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Das schlimmste Erlebnis auf einer Toilette hatte ich in meiner eigenen Wohnung. Ich allein bin für dieses schreckliche Ereignis verantwortlich. Ich war unaufmerksam. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich mit einem Handgriff nicht nur den Klodeckel öffnete, sondern auch die Klobrille.
Ich weiß nicht, warum es mir nicht auffiel, warum es sich nicht anders angefühlt hatte, als an allen anderen Tagen, an denen ich die Toilette aufsuchte. Ich hätte merken müssen, dass der Deckel schwerer war, dass er dicker war als sonst. Aber ich bemerkte nichts. Ich entkleidete meinen Unterleib und setzte mich hin.
Beinahe wäre ich gedankenversunken in einer Toilette versunken. Für den Bruchteil einer Sekunde wusste ich, wie es sich anfühlen musste, sich in ein Schwarzes Loch zu setzen. Einsteins Theorien über diese finsteren Gebilde bestätigten sich auf eindringliche Weise, als mein Hinterteil in den Abfluss eindringen und für immer darin verschwinden wollte. Ich kann von Glück reden, nicht in der Kanalisation versunken und dort von ausgesetzten Babykrokodilen verschlungen worden zu sein.
Ich schnellte hoch, erkannte meinen Fehlsitz und war überfordert. Mit der Welt. Mit allem. Was nun? Die Brille runterklappen, sich hinsetzen und so tun, als wäre nichts gewesen? Als hätte sich mein Leben soeben nicht grundlegend verändert? Als hätte ich gerade nicht etwas gespürt, was ich so noch nie gespürt hatte und auch nie hatte spüren wollen?
Wie viel Zeit verging, weiß ich nicht. Sekunden? Minuten? Stunden? Irgendwann hatte ich mich wieder gefangen und begonnen, mein Geschäft so zu verrichten, wie ich es geplant hatte. Trotzdem fühlte sich etwas in mir anders an.
In solchen Situationen ist es am besten, sich irgendwie abzulenken. Die meisten Menschen greifen zum Smartphone, wenn sie auf der Toilette sitzen, andere lesen bedruckte Papierseiten, um so im Notfall etwas zur Hand zu haben, um die leere Klopapierrolle ersetzen zu können. Ich lese meistens und nehme einfach das Buch mit auf die Toilette, das ich gerade lese.
Aber was bietet man Besuchenden an? Die Auswahl der passenden Toilettenlektüre ist gar nicht so einfach. Man kann sich über diese Frage viele Gedanken machen, aber eigentlich ist das übertrieben. Es reicht, wenn man einen Bogen um Romane macht. Niemand wird sich auf eine fremde Toilette setzen und zum dort liegenden, eintausend Seiten umfassenden Dostojewski greifen. Nichts gegen Dostojewski, aber dessen Bücher in fünfminütigen Blöcken zu lesen, bei denen man nie weiß, wann der nächste eintreten wird, halte ich für absurd. Lange Texte sind nicht gut. Letztendlich will man auch nicht, dass die Leute zu lange sitzen bleiben, vor allem dann nicht, wenn man nur eine Toilette zu Hause hat.
Im Grunde sind alle Textsammlungen mit kurzen Texten für das Lektüreangebot auf der Toilette geeignet. Witzebücher, Bücher über die eintausend skurrilsten Dinge für Menschen, die sich keine skurrilen Dinge vorstellen können, die einhundert schönsten Orte, die man besuchen sollte, um dort enttäuscht zu sterben – die Liste ist genauso lang wie uninteressant.
Es gab eine Zeit, da habe ich mir über so etwas den Kopf zerbrochen. Wenn Leute kamen, die Videospiele mochten, legte ich Zeitschriften zu dem Thema aus. Welchen Humor wollte ich heute treffen? Seichte Erheiterung? Derber Humor mit ein bisschen Ekel? Mittlerweile denke ich darüber nicht mehr nach. Die meisten Leute nehmen auf der Toilette erfahrungsgemäß einfach ihr Smartphone in die Hand, damit alle, die gerade nicht auf der Toilette sitzen, anhand der Geräusche, die aus dem Badezimmer schallen, darüber nachdenken können, was für ein Video sich die Person in diesem Moment anguckt. Das Lektüreangebot auf der Toilette bei mir zu Hause ist nicht mehr vorhanden und ich verschwende keinen Gedanken mehr daran.
