Vor vielen Jahren überkam mich der Gedanke, mir doch einmal die Chinesische Mauer anzusehen. Dazu muss ich sagen, dass mich meine Reisen tatsächlich durch die meisten Gebiete der Erde gebracht haben, ich gleichzeitig aber so gut wie kein Interesse an Sehenswürdigkeiten habe. In der Regel habe ich mit meiner Zeit Besseres zu tun, als mich in Touristengebieten mit Dingen auseinanderzusetzen, die nur noch existieren, damit Menschen zu ihnen fahren, um sie sich anzusehen.
Aber hin und wieder denke ich mir: Zur Hölle mit den Prinzipien. Manchmal muss man über den eigenen Schatten springen und sich gehen lassen. Einfach mal Tourist sein. Einfach mal ansehen, was angesehen werden soll. Zumal die Chinesische Mauer tatsächlich eine gewisse Faszination auf mich ausübte.
So kam es, dass ich eines Tages in einem Flugzeug saß und mich auf den Weg nach China machte. Ich hatte die meisten meiner Forschungsgeräte und Werkzeuge zu Hause gelassen, schließlich wollte ich Urlaub machen. Man fährt ja im Urlaub auch nicht für drei Wochen ins Büro. Außerdem war es immer ein Akt, das ganze Zeug mit ins Flugzeug zu nehmen. Lediglich eine kleine Werkzeugtasche trug ich bei mir, da ich diese nur selten ablege oder aus der Hand gebe. Also ließ ich alles zu Hause und beschloss, auch meinen Forschersinn dort zu lassen und mich komplett gehen zu lassen.
Da ich von dieser Reise erzähle, sollte Ihnen klar sein, dass mir dies nicht gelungen war.
Dabei lief zunächst alles, wie ich es geplant hatte. Zwei Tage nach meiner Ankunft in China machte ich mich auf zur Mauer. Es war ein angenehm warmer Tag, trotzdem war der Ort nicht von unzähligen Menschen überrannt. Es war bereits relativ spät am Nachmittag, als ich die Chinesische Mauer betrat und auf ihr herumlief. Zunächst war ich einige Zeit vor der Mauer herumgelaufen und hatte das Gestein, die Bauweise und die Größe der Mauer bewundert. Zunächst wollte ich das Äußere kennenlernen, bevor ich mich auf das eigentliche Wunderwerk begab.
Die Chinesische Mauer ist schon von Außen betrachtet eine wahre Augenweide, aber wenn man erst einmal einen Fuß auf sie gesetzt hat, kommt man aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Ein einziger, gemauerter Weg, hoch über dem Boden, schlängelt sich durch das Land und es überkommt einen sofort das Gefühl, die komplette Strecke immer und immer wieder ablaufen zu möchten.
Natürlich ist das nicht so einfach, schließlich ist man nicht alleine. Zwar wäre ich gerne mal mit einem Fahrrad die Chinesische Mauer abgefahren, jedoch ist das natürlich nicht möglich, wenn tausende andere Menschen ebenfalls auf dieser herumlaufen. Das war damals schon so und ist heutzutage bestimmt noch viel, viel schlimmer. Wobei ich gar nicht weiß, wie die aktuellen Besuchszeiten und -regeln lauten. Früher hat man Dinge dieser Art jedenfalls noch nicht so ernst genommen.
Ich ließ mich einfach von den Besucherströmen mitreißen und schaute mich um. Viele Menschen um mich herum schossen Fotos, ich tat es ihnen gleich. Letztendlich spricht ja nichts dagegen, ein paar Erinnerungen mit nach Hause zu nehmen. Mittlerweile war die Sonne dabei, sich für den heutigen Tag abzumelden, weshalb ich für die letzten Fotos das Blitzlicht auf meinen Fotoapparat schraubte und aktivierte.
Als wir dazu aufgefordert wurden, die Mauer für heute zu verlassen, ließ ich mich kurz zurückfallen, um ein paar Abendfotos der Mauer zu schießen. Ich wandte mich von den Touristen ab und fotografierte den mittlerweile leeren Teil der Mauer, der sich nun einsam und dunkel vor mir her schlängelte. Ich schoss ein paar Fotos und ich bin mir sicher, dass ich nicht der Erste war, der diese Fotos schoss, jedoch bin ich scheinbar der Erste gewesen, der über die Instinkte eines Entdeckers verfügte.
In dem Moment, in dem ich ein Foto mit eingeschaltetem Blitzlicht schoss, bemerkte ich, dass hier etwas nicht stimmte. Es war, als würde der Blitz an einer ganz bestimmten Stelle der Mauer, etwa fünfzig Meter von mir entfernt, reflektiert werden. Meine erste Vermutung lautete, dass vielleicht ein Gegenstand auf dem Boden lag. Vielleicht hatte jemand etwas verloren. Eine Münze, eine Brille oder etwas Vergleichbares. Ich schoss ein weiteres Bild, schaute diesmal aber nicht durch die Kamera, sondern an dieser vorbei, um die Reflexion besser bemerken zu können. Und tatsächlich: Wieder wurde das Licht zurückgeworfen. Von der gleichen Stelle. Ich löste den Blitz manuell aus und erkannte, dass es sich hier nicht um eine Münze oder ähnlichen Gegenstand handelte. Nein, das Licht wurde von einem der auf dem Boden der Mauer verarbeiteten Steine zurückgeworfen.
Ein Mann sprach mich darauf an, dass ich die Mauer verlassen sollte. Es war ein Touristenführer, der zum Glück englisch sprach. Ich deutete auf meine Umhängetasche und erklärte auf Englisch, dass ich da vorne meine Brieftasche verloren hatte. Ich meinte, dass ich sie sehen könne und nur schnell holen würde. Der Mann seufzte kurz und bedeutete mir, mein Portemonnaie schnell zu holen. Ich nickte ihm freundlich zu und lief los, während er mir nach sah. Ich war also nicht unbeobachtet. Zum Glück brauchte ich nicht lange. Ich hatte mir die Stelle genau eingeprägt, rannte zu ihr, kniete mich auf den Boden und tat so, als würde ich etwas aufheben. Auf dem Hinweg hatte ich meine Geldbörse schnell aus der Tasche gezogen, um nun so zu tun, als würde ich sie aufheben. Gleichzeitig sah ich mir den Stein an, der mein Licht zurückgeworfen hatte. Er sah genauso aus wie jeder andere auch. Kein Unterschied war zu erkennen. Warum gerade er das Licht meines Blitzlichts zurückwarf, konnte ich mir nicht erklären.
Leider war es mir wegen des erfundenen Vorwands nicht möglich, ein weiteres Foto vom Stein zu machen. Das wäre aufgefallen. Ich musste meine Tarnung wahren. Schnell stand ich auf und drehte mich in die Richtung des Mannes, der noch immer auf mich wartete. Ich schwenkte mein Portemonnaie über den Kopf hin und her und lachte, als würde ich mich darüber freuen, es wiedergefunden zu haben. Gleichzeitig sah ich mich ganz genau um und versuchte, mir meine Umgebung einzuprägen. Dort war ein Stein mit Rissen in der Mauer, die Steinplatte dort hinten war ein wenig heller als die anderen und fast genau neben der Stelle, an der ich mich befand, war das Gras neben der Mauer ein wenig kaputt. Merkmale dieser Art prägte ich mir ein. Und dann begann das Zählen. Ich ging im normalen Schritttempo auf den Touristenführer zu und zählte jeden meiner Schritte. Zwar forderte er mich dazu auf, schneller zu machen, jedoch winkte ich ihm lediglich zurück, als würde ich seine Gesten nicht richtig verstehen. Bei ihm angekommen ging es weiter. Ich zählte und zählte, bis ich am Ausgang der Mauer angekommen war. Die Anzahl der Schritte notierte ich schnell in mein Notizbuch, nachdem ich sie verlassen hatte. Auch die anderen Hinweise wurden notiert. Ich hatte alles vorbereitet. Morgen war es an der Zeit, der Chinesischen Mauer einen weiteren Besuch abzustatten.
Natürlich endete der Abend für mich noch nicht sofort. Ich wollte die Fotos auswerten, bevor ich ins Bett ging, um auch über diese weitere Informationen zu erhalten. Ich betrat einen kleinen Fotoladen in der Nähe meines Hotels und überzeugte den Besitzer, meine Fotos sofort zu entwickeln. Es dauerte ein paar Stunden, aber am Ende saß ich gegen Mitternacht in meinem Zimmer und schaute mir jedes einzelne Foto genau an.
Zunächst war ich enttäuscht. Die Reflexion, die ich immer und immer wieder mit bloßem Auge gesehen hatte, war auf keinem der Fotos zu erkennen. Wie war das möglich? Aber gleichzeitig wunderte es mich natürlich auch nicht. Wäre sie einfach so auf jedem Foto zu erkennen gewesen, hätte irgendjemand bestimmt einmal nachgesehen, was für ein merkwürdiges Objekt die Fotos der Tourist*innen stört. Man konnte es also nur mit bloßem Auge erkennen und benötigte dafür eine starke Lichtquelle.
Als ich in der Nacht zu Bett ging, hatte ich alle Vorbereitungen für den nächsten Tag getroffen.
Ich brach früh auf, frühstückte auf dem Weg, nahm mir ein wenig Verpflegung mit und betrat zur Mittagszeit die Mauer. Ich zückte mein Notizheft und begann damit, meine Beobachtungen aufzuschreiben. Ich betrat die Mauer an der gleichen Stelle, an der ich sie zuletzt verlassen hatte. Dann ging ich los, zählte und kam an der Stelle an, die ich gesucht hatte. Wenn man jahrelang unbekannte Orte erforscht und hin und wieder keine Werkzeuge dabei hat, um die Distanz beispielsweise zwischen zwei Objekten zu bestimmen, lernt man irgendwann, so gleichmäßige Schritte zu machen, dass man sich tatsächlich auf sie als Maßeinheit verlassen kann. Auch hier kam mir diese Fähigkeit wieder einmal zugute. Als ich den letzten Schritt gemacht hatte, stand ich tatsächlich an der Stelle, die ich gesucht hatte. Natürlich sicherte ich mich ab und suchte nach den anderen Merkmalen, die ich am Tag zuvor notiert hatte, und sie waren alle da.
Natürlich war recht viel los auf der Mauer, aber letztendlich fiel ich nicht weiter auf. Ich stellte meinen Rucksack neben den Stein, den ich untersuchen wollte, kniete mich hin und tat so, als würde ich mir etwas aus dem Rucksack holen wollen. Hin und wieder waren Leute genervt davon, dass sie um mich herumgehen mussten, aber letztendlich dachte sich niemand etwas dabei. Ich war ein Tourist und Wesen dieser Spezies interessieren sich selten dafür, ob sie anderen den Weg blockieren.
Ich löste ein paarmal meinen Blitz manuell aus, um zu sehen, ob der Stein noch immer funktionierte. Er tat es. Das Blitzlicht wurde zurückgeworfen. Der Stein war quadratisch und etwa so lang wie die Strecke von meinem Handgelenk bis zu der Fingerspitze des Mittelfingers. Er war ein wenig kälter als die umliegenden Steine, wies ansonsten aber keine weiteren Besonderheiten aus. Er sah aus wie alle anderen auch.
Ich hob meinen Rucksack wieder auf und lief ein wenig auf der Mauer auf und ab. Ich musste nachdenken. Was war das für ein Stein? Aus welchem Material bestand er? Ich hatte in meinem Leben schon viele Höhlen erforscht und dabei viele interessante, fremdartige Materialien gefunden, dieses hier war mir bisher aber noch nie begegnet. Jedoch war ich in diesem Bereich auch kein Experte. Vermutlich wäre es am sinnvollsten, heimlich eine Probe des Steins zu nehmen und diese an meine Bekannte zu schicken, die als Archäologin die Welt bereiste und für Museen arbeitete, um für diese Steine aller Art zu analysieren.
Natürlich war es nicht so einfach, der Chinesischen Mauer eine Gesteinsprobe zu entnehmen. Am liebsten hätte ich gleich die komplette Steinplatte mitgenommen, doch wäre es mir nie gelungen, diese einfach so aus dem Boden zu entfernen. Abgesehen davon wollte ich das natürlich auch gar nicht, schließlich wollte ich die Chinesische Mauer nicht zerstören. Es sollte an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass ich mir ja noch nicht einmal sicher war, ob hier überhaupt irgendetwas von Interesse vorging. Vielleicht war das hier kein besonderer Stein, vielleicht gab es hier kein Mysterium, vielleicht ging hier alles mit rechten Dingen zu und der Stein war einfach nur selten, vielleicht sogar wertvoll, aber mehr auch nicht. Dafür wollte ich dieses beeindruckende Bauwerk nicht zerstören.
Ich beschloss, nur eine kleine Probe zu nehmen. Dafür befand sich ein kleiner Hammer in meiner Werkzeugtasche, der genau für diese Zwecke hergestellt worden war. Im Grunde war er vergleichbar mit einem Schnitzmesser, nur eben für Steine. Er war klein und handlich, stellte aber gleichzeitig das perfekte Werkzeug dar, um unauffällig eine kleine Gesteinsprobe zu nehmen, ohne dafür großes Aufsehen zu erregen. Ich ging weiter die Mauer entlang und spielte den Touristen. Ich hatte mir vorgenommen, zwischen meiner letzten Untersuchung und dem Nehmen der Gesteinsprobe mindestens eine Stunde verstreichen zu lassen, damit niemand, der mich zuvor an dem Stein hocken gesehen hatte, Verdacht schöpfte. So nahm ich mein mitgebrachtes Essen außerhalb der Mauer ein, blieb ein wenig in der Sonne sitzen und hielt gleichzeitig Ausschau nach weiteren Steinen, die mein Blitzlicht zurückwarfen. Da es helllichter Tag war, handelte es sich hierbei natürlich um kein leichtes Unterfangen, dennoch fotografierte ich munter drauflos, manchmal sogar ohne überhaupt einen Film in der Kamera zu haben, da ich gar kein Interesse an so vielen Fotos der Chinesischen Mauer hatte. Mir kam es nur darauf an, mein Blitzlicht auszulösen.
Aber ich fand nichts. Kein anderer Stein warf das Licht zurück. Nur dieser eine. Und ich war immer gespannter, um was für ein merkwürdiges Ding es sich hier handeln musste.
Als der Moment der Probe kam, war ich tatsächlich ein wenig nervös. Ich ging zu der mir mittlerweile bekannten Stelle, nahm den Rucksack ab, positionierte ihn so, dass er so viel wie möglich von meinem Tatort verdeckte, kniete mich hin und schlug in dem Moment, in dem meine Knie den Boden berührten, mit dem Hammer auf den Stein. Ich dachte mir, dass es so vermutlich am wenigsten Aufmerksamkeit erregte und man das Geräusch vielleicht meiner Bewegung zuordnete. Vielleicht einem klimpernden Schlüssel in meiner Tasche oder etwas ähnlichem.
Ich weiß nicht, wie die Leute reagierten, als sie das Geräusch vernahmen.
Ich weiß auch nicht, wie die Leute reagierten, nachdem ich mich auf einmal in Luft aufgelöst hatte.
Ich weiß nicht einmal, wie genau ich reagierte, nachdem ich mich aufgelöst hatte. Ich war zunächst viel zu erstaunt, als dass ich Zeit hatte, auf meine Gefühle zu achten.
Ich kniete nicht mehr auf der Chinesischen Mauer. Ich kniete noch, war aber woanders. Aber wo? Der Boden unter mir war kalt und glatt, als würde ich auf einer Glasscheibe knien. Ich sah mich um. Ich kniete in einem langen Gang, dessen Boden, Wände und Decke aus dem gleichen Material bestanden. Aber es war kein gewöhnliches Glas, man konnte nicht hindurchsehen. Alles um mich herum war weiß. Ich befand mich in einem Gang aus Milchglas.
Dann sah ich die Schatten unter mir. Überall tauchten ovale, dunkle Flächen auf. Manche bewegten sich nicht, manche wurden größer, manche wurden kleiner, als würden sie sich vom Milchglas entfernen oder auf es zubewegen. Sie waren etwa so groß wie meine Hände und irgendwie kamen mir die Formen bekannt vor. Ich erhob mich auf meine Füße und sofort fiel mir ein, woran mich diese Formen erinnerten. Sie waren nicht so groß wie meine Hände, sondern so groß wie meine Füße. Bei den Formen handelte es sich um Schuhsohlen. Und dann erkannte ich auch den Gang wieder, in dem ich mich befand.
Ich befand mich nicht in irgendeinem Gang.
Ich befand mich im Innern der Chinesischen Mauer.
Ich stand an der Decke im Innern der Chinesischen Mauer.
Über mir liefen Tourist*innen hin und her und ich sah ihre Schuhe, wie sie den Boden der Mauer berührten. Ich fühlte mich aber nicht, als würde ich auf dem Kopf stehen. Mein Blut schoss mir nicht in den Kopf, mir wurde nicht schwindelig. Gefühlt stand ich richtig herum. Aber ich tat es nicht. Hier stand und lief gerade einiges verkehrt.
Ich hielt noch immer meinen Hammer in der Hand. Langsam steckte ich ihn mir in die Hosentasche, denn mein Rucksack war scheinbar auf der anderen Seite der Mauer zurückgeblieben. Dann ging ich los. Ich berührte die Wände, den Boden und stellte fest, dass sich alles gleich anfühlte. Überall um mich herum befand sich das gleiche Milchglas. Und es fühlte sich genauso kalt an wie der Stein, den ich zuvor auf der anderen Seite untersucht hatte. Um mich herum war alles hell, als würde die Sonne von außen durch das Glas scheinen. Auch die Decke, in der echten Welt also der Boden, leuchtete. Es war unglaublich faszinierend.
Auf einmal sah ich vor mir eine Bewegung. Durch die geschwungene Bauweise der Chinesischen Mauer konnte ich in ihrem Innern nicht sehr weit sehen, doch etwa einhundert Meter vor mir sah ich etwas. Etwas kam auf mich zu. Ein Lebewesen. Und es war riesig. Vom Boden bis zur Decke waren es etwa sechs Meter, was der Höhe der Chinesischen Mauer entsprach. Das Wesen vor mir war etwa drei Meter hoch. Es bewegte sich mit einer konstanten Geschwindigkeit auf mich zu, die auf mich übertragen etwa leichtem Joggen entsprach. Von der Körperhaltung und -Form her erinnerte es ein wenig an einen riesigen Waran. Es hatte einen schmalen Kopf, einen langen Hals, der nahtlos in den Körper überging. Hin und wieder konnte ich einen sich hin und her bewegenden Schwanz hinter dem Wesen erkennen. Die Beine waren eher seitlich am Körper angebracht, wodurch das Tier fast genau die gesamte Breite des Ganges einnahm. Es wäre unmöglich gewesen, sich seitlich an ihm vorbeizubewegen, ohne von seinen großen und mit Krallen bestückten Füßen getroffen zu werden. Er passte perfekt in den Gang. Als wäre er für dieses Wesen gebaut worden. Und hatte man das Wesen für diesen Gang erschaffen?
Das Schlimmste aber waren die zwei gigantischen Hörner. Das Wesen trug eines an jeder Seite seines Kopfes. Es erinnerte dadurch an eine große Echse, die den Kopf eines Stiers mit sich herumtrug, weshalb ich ihm den Namen Stichse gab.
Als die Stichse mich erblickte, blieb sie abrupt stehen. Sie schaute mich mit ihren zwei Augen an, musterte mich, schien kurz abzuwarten. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Würde sie mich verstehen? War eine Kommunikation überhaupt möglich? Warum war sie hier? Und wo beziehungsweise was war dieses »Hier« überhaupt?
Mir blieb keine Zeit mehr, mich mit weiteren Fragen selbst zu durchlöchern. Auf einmal gab die Stichse einen lauten Schrei von sich, der klang wie eine zerspringende Fensterscheibe. Sie senkte ihren Kopf, richtete dabei die beiden Hörner nach vorne, riss ihr Maul auf, schrie weiter und rannte mit einer beeindruckenden Geschwindigkeit auf mich zu.
Sofort war klar, was geschehen würde, wenn ich beschloss, einfach stehen zu bleiben. Entweder würde ich im Maul der Bestie enden oder von ihren Hörnern aufgespießt werden. Um zu überleben, musste ich wegrennen. So einfach war die Sache. Also rannte ich.
Zu dieser Zeit war ich zum Glück noch in einem Alter, in dem man tatsächlich von Rennen sprechen konnte. Heutzutage hätte die Stichse vermutlich schon nach wenigen Sekunden kurzen Prozess mit mir gemacht, damals war ich aber tatsächlich ein einigermaßen schneller Läufer und verfügte zudem über ausreichend Kondition, einen Sprint für mehr als nur wenige Sekunden aufrechtzuerhalten. Dennoch wusste ich, dass die Stichse schneller war als ich.
Von Sekunde zu Sekunde hörte ich ihren Schrei näherkommen. Sie schien nicht einmal Luft holen zu müssen. Sie schrie und schrie und schrie und ich werde diesen Schrei vermutlich nie wieder vergessen. Je näher sie mir kam, desto höher würde der Schrei und mittlerweile hatte ich das Gefühl, dass meine Ohren anfingen zu bluten, was sich zum Glück am Ende nicht als wahr herausstellte.
Ich wusste, dass mir nur noch Sekunden blieben. Ich musste mir etwas einfallen lassen. Ich musste hier raus. Aber wie? Gab es irgendwo eine Tür? Ich hatte einen Teil der Mauer erreicht, in dem ich relativ weit nach vorne sehen konnte, jedoch sah ich nichts anderes als Milchglas und die Schatten von Schuhsohlen. Nein, eine Tür würde mich diesmal nicht retten können. Man konnte nicht immer so viel Glück haben wie damals während der Erforschung des Tropfsteinlabyrinths unter Tschernobyl.
Meine einzige Hoffnung lag in der Art und Weise, wie ich diesen verfluchten Gang ursprünglich betreten hatte. Als ich den kleinen Hammer aus meiner Hosentasche zog, spürte ich bereits den Atem der Stichse. Warme Feuchtigkeit erreichte meinen Nacken, schon bald würde ich als Stichsenfutter enden. Ich hatte nur eine Chance. Ich hechtete nach vorne, landete auf dem Bauch und schlug gleichzeitig auf den Boden des Ganges.
Die Echse verstummte, stattdessen hörte ich die Schreie von Menschen. Ich schaute mich um und stellte überrascht und gleichzeitig erleichtert fest, dass ich mich wieder auf der richtigen Seite der Chinesischen Mauer befand. Leider hatte mein plötzliches Auftauchen einige Menschen nachvollziehbarerweise heftig erschrocken, weshalb sie zurückwichen und schrien. Schnell stand ich auf, legte ein breites Grinsen auf, verbeugte mich und gab ein lautes »Tadaaa« von mir, als wäre ich ein Zauberer während einer Zirkusvorstellung gewesen und hätte hier gerade lediglich ein kleines Kunststück vorgeführt. Dann rannte ich davon. Zum Glück hatte mich niemand vom Wachpersonal gesehen. Ein paar Menschen hatten mich fotografiert, jedoch handelte es sich hierbei letztendlich lediglich um die Fotos eines Mannes, der auf dem Boden der Chinesischen Mauer lag oder sich vor einer Menschenmenge verbeugte. Zum Glück wusste ich noch, wo auf der Mauer ich mich befand, schließlich hatte ich zuvor Stunden damit verbracht, sie zu erforschen, weshalb es mir auch nicht schwerfiel, meinen Rucksack zu finden. Dieser lag noch immer an der gleichen Stelle, an der ich ihn zurückgelassen hatte, letztendlich waren zwischen meinem Verschwinden und Auftauchen nur wenige Sekunden vergangen. Ich nahm meinen Rucksack an mich und rannte davon. Ich war nicht einmal mehr einen Blick auf diesen verfluchten Stein, von dem ich kurz zuvor meinen Blick nicht mehr hatte abwenden können.
Ich hatte schnell genug gehandelt, um die Chinesische Mauer ohne Probleme wieder zu verlassen.
Erst im Hotel angekommen, gönnte ich mir zum ersten Mal einen Moment der Ruhe, um über das Gesehene nachzudenken. Was war das nur für ein Ort gewesen? Welchen Zweck hatte er? Was lag an den Enden des Ganges? Und was war das für ein merkwürdiges Wesen? Was bewachte die Stichse?
Ich muss zugeben, dass ich in diesem Moment nicht mehr das Verlangen verspürte, der Sache nachzugehen. Ich hatte mein Leben riskiert, wäre beinahe dabei draufgegangen und hatte erst einmal genug von Mauern jedweder Art. Ich reiste noch am gleichen Tag ab, flog wieder zurück nach Hause und habe seitdem keinen Fuß mehr auf die Chinesische Mauer gesetzt.
Ich weiß nicht, ob die Stichse unter der Chinesischen Mauer schon einmal einen Menschen getötet hat. Ich bin mir nicht einmal sicher, was genau nötig ist, um zwischen den beiden Welten zu wechseln. Lag es an meinem Hammer? Oder reichte es auch, mit einem anderen Gegenstand auf diesen einen bestimmten Stein zu schlagen? Reichte es aus, zu stolpern und zufällig beispielsweise mit dem eigenen Fotoapparat auf den Stein zu schlagen, um in die Welt der Stichse zu gelangen? Wie schon gesagt: Bis heute habe ich mich nicht mehr getraut, die Chinesische Mauer zu besuchen. Auch meiner Archäologenfreundin habe ich bisher nichts von ihr erzählt.
Mittlerweile bin ich zu Alt für eine weitere Reise nach China und zur Chinesischen Mauer. Ich habe es all die Jahre vor mir hergeschoben. Aber um ehrlich zu sein, vermisse ich diesen Ort auch nicht und ich bin mir sicher, dass es eine gute Entscheidung war, ihn nicht wieder aufzusuchen.
Mein Tipp an Sie: Passen Sie bloß auf, auf welche Steine Sie mit einem Hammer schlagen. Ich werde Ihnen nicht verraten, wo genau sich der Stein befindet, der Sie in die Welt der Stichse bringen wird, und ich fordere Sie gleichzeitig dazu auf, das Mysterium um diesen Ort ruhen zu lassen. Riskieren Sie nicht ihr Leben.
Aber wenn sie es doch tun, wünsche ich Ihnen viel Glück.