzeuggeschäft: Ich muss alles in die Hand nehmen. Manchmal auch in den Mund.

Da waren ganz viele Bücher in dieser Tüte. Wasserdicht verpackt. Außerdem ein Pappschild mit der Aufschrift: “Reisebücher über Amerika zum Mitnehmen”. Nun. Muss ich wirklich noch mehr sagen?

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15 Bücher! Umsonst! Was für ein Schnäppchen.

Zu Hause legte ich die Tüte zunächst in die Badewanne. Langsam öffnete ich sie und führte mit meiner Nase den Urin-Kot-Geruchstest durch. Ich roch nichts und war zufrieden. Die Bücher waren allesamt in einem guten Zustand. Ein wenig benutzt, aber es handelte sich hier ja auch um Reisebücher. Die nimmt man schließlich mit auf Reise. Nun kam der nächste Schritt: Neugierde.

Es handelte sich zunächst um jeweils ein Buch über Kaua`I, Chicago, San Diego, Philadelphia, Washington DC und Florida. Zwei über Miami, drei über die Karibik und vier über Hawaii. Kaua`I ist übrigens eine der acht Hauptinseln von Hawaii, somit zählt das Buch eigentlich noch zu den vier anderen Hawaii-Büchern dazu. Die meisten Bücher stammen aus dem Jahr 2007. Ob sie selbst ebenfalls gebraucht erstanden wurden, weiß ich natürlich nicht. Die Reise kann somit zwischen 2007 und 2008 stattgefunden haben, oder deutlich später. Die Vorbereitungen für eine solche Reise sind nicht zu unterschätzen. Das zeigt alleine die Menge der Bücher. Auch die Reiseroute kann anhand der Bücher gut rekonstruiert werden.

Aber das interessiert mich alles gar nicht. Viel spannender sind die Details, die man beim schnellen Durchblättern gerne mal übersieht. In einem 420 Seiten dicken Buch über Hawaii stößt man zum Beispiel auf einer einzigen Seite plötzlich auf eine Resort-Liste, in der die meisten mit kleinen, traurigen Smilies gekennzeichnet wurden. Hinter einem steht sogar ein Ausrufezeichen. Es sind die kleinen Geschichten, die mich faszinieren. Waren die Leute hier unfreundlich? In einem Resort sogar äußerst unfreundlich? Oder war lediglich kein Platz mehr frei?

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Und dann stößt man plötzlich in einem 800-Seiten-Hawaiiwälzer auf einen Original-Notizzettel der Reisenden. Mitsamt Datum und Anmerkungen. Auf der Karte, an der der Zettel klebt, findet man zudem Markierungen von Clubs, Hotels und sehenswürdigen Orten. Ich jauchzte jedes Mal auf, wenn ich so etwas fand.

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In einem anderen Heft stieß ich erst nach zig Seiten auf eine einzige, kleine Markierung, die hervorhob, dass die Clubs um zwei Uhr morgens schließen.

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Später traf ich noch andere Markierungen an. Sogar mit Text! Und hier zeigte sich, dass die markierende Person allem Anschein nach englisch sprach, Familien hasst und Regen ebenfalls. Strände dafür vermutlich nicht.

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Auf einer Straßenkarte Philadelphias wurden Orte markiert, die man besuchen wollte.

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Und dann hat man doch tatsächlich einmal eine Stelle mit einem Rechtschreibfehler markiert (vist statt visit). Hat man das gemerkt oder überlesen und es war reiner Zufall?

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Ich könnte wohl noch stundenlang so weitermachen, aber ich glaube, ihr habt verstanden, warum ich die Bücher damals mitgenommen habe. Neugierde. Aber es geht mir hier gar nicht darum, etwas über die Menschen hinter den Büchern zu erfahren. Ich will sie nicht finden, sie nicht kennenlernen und ihnen nicht nachspionieren. Aber ich mag Markierungen. Wie kritzelt jemand Notizen in sein Reiseprospekt? Wird alles markiert oder gezielt unterstrichen? Ich vergleiche die Handschriften der einzelnen Bücher. War es ein und dieselbe Person? Womit wurde markiert? Mal mit Kugelschreiber, mal mit Textmarker. Warum? Und so weiter.

So sitze ich musikhörend am Schreibtisch und blättere Seite für Seite durch die Reisebücher. Ohne nennenswertes Interesse an den Orten. Ich bin nicht auf der Suche nach kulturellen Informationen, ich bin auf der Suche nach Markierungen. Finde ich eine, halte ich inne und betrachte sie. Ich grinse, erfinde kleine Geschichten zu den Markierungen, spiele Psychologe und setze daraufhin meine Reise durch die Bücher fort. Es ist entspannend, interessant und anregend. Und nur ein kleines bisschen unheimlich.

Kommen wir zum praktischen Nutzen: Ich besitze nun eine riesige, auffaltbare Straßenkarte Chicagos und eine Liste der Fische, denen man beim Schnorcheln auf Hawaii begegnen kann. Und vieles mehr. Fünfzehn Bücher, insgesamt fast 5.000 Seiten. So viele Orte, so viele Karten, so viele Informationen. Und mich interessieren nur die Randbemerkungen. Die Bücher nehmen übrigens sehr viel Platz weg. Solltet ihr also eines Tages einen Haufen Reisebücher aus dem Jahre 2007 in den Frankfurter Bücherschränken wiederfinden, dann stammen sie vermutlich von mir. Und wer weiß? Vielleicht habe ja auch ich die eine oder andere Markierung in ihnen hinterlassen.

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