Vielleicht sollte ich mal bei einer Universität anfragen, ob man mir Fördergelder zusteckt, damit ich um die Welt reisen kann, um die Toilettenlektüre in den Badezimmern der Erde zu erforschen und daraus Schlüsse zu ziehen. Welche Leseangebote gibt es in den Ländern mit dem höchsten Durchschnitts-IQ? Oder dem höchsten Bruttoinlandsprodukt? Meine Forschungen wären zwar vollkommen nutzlos, würden aber am Ende ein Werk ergeben, das man im Badezimmer platzieren kann, damit Leute, die auf der Toilette sitzen, nachlesen können, was Leute lesen, die auf der Toilette sitzen.
Um meine Forschungsreise so effektiv wie möglich zu gestalten, müsste ich die Toiletten selbstverständlich spontan besuchen. Ich müsste also bei fremden Menschen klingeln und fragen, ob ich deren Toilette benutzen darf. Und zwar für die Literaturwissenschaft. Ich wüsste nur zu gerne, wie viele Menschen mich daraufhin in ihre Wohnungen lassen und wie viele dagegen zum nahegelegenen Dostojewski greifen, eine Seite aus dem Buch herausreißen und mir damit Papierschnittwunden an meinem Hinterteil verpassen würden.
Ich habe lange darüber nachgedacht, wie die Recherchearbeiten für »Stille Örtchen« ausgesehen haben mussten. Man reist um die Welt und geht an unterschiedlichen Orten auf die Toilette. Eigentlich ist das gar keine Forschungsreise, sondern lediglich eine Reise. Egal, wohin ich fahre, ich werde dort mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann auf die Toilette gehen. Ich werde vielleicht nicht unbedingt von jeder angetroffenen Toilette ein Foto machen, aber irgendwie ist der Unterschied relativ gering. Ich könnte eine Reise zu den einhundert bekanntesten Bauwerken der Welt unternehmen, um über diese ein Buch zu schreiben, und währenddessen ein Buch über die dortigen Toiletten verfassen, ohne mehr Arbeit damit zu haben.
Selbstverständlich hat »Stille Örtchen« mehr zu bieten, als hier von mir geschildert wurde. Es gibt Informationen über die Geschichte der Toilette, lustige Fakten und viele Beispiele dafür, warum wir uns glücklichschätzen können, in einer Zeit zu leben, in der man nicht mehr einen Abhang runterstürzt, nur weil man beim Hinsetzen ein wenig unaufmerksam war. Wer ist also die Zielgruppe?
Bei Kinderbüchern kann man sich beispielsweise die Frage stellen, für wen das Titelbild des Buches gestaltet wurde. Für die Kinder, die es im Buchladen sehen, oder vielleicht doch eher für die Eltern, die es im Buchladen sehen und am Ende bezahlen? Wenn der Onkel durch den Laden streift, um ein Buchgeschenk für den sechsjährigen Neffen zu kaufen, wird er vermutlich zu einem Buch greifen, dessen Titelbild ihm gefällt und den Eindruck erweckt, es würde auch dem Neffen gefallen. Es ist für die Verkaufszahlen also besser, ein Bild für den Onkel zu designen als eines für den Neffen.
Auch bei »Sille Örtchen« muss man sich eine ähnliche Frage stellen: Für wen wurde dieses Buch geschrieben? Für Menschen oder für Badezimmer? Ich glaube, dass das Buch für Badezimmer geschrieben wurde, weil alles an ihm lauthals »Toilettenlektüre« schreit. Vermutlich werden sich viele Menschen das Buch mit dem Gedanken zulegen, es am Ende irgendwo im Badezimmer zu platzieren, damit Menschen, die dort die Toilette benutzen, es sehen und darüber lachen können. Es handelt sich also eher um ein Möbelstück beziehungsweise eine Dekoration als ein Buch.
Damit möchte ich gar nicht schlecht über „Sille Örtchen“ reden. Wäre ich ein Badezimmer, hätte ich es gerne in mir. Es dürfte allen Menschen die Zeit auf der Toilette unterhaltsam gestalten. Die Texte haben die richtige Länge, es gibt unzählige Bilder mit Bildunterschriften und hin und wieder fallen Wörter wie »scheißen« und »Kackhaufen«. Es hält nicht lange auf, man kann es einfach durchblättern, es erfordert nicht viel Konzentration und man kann es jederzeit einfach wieder weglegen. Es ist das perfekte Buch über Toiletten, das in die Nähe einer solchen gehört. In mein