Eine Taube macht noch lang kein Wetter

Wer mich kennt, der weiß, ich sammle viel und dieses ausgiebig. Aber natürlich verirren sich nicht immer ein und dieselben Sachen in meinen Sammelkoffer, denn dieses Unterfangen würde schon nach weniger Zeit von Langeweile durchtränkt im Schrank verstauben. Doch getreu dem Motto „Immer Neues braucht der Schrank“ bin ich stets auf der Suche nach neuen Dingen, die sich lohnen, anzuhäufen.

Aktuell sammle ich Situationen, in denen mich fremde Menschen für verrückt gehalten haben. Der beispielhaften Ausschmückung dieser Sammelleidenschaft soll die nun folgende Geschichte dienen: Ich verließ eine U-Bahn und ging auf eine Ecke zu. Parallel zu meinem Gegehe, bewegte sich auch eine junge Dame neben mir her. Als ich mit ihr zusammen auf die Ecke traf, flog uns plötzlich eine Taube entgegen. Während ich diese Taube für ihr Attentat mit Ignoranz strafte, schien meine unbekannte Parallelbegleiterin vom Taubenanblick dermaßen fasziniert zu sein, dass sie ihren Blick nur noch auf das fliegende Geschöpf und nicht mehr auf das stehende Knabbereienverkaufsgerät richtete, wodurch sie mit diesem auch prompt zusammenstieß.

Ein herrlicher Anblick für einen neutralen Zuschauer, der meine Position vertritt. Da ich aber in diesem Moment nicht unhöflich erscheinen wollte, ersparte ich mir ein lautes Lachen und grinste in mich hinein. Aber nicht lange. Denn als ich ein paar Schritte zwischen mich und die unfreiwillige Automatenremplerin gebracht hatte, brach ich doch in schallendes Gelächter aus. Und erntete deswegen ein paar böse Blicke aus der mich umgebenden und plötzlich auch umgehenden Menschenhorde. Verständlich. Schließlich lachte ich, ohne ersichtlichen Grund, laut auf offener Straße. Und das, ohne ein Handy am Ohr kleben zu haben. Ich wusste selbst nicht, wie ich mich zu einer solchen Tat hatte hinreißen lassen. Man musste mich für verrückt halten. Ich ging umgehend peinlich berührt nach Hause und klebte dieses Ereignis sogleich in mein Sammelalbum.

Danach griff ich zum Telefon. Ich musste mit jemandem reden, der ein mindestens genauso gedemütigtes und missverstandenes Leben führt, wie ich. Schließlich baut man sich seelisch am schnellsten wieder auf, wenn man Anderen beim Leidbeklagen zuhört. Für dieses Unterfangen kam mir nur eine Person auf diesem Planeten in den Sinn. Der Wettermann.

Niemand hat einen so undankbaren Job wie der, der das Wetter macht. Denn noch schlimmer als deutsche Automobilhersteller hat der Wettermann damit zu kämpfen, dass er scheinbar nichts richtig machen kann. Seine Kundschaft ist ihm und seinen Arbeitsergebnissen gegenüber immer extrem undankbar und kritisch eingestellt. Und so klagte er mir schon nach kurzer Zeit sein Leid.

Aktuell ist es allen zu kalt. Die Leute sind gezwungen, Jacken zu tragen, um der Kälte zu trotzen. Und was muss sich unser armer Wettermann anhören? „Und das im September!“ „Wir hatten keinen richtigen Sommer!“ „Schon ist es wieder so kalt!“ und weitere Sätze des Hasses knallen tagtäglich an sein armes Ohr. Die Beschwerdehotline läuft aufgrund der vielen Anrufe mittlerweile so heiß, dass sie die Einzige ist, die sich über die kalten Zeiten freut.

„Dabei war der Sommer doch so warm!“, klagte mein Freund an der anderen Leitung weiter. „Es gab einige extrem heiße Tage im Sommer. Aber was haben die heutigen Kältemuffel in dieser Zeit gesagt? Richtig: „Es ist zu warm!“. Unglaublich, dieses Verhalten. Wie soll ich denn da etwas richtig machen?“.

