Vor vielen Jahren stand ein Mann vor meiner Haustür. Er bat mich um Rat. Er hatte eine alte Karte gefunden, auf der von einer Region die Rede war, von der ansonsten in keinem Atlas oder vergleichbaren Kartensammlungen irgendeine Aufzeichnung existierte. Auf der Karte stieß er auf Hinweise und Notizen einer namentlich nicht genannten Person. Sie redete von unvorstellbaren Dingen. Dem Ursprung der Sonnenblumen. Einer Lichtung an der Sonne. Einem Ort der Helligkeit. Und noch vielen anderen Dingen, die zu diesem Zeitpunkt klangen wie die Worte eines Verrückten, gleichzeitig aber so faszinierend formuliert und ausgearbeitet waren, dass es nur schwer vorstellbar war, dass nicht ein kleiner Funken Wahrheit in ihnen steckte.
Von mysteriösen Karten geht immer eine unbeschreibliche Faszination aus. Mein Gegenüber weigerte sich, mir zu erklären, woher es die Karte hatte, was die Sache natürlich nur noch faszinierender machte. Die Karte war auch eigentlich keine richtige Karte. Man hatte eine Region skizziert, die von Schluchten zerfressen war. Keine genauen Ortsangaben, keine Städte oder etwas Vergleichbares. Nichts. Lediglich ein paar Schluchten.
Eigentlich hatte der Mann mich nur kontaktiert, um sich Tipps einzuholen, wie man eine Expedition nach einem unbekannten Ort zusammenstellen konnte, da er selbstverständlich bereits von meinen Forschungsreisen gehört hatte. Robert, so hieß besagter Mann, war sichtlich überrascht, als ich ihm nicht nur Auskunft gab, sondern ihn gleichzeitig darum bat, die Sache mir zu überlassen. Ich hatte die Verbindungen, eine Truppe zusammenzustellen, die der ganzen Sache problemlos auf den Grund gehen konnte. Gleichzeitig hatte ich große Lust, mich an der Reise zu beteiligen. Ich wollte dabei sein und ihn begleiten. Robert zeigte sich hoch erfreut und willigte ein, ohne lange darüber nachzudenken.
Nur wenige Tage später brachen wir gemeinsam auf. Wir studierten die Karte stundenlang, um Anhaltspunkte über den abgebildeten Ort zu finden, und waren uns mit der Zeit sicher, dass er in Australien liegen musste. Das Material der Karte, die Formen der Schluchten, ein paar andere Hinweise, alles sprach dafür. Selbstverständlich handelte es sich hierbei um eine äußerst unpräzise Feststellung, wenn man bedenkt, wie groß Australien ist, jedoch beschlossen wir aufgrund der langen Reise von Deutschland nach Australien, alle weiteren Details während der Reise und nach unserer Ankunft zu besprechen.
Mein Forschungstrupp bestand aus fünfzehn Personen, mich und Robert eingeschlossen. Wir hatten alles dabei, was man benötigte, wenn man sich an einen unbekannten Ort begab. Von einer Pilotin über einen Kapitän bis hin zu einem Arzt befand sich alles in unserer Truppe, was man zum Überleben brauchte, wodurch wir uns sicher waren, die Reise ohne große Verluste zu einem Ende bringen zu können. Egal, ob wir den gesuchten Ort nun fanden oder nicht.
Es dauerte etwa drei Tage, bis wir in Australien angekommen waren, da wir auf dem Weg dorthin diverse Zwischenstopps einlegen mussten, um die Mitglieder der Truppe aufzusammeln, Gerätschaften abzuholen oder auch einfach nur die Wartezeit zwischen den Flügen zu überbrücken. Aber als wir endlich angekommen waren, hatten wir einige weitere Erfolge bei der Erforschung der Karte verbuchen können. Ein Satz fiel uns immer wieder ins Auge: »Erreicht den Tiefpunkt unter der Erde.« Was genau das bedeutete, wussten wir nicht. Aber es war ein Fortschritt. Und mehr benötigt ein Forschungsreisender wie ich nicht, um weiterhin motiviert zu sein.
Bei Robert sah die Sache ein wenig anders aus. Seine anfängliche Motivation hatte mittlerweile einem Berg voller Zweifel Platz gemacht. Immer wieder betonte er, dass die Sache vermutlich keine gute Idee sei und wir besser umkehren sollten. Es hatte alles keinen Sinn. Was, wenn wir uns in Australien verlaufen? Von einer Klippe fallen? In einem Fluss ertrinken? Von wilden Tieren getötet werden? Es kostete mich beinahe mehr Energie, Robert vom Abbruch der Expedition abzubringen, als diese selbst durchzuführen.
Grundsätzlich hatten wir folgenden Plan: Wir wollten die tiefsten Schluchten Australiens besuchen, diese hinunterklettern und uns dort umsehen. Wir sprachen mit Reisebüros, Einheimischen und Kletterexpert*innen und schlugen in Lexika und dem Internet nach, um alle Schluchten zu finden, die für uns irgendwie in Frage kamen, und zu den restlichen Hinweisen der Karte passten. Am Ende einigten wir uns auf den sogenannten »Kings Canyon« in Australien, einen unglaublich faszinierenden Ort Australiens, voller Berge, voller Schluchten, voller unerforschter Höhlen und abgelegenen Flächen. Es schien beinahe zu offensichtlich, dass der gesuchte Ort hier sein musste. Aber manchmal ist es nicht verkehrt, erst einmal an den offensichtlichen Orten zu suchen und sei es nur, um diese anschließend auszuschließen.
Wir verbrachten mehrere Tage im »Kings Canyon«. Wir kletterten Schluchten hinunter und wieder hinauf, nachdem wir in ihnen nichts gefunden hatten. Wir bestiegen Berge. Wir erforschten Höhlen. Aber obwohl wir das Gefühl hatten, am richtigen Ort zu sein, fanden wir nichts, was auf diesen sagenumwobenen Ort hinwies. Aber wir hatten ja auch keine Ahnung, wonach wir Ausschau halten sollten. Selbst in den tiefsten Tiefen der tiefsten Schlucht fanden wir nichts. Keine Schriftzeichen, keine weiteren Karten, keine Hinweise, gar nichts. Eine Enttäuschung folgte der nächsten und obwohl ich mich davon aufgrund meiner Erfahrungen als Forscher nicht aus der Ruhe bringen ließ, sah die Sache bei Robert anders aus.
Von Tag zu Tag wurde er verzweifelter. In manchen Nächten hörte man ein erbärmliches Schluchzen aus seinem Zelt. Morgens wirkte er immer ein wenig unmotivierter als am Vortag. Er seufzte, jammerte und schimpfte. Wurden wir von Regen überrascht, gab er sich selbst die Schuld und entschuldigte sich bei uns dafür, uns an diesen elendigen Ort gebracht zu haben. Schien die Sonne, entschuldigte er sich ebenfalls. Und auch für die immer wieder auftauchenden Windstöße war er aus seiner Sicht verantwortlich. Wir alle versuchten, ihn aufzuheitern. Ich hatte meine Truppe mit Bedacht gewählt, mit jeder der anwesenden Personen hatte ich bereits mindestens zwei oder drei Forschungsreisen hinter mich gebracht und nicht jede von ihnen war erfolgreich gewesen. Sie wussten, wie frustrierend Unternehmungen dieser Art sein konnten, wussten aber auch, dass diese Emotionen eben dazu gehörten und man sich besser an sie gewöhnte.
Robert gelang das nicht. Als wir nach etwa zwei Wochen noch immer nichts gefunden hatten, war er bereit für den Abbruch der Expedition. Da er für die Finanzierung des Ganzen zuständig war, hatten wir natürlich keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Wenn er sich zum Abbruch entschloss, hatten wir keinen Grund mehr, in Australien zu bleiben. Mit großer Mühe überredete ich ihn zu einer letzten Erkundung. Eine letzte Schlucht. Ein letztes Mal wollten wir hinab steigen in die Dunkelheit im Innern Australiens. Es dauerte lange, Robert davon zu überzeugen, aber am Ende willigte er ein.
Der Abstieg war hart. Nicht härter als die vorherigen, aber eben auch nicht leichter. Ein paar von uns blieben wie immer oben, um im Notfall helfen zu können und gleichzeitig das Lager zu bewachen. Wir blieben mit Funkgeräten in Kontakt, gaben immer wieder unseren Status durch und ließen uns von oben mit allen wichtigen Informationen versorgen. Wir kletterten zu sechst nach unten, Robert und ich waren selbstverständlich dabei.
Leider war der Anblick, der sich uns unten angekommen bot, nichts anderes als eine herbe Enttäuschung. Die Schlucht erinnerte an einen langen, dunklen Gang ohne irgendwelche Besonderheiten. Wir wanderten etwa zwei Stunden lang herum, suchten irgendwelche Auffälligkeiten und fanden nichts. Das war der Punkt, an dem Roberts Stimmung für immer kippte.
Gerade, als wir uns auf den Aufstieg vorbereiteten, hörten wir Roberts Schluchzen, gefolgt von lautem Weinen. Da stand er also, auf dem Boden der Schlucht, und heulte wie ein kleines Kind, das seine Eltern im Einkaufszentrum verloren hatte. Es war alles einfach zu viel für ihn. Immer wieder bezeichnete er sich selbst als Versager, als unfähig, als nutzlos und als Taugenichts. Wir bemerkten alle, dass hier mehr los war als Enttäuschung über eine misslungene Expedition. Robert schien sich an etwas geklammert zu haben, was er nicht erreicht hatte. Er hatte ein großer Entdecker werden und der Welt neue Erkenntnisse liefern wollen. Stattdessen stand er nun hier, mit nichts in Händen als ein paar langweiligen Notizen über langweilige Schluchten im langweiligen Gestein unter Australien. Er sah nicht die Naturgewalten, die notwendig waren, um solche Schluchten überhaupt erscheinen zu lassen. Er sah nicht das Sonnenlicht, das sich wirklich anstrengen musste, um uns zu erreichen. Nichts faszinierte ihn. Er ignorierte die Schönheit der Natur um sich herum, denn er hielt lediglich Ausschau nach der kleinen Besonderheit, die ihn selbst zu etwas Besonderem machen sollte.
Langsam ging ich auf ihn zu. Als ich ihn erreicht hatte, legte ich meinen Arm um ihn. Ich wollte ihn aufmuntern und ihm zeigen, dass er nicht alleine war. Als ich ihn berührte, zuckte er zusammen und stieß mich von sich. »Ich brauche Ihr Mitleid nicht«, schrie er in meine Richtung. »Geht ohne mich. Lasst mich zurück. Ich bin ein Nichts, ich bin ein Niemand. Niemand wird mich vermissen. Geht endlich!« Er hatte Tränen in den Augen. Natürlich hätten wir ihn niemals zurückgelassen. Wir wussten aber auch, dass er sich gerade in einer schwierigen Situation befand. Er hatte seinen eigenen Tiefpunkt erreicht.
Und genau in diesem Moment geschah das Unvorstellbare. Genau unter Robert begann der Boden zu leuchten. Zunächst war es nur ein kaum erkennbarer, gelber Lichtschimmer, der jedoch immer heller wurde. Als Robert ihn sah, wich er zurück, wollte ihm ausweichen, jedoch verfolgte ihn das Licht. Als würde jemand von unten eine Taschenlampe auf ihn richten. Nur wenige Sekunden später versank er im Boden.
Eigentlich war das unmöglich. Wir alle standen auf festem Gestein. Dennoch verhielt sich der Boden wie Treibsand. Es ging alles unglaublich schnell. Innerhalb weniger Sekunden war er bereits bis zur Hüfte im Boden versunken. Ich hechtete ihm entgegen, landete unsanft auf dem Bauch, schaffte es jedoch, seinen Arm zu packen. Die anderen Mitglieder meiner Truppe setzte sich ebenfalls in Bewegung. Zwei von ihnen packten mich an den Füßen, um wiederum mich festzuhalten, denn sie merkten schnell, dass ich mit Robert zusammen in die Tiefe gezogen wurde. Ich ließ nicht los. Robert schrie. Die Menschen an meinen Beinen ebenfalls. Ich selbst blieb still, schließlich hatte ich in gewisser Weise die Kontrolle verloren. Robert hielt mich vor Panik genauso fest wie ich ihn. Jeder weiß, dass man einem ertrinkenden Menschen nicht hinterherschwimmen und ihn niemals festhalten sollte, weil er einen panisch mit ins Verderben ziehen wird. Und genau diesen Fehler hatte ich soeben begangen. Robert versank im Steinboden und riss mich mit sich in die Tiefe.
Als nur noch Roberts Arm zu sehen war, wusste ich, dass ich es ihm nun gleichtun würde. Er ließ mich nicht los. Er hielt mich noch immer fest. Meine Hand versank im Boden. Es fühlte sich merkwürdig an, als würde ich in kalten, festen Pudding eintauchen. Kurz bevor mein Kopf darin versank, hielt ich die Luft an und schloss die Augen. Ich konzentrierte mich auf die Atmung, spürte die Kälte in meinem Gesicht und auch, wie der Griff der Anderen um meine Füße sich lockerte. Nach und nach bemerkte ich, dass man mich losließ. Ich war den Menschen hinter mir nicht böse. Sie taten genau das Richtige. Robert und ich waren verloren, es gab keinen Grund, sich nach und nach in die Tiefe ziehen zu lassen.
Ich ließ die Augen geschlossen, spürte die Kälte, dann auf einmal nichts mehr und zuletzt nur noch, wie ich fiel. Ich riss die Augen auf, sah den Boden unter mir näherkommen, streckte die Arme instinktiv nach vorne, um den Sturz abzufangen, und landete relativ weich auf dem Boden.
Neben mir sah ich Robert liegen, der scheinbar genauso unsanft und plötzlich wie ich an diesem merkwürdigen Ort angekommen war. Nachdem wir beide uns für ein paar Sekunden neu orientiert hatten, standen wir auf. Wir standen in einem Feld voller Sonnenblumen. Wir waren umgeben von ihnen. Sie ragten etwa drei Meter in die Höhe und waren der Grund dafür gewesen, dass unsere Landung so weich ausgefallen war. Wir standen auf umgeknickten Sonnenblumen. Über uns war nichts anderes als blauer Himmel zu sehen. Die Sonne stand senkrecht am Himmel, als wäre es an der Zeit, das Mittagessen einzunehmen. Woher waren wir gekommen? Klar, von oben, aber über uns war nichts als Sonne und Himmel. Kein Loch, keine Decke, kein gar nichts.
Ich fand mich schnell damit ab und auch Robert entschied für sich, seinen Blick erst einmal auf die Umgebung in unserer direkten Nähe zu richten. Sonnenblumen. Nichts als Sonnenblumen. Wir konnten nicht weit sehen, da die Blumen alle in einem Abstand von etwa zwanzig oder dreißig Zentimetern aus dem Boden ragten. Nach ein paar Metern sah man nichts anderes mehr als die dicken, festen Stiele der Sonnenblumen.
Wir gingen ein paar Schritte in eine zufällig bestimmte Richtung. Durch den Stand der Sonne konnten wir erst einmal keine Himmelsrichtung bestimmen. Also marschierten wir einfach los. Es würde nichts bringen, hier stehenzubleiben. Über uns war nichts. Es war unwahrscheinlich, dass auf einmal ein Seil aus dem Nichts auftauchen würde, das unser Team zu uns hinuntergelassen hatte. Ich war der festen Überzeugung, dass der Boden, in dem wir vor Sekunden verschwunden waren, mittlerweile wieder zu festem Stein geworden war. Robert hatte uns hierher gebracht. Und für die Menschen in der Schlucht war er verschwunden.
Dann hörten wir Schritte. Sie waren zunächst sehr leise, wurde aber von Sekunde zu Sekunde lauter. Etwas kam auf uns zu. Schnell. Ich gab Robert zu verstehen, leise zu sein. Vorsichtig gingen wir weiter, in die entgegengesetzte Richtung, aus der die Schritte kamen. Um nicht so leicht verfolgt werden zu können, ging ich vorsichtig vorwärts und achtete darauf, keine weitere Sonnenblume umzuknicken. So würde man unsere Laufrichtung nicht so einfach bestimmen und uns zumindest nicht sofort finden können. Wir brachten ein paar Meter hinter uns, dann gab ich Robert das Zeichen, sich hinzuknien und ruhig zu verhalten. Wir mussten uns verstecken. Die Schritte hatten uns beinahe erreicht. Gerade als wir uns hingehockt hatten, sah ich ihn.
Es war ein Hund. Zumindest auf den ersten Blick. Aber er war riesig, erinnerte von der Größe her eher an einen ausgewachsenen Tiger als an einen Hund. Sein Körperbau war auffällig rundlich, als hätte er zu viel Futter bekommen. Er wirkte beinahe pummelig. Aber am auffälligsten war die Farbe seines Fells. Es war gleichmäßig von schwarzen als auch gelben Streifen übersäht, die sich einmal um seinen Körper wickelten.
Er blieb an der letzten von uns umgeknickten Sonnenblume stehen und schnüffelte daran. Dann hob er den Kopf und schaute sich um. Seine Augen waren ebenfalls eine Besonderheit. Sie waren vollkommen weiß. Keine Pupillen, kein gar nichts. Seine weißen Augen starrten in alle möglichen Richtungen, ohne dass man feststellen konnte, ob er einem gerade tief in die Augen schaute oder nur haarscharf an einem vorbei. Ich hielt es für das Beste, erst einmal abzuwarten. Würde er sich weiter in unsere Richtung bewegen, würden wir immer noch wegrennen können, aber gerade hielt ich es für ratsam, weiterhin still zu bleiben und das Tier zu beobachten.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis das Tier wieder seinen Kopf senkte. Erneut schnupperte es an der umgeknickten Sonnenblume. Auf einmal drehte es sich so, dass es seitlich zu besagter Blume stand, und hob sein Bein, wie man es von männlichen Hunden zu genüge kannte. Und tatsächlich geschah genau das, was ich erwartet hatte. Er urinierte. Genau auf die umgeknickte Sonnenblume. Was dann geschah, hätte ich mir jedoch in meinen kühnsten Träumen nicht ausmalen können.
Langsam richtete sich die Sonnenblume wieder auf. Der eigentlich zerknickte Stiel wuchs wie von Geisterhand wieder zusammen und nur wenige Sekunden später stand die Sonnenblume aufrecht, als wäre nichts geschehen. Der Hund stellte das Pinkeln ein und begab sich zur nächsten umgeknickten Sonnenblume. Er wiederholte das Schauspiel und auch diese Blume stand kurze Zeit später aufrecht und reckte ihren Kopf gen Sonne. Ich traute meinen Augen nicht.
Dann sah ich auf den Boden, an die Stiele der Sonnenblumen, die wir gerade als Deckung benutzten. An der Stelle, an der sie aus dem Boden ragten, klebte eine gelbe Flüssigkeit. Ich nahm einen meiner Kletterhandschuhe und tunkte einen der Finger des Handschuhs in die Flüssigkeit hinein. Als ich ihn herauszog, bildete sich ein feiner, klebriger Faden, der erst zerriss, als ich den Handschuh auf Höhe meines Gesichts gebracht hatte. Ich roch an der Flüssigkeit und stellte erstaunt fest, dass es sich um Honig handelte. Der Urin des Hundes war Honig. Er schied ihn aus, um die Sonnenblumen zu reparieren. Aber zu welchem Zweck? Warum tat er das?
Weitere Fragen konnte ich mir nicht stellen, da ich erschrocken feststellen musste, dass sich Robert nicht mehr neben mir befand, sondern sich langsam auf den Hummelhund, für diesen Namen hatte ich mich in diesem Moment entschieden, zubewegte. Er warf noch einen Blick zu mir zurück, bewegte seinen Finger an die Lippen und gab mir das Signal, still zu sein. Ich wollte ihn aufhalten, wollte aber gleichzeitig nicht meine Deckung verlassen. Was war nur in Robert gefahren? Aber als ich einen Blick in seine Augen warf, wusste ich es. Er war wie besessen davon, den Hummelhund zu erforschen. Dieses Tier stellte das dar, was er sich immer gewünscht hatte. Eine ungewöhnliche Entdeckung. Etwas Besonderes. Ein Wesen, das ihn berühmt machen würde. Und er wollte es nicht entkommen lassen.
Er gab ein leises »Hey« von sich, um den Hummelhund auf sich aufmerksam zu machen. Der Hund schreckte auf und drehte sich in Roberte Richtung. Er blieb stehen, schaute ihn mit seinen weißen Augen an und trottete anschließend langsam auf ihn zu. Er wirkte nicht aggressiv, sondern hinterließ einen entspannten Eindruck. Robert hielt dem Tier die Hand hin und ließ es daran schnuppern, was es sich nicht zweimal sagen ließ. Alles blieb friedlich. Dennoch wollte ich die Sache erst einmal beobachten und sich entwickeln lassen. Ich hatte nicht erst seit meiner Reise in die Katakomben unter Athen gelernt, dass man sich vor Tieren, die gleichzeitig aussehen wie Hunde und Tiger, in acht nehmen musste, selbst wenn sie einen zu einer Tasse Tee einluden. Leider hatte Robert Erfahrungen dieser Art nie gemacht. Und deswegen war er auch so unvorsichtig.
Nachdem der Hummelhund das Schnuppern hinter sich gebracht hatte, näherte er sich Robert einige weitere Zentimeter. Robert sah dies als Aufforderung und streichelte ihn. Der Hummelhund wiederum wandte sich um, stand seitlich zu Robert, hob auf einmal das Bein und pinkelte ihm auf den Schuh. Robert wich angewidert zurück. »Och ne, muss das sein?« Das waren die letzten zusammenhängenden Worte, die ich von ihm hörte. Auf einmal begann er zu schreien.
Ich sah sofort, dass mit seinem Schuh etwas nicht stimmte. Er wurde dünner und dünner. Dann wuchs er mit dem anderen Schuh zusammen. Das fremdartige Schuhgebilde versank im Boden und verfärbte sich grün. Dann wuchsen Roberts Beine zusammen. Die Verwandlung vollzog sich von unten nach oben und ging unglaublich schnell. Nach fünf Sekunden war sie bis zur Hüfte fortgeschritten. Ich erkannte sofort, was hier geschah. Robert verwandelte sich in eine Sonnenblume.
Er schrie und schrie, jedoch konnte er nichts mehr tun. Und ich auch nicht. Ich sah, wie der Körper immer schmaler wurde und gleichzeitig in die Höhe schoss. Ja, es bestand kein Zweifel mehr, Robert wurde zu einer Sonnenblume. Sofort ließ ich den Kletterhandschuh fallen, den ich zuvor in den Honig getunkt hatte, stellte aber fest, dass sich hier kein Verwandlungsprozess anbahnte. Scheinbar verlor der Urin des Hummelhundes mit der Zeit seine Wirkung. Glück gehabt. Ich blieb an Ort und Stelle stehen, wagte nicht, mich zu bewegen, hatte Angst davor, aus Versehen eine Sonnenblume zu zerknicken und dadurch auf mich aufmerksam zu machen. Ich blieb ruhig. Auch Robert gab mittlerweile keinen Laut mehr von sich. Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht einmal mehr, wo er sich befand. Die Verwandlung war abgeschlossen. Er sah aus wie jede andere Sonnenblume in diesem verdammten Feld und als ich meinen Blick kurz auf den Hummelhund richtete, wusste ich anschließend nicht mehr, bei welcher der Sonnenblumen es sich um Robert handelte.
Ich wartete weiter ab. Wagte es nicht, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Minutenlang. Der Hummelhund ging langsam von einer umgeknickten Sonnenblume zur nächsten. Immer wieder schnupperte er ein Weilchen, hob anschließend sein Bein und nach und nach waren die Spuren unserer Flucht verschwunden. Die Sonnenblumen erstrahlten wieder in ihrer ganzen Pracht.
Irgendwann verschwand der Hummelhund hinter ein paar Sonnenblumen. Er setzte seine Arbeit in die Richtung fort, aus der wir ursprünglich gekommen waren. Er hatte mich nicht bemerkt. Ich atmete einmal tief ein und aus. Es war still um mich herum. Keine Schritte mehr. Lediglich das leichte Rauschen der Sonnenblumen im Wind war zu hören. Ich sah nach oben. Die Sonne stand immer noch im Zenit. Als wäre keine Zeit vergangen. Wo war ich nur gelandet? Langsam setzte ich mich in Bewegung. Ich beschloss, einfach so gut es ging in eine Richtung zu gehen, in der Hoffnung, dieses verdammte Feld hinter mir lassen zu können.
Ich weiß nicht, wie lange ich unterwegs war. Die Sonne blieb die ganze Zeit über regungslos am Himmel. Ich vermute, dass ich mehrere Stunden unterwegs war. Hin und wieder passte ich nicht auf und knickte eine der Sonnenblumen um. Sofort beschleunigte ich die Schritte, um mich vom Unfallort zu entfernen. Manchmal hatte ich das Gefühl, die Schritte des Hummelhundes hinter mir zu hören. Sicher war ich jedoch nie. Vielleicht bildete ich mir das Ganze auch ein. Ich wusste es nicht. Aber ich wollte es auch nicht herausfinden. Ich wusste schließlich nicht einmal, wie viele Hummelhunde in diesem Feld lebten. Ich wusste lediglich, dass ich verschwinden musste.
Stunden später, ich hatte bereits die Hoffnung aufgegeben, diesen verfluchten Ort jemals wieder zu verlassen, stand ich auf einmal an einer Schlucht. Es ging beinahe senkrecht nach unten. Ich schaute nach links und rechts und sah, dass die Schlucht das Sonnenblumenfeld umschloss, wie eine natürliche Grenze. Das Feld musste gigantisch sein, da die Schlucht in beide Richtungen schier endlos weit geradeaus verlief. Jedoch war das, was sich auf der anderen Seite der Schlucht befand, viel schlimmer.
Ich starrte auf ein weiteres Sonnenblumenfeld.
Vor und hinter mir bot sich der gleiche Anblick. Sofort wusste ich, dass ich dort keine Rettung erwarten konnte. Ich musste mein Glück in der Schlucht suchen. Ich musste sie hinuntersteigen.
Ich zog meinen mir verbliebenen Kletterhandschuh an und begann den Abstieg. Ausrüstung hatte ich keine bei mir, mein Rucksack und alle anderen Gerätschaften lagen noch in der Schlucht bei meiner Gruppe. Mehr schlecht als recht hielt ich mich an Felsvorsprüngen fest, kletterte nach unten, rutschte ab, bekam abstehende Kanten zu fassen, kletterte weiter und arbeitete mich auf diese Weise langsam Meter für Meter nach unten vor.
Der Boden der Schlucht war nicht auszumachen. Aber ich musste es einfach versuchen. Ich kletterte immer etwa zehn Minuten lang, suchte mir dann einen Felsvorsprung, der mir genug Platz bot, um mich hinzusetzen, und ruhte mich etwa zwanzig Minuten lang aus. Auf diese Art und Weise legte ich eine ordentliche Wegstrecke zurück. Dem Sonnenlicht fiel es immer schwerer, mir meinen Weg zu beleuchten, jedoch bin ich mir gar nicht sicher, ob es das überhaupt wollte. Als ich nach etwa zwei Stunden auf einem weiteren Vorsprung Platz nahm und nach unten sah, erkannte ich endlich das Ende der Schlucht. Es lagen nur noch etwa zehn Meter zwischen mir und dem rettenden Boden. Natürlich wusste ich nicht, ob der Boden wirklich Rettung bedeutete, jedoch war alles Besser als eine Rückkehr zu den Sonnenblumen. Obwohl der Boden so nah war, wollte ich nichts überstürzen und hielt mich an meine normalen Pausenzeiten. Keine Panik. Kräfte sammeln. Ruhe bewahren. Ich hatte schon zu viel erlebt. Ich wusste, was zu tun war.
Als ich mich endlich an den Abstieg machte, verlief alles ohne Probleme. Ich blieb ruhig, überlegte mir jeden Schritt genau und erst, als der Boden nur noch etwa zwei Meter unter mir lag und ich erkennen konnte, dass es sich um festen Steinboden handelte, stieß ich mich von der Wand ab und landete sicher auf den Füßen. Nur um anschließend festzustellen, dass meine Füße im Erdreich versanken. Es war die gleiche Situation wie zuvor. Wie Robert versank ich im Boden und konnte nichts dagegen tun. Ich hatte mich zu weit von der Felswand abgestoßen, als dass ich sie noch hätte erreichen können, um mich festzuhalten. Ich versank, wusste aber auch, dass dies noch nicht unbedingt mein Todesurteil bedeutete.
Füße, Knie, Oberschenkel, Hüfte, Bauch, Brust, Schultern, Hals, einatmen, Augen schließen, abwarten.
Als das kalte Gefühl von Pudding verschwunden war, packte mich jemand an den Schultern und zog an mir. Ich erkannte die Stimme sofort, es war eine meiner Begleiterinnen, die in dem Moment, als ich mit Robert versunken war, bei mir gewesen war. Weitere Hände packten mich. Meine Arme kamen frei, dann die Hüfte, die Beine und als ich die Augen öffnete, lag ich auf dem Boden der Schlucht, in der meine merkwürdige Reise begonnen hatte.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich mich von der ganzen Sache erholt hatte. Meine Begleiter*innen erklärten mir anschließend, dass ich nur wenige Sekunden, nachdem ich im Erdboden verschwunden war, an der gleichen Stelle wieder aufgetaucht war. Ich wies darauf hin, dass ich ein paar Stunden lang weggewesen sein musste, jedoch verneinten sie dies sofort. Ich glaubte ihnen. Ob sie mir glaubten, wusste ich in diesem Moment nicht.
Wir blieben noch ein paar Stunden lang in der Schlucht, untersuchten den Boden, die Wände, die Steine und die wenigen Pflanzen, die sich bis nach hier unten verirrt hatten. Aber wir fanden nichts. Von Robert fehlte jede Spur.
Als die Nacht hereinbrach, kletterten wir nach oben, übernachteten im Lager, kletterten am Folgetag wieder nach unten, setzten die Untersuchungen fort, fanden wieder nichts und beschlossen, am nächsten Tag abzureisen. Mittlerweile hatte ich meinem Team von meinen Erlebnissen berichtet und keiner deutete auch nur an, mir nicht zu glauben. Sie alle hatten mit mir bereits Abenteuer erlebt, die sie eigentlich niemals hätten erleben dürfen. Ich war erleichtert. Sie glaubten mir tatsächlich. Und darum legte auch niemand Widerspruch ein, als ich sagte, dass wir diesen Ort verlassen und für immer geheimhalten mussten.
Wer weiß schon, wie viele Menschen vor uns diese Erdspalte erkundet haben und vielleicht nie wieder von dort zurückkehrten. Wie viele Opfer hatte der Hummelhund bereits gefordert? Wenn die Sonnenblumen… nein, auch heute verbiete ich mir, diesen Gedankengang zu Ende zu denken. Ich habe die Reise zu den Sonnenblumen überlebt. Ich habe erlebt, was passieren kann, wenn sich ein Mensch an seinem Tiefpunkt befindet und zwanghaft versucht, etwas Besonderes zu finden. Etwas, das ihn selbst zu etwas Besonderem macht.
Gedanken dieser Art fördern selten etwas Positives zutage.
Darum habe ich mich auch immer so schwer damit getan, von meinen Reisen zu berichten. Ich will mich nicht als etwas Besonderes darstellen. Ich bin ein Mensch wie jeder andere auch. Ich schaue nur ein kleines Bisschen genauer hin als die meisten anderen.
Mittlerweile bin ich alt geworden. Ich lege keinen Wert mehr auf Ruhm und Ansehen. Ich möchte Ihnen einfach nur von der Welt da draußen erzählen.
Damit auch Sie vielleicht damit anfangen, genauer hinzusehen.