Das waren die Worte, die mein Freund, der Wettermann, fragend an mich richtete. Doch ich konnte wegen meiner Ratlosigkeit lediglich mit den Achseln zucken, was er leider, aufgrund unserer nur telefonisch existenten Verbindung miteinander, gar nicht wahrnahm. Ich versuchte ihn aufzubauen, indem ich ihm sagte, ich hätte Kälte lieber als Wärme. Aber es half nicht. Er klagte weiter.

„Und weißt du, was mich am meisten an der ganzen Situation aufregt? Alle sagen „Es ist so kalt, und das erst im September!“. Dabei sollten sich die Leute doch erst einmal an ihre eigenen, scheinbar extrem verwirrten, Hirne fassen. Vielleicht bemerken sie auf diese Weise, in welch zwiegespaltener Existenz sie ihr Dasein fristen. Was muss ich armer Wettermann denn sehen, wenn ich mal wieder im Supermarkt um die Ecke ein wenig heißen Tee für die kalten Abendstunden kaufen möchte? Weihnachtsgebäck! Lebkuchen! Weihnachtsdeko! Und? Rennt hier einer durch die Gegend und fragt „Und das im September?“? Nein! Natürlich nicht!

Aber wenn ich armer Wettermann durch den Laden gehe und Weihnachtszeug sehe, dann denke ich mir: „Oh, die haben schon Weihnachtssachen hier liegen! Dann werde ich denen auch sogleich dazu passende Temperaturen bereiten, indem ich das Wetter an weihnachtliche Bedingungen anpasse und alles ein wenig abkühle. Man will ja nicht, dass die Leute unzufrieden sind beim Lebkuchengeschlemme.

Und bekomme ich Dank für meine unnatürliche Wetteranpassung an menschliches Gedankengut? Nein. Ich bekomme Gemeckere entgegengeworfen. Aber da ich ja ein lieber Wettermann bin, passe ich mein Wetter daraufhin wieder der Meinung des Volkes an und lasse es wärmer werden. Und schon schreien wieder alle. Weiße Weihnachten will man haben. Keine Wärme soll zu spüren sein. Und so geht es das ganze Jahr weiter. Ich passe mich an, und es ist falsch.“

Nach diesen Worten legte ich den Hörer zur Seite. Es ging jemandem schlechter als mir, also ging es mir wieder gut. Die Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins ergab wieder einen Sinn, ich hatte meinen Halt im Leben zurück gewonnen und ich konnte wieder damit beginnen, über meine mit Blumen überhäute Gedankenwelt zu tollen. Motiviert schlenderte ich in der Außenwelt umher und beobachtete Tauben beim Ablenken von Menschen. Ein toller Anblick.

Doch an einem Sammelpunkt der philosophischen Ratschläge, Ansichten und Meinungen traf ich dann auf eine Aussage, die mein Leben wieder mit ein wenig Trauer überhäufte. „Ich weiß gar nicht, was die Leute alle haben! Reden vom Klimawandel und der Klimaerwärmung, dabei wird es immer kälter!“ So schall es in mein Ohr und haftete sich dort auf ewig an meinen Gehirnwindungen fest. Ich verließ die Wurstbude und ging nach Hause. Dort eröffnete ich ein neues Sammelalbum. Es bekam den Titel: „Situationen, in denen ich fremde Menschen für verrückt gehalten habe.“

Eine Kopie dieses mittlerweile gut gefüllten Buches schicke ich in regelmäßigen Abständen an meinen Freund, den Wettermann. Dieser freut sich sehr über meine Briefe. Aus Dank sendet er mir in unregelmäßigen Abständen ein paar regnerische Grüße. Denn ich mag Regen. Und ich mag den Wettermann. Er verrichtet eine gute Arbeit.

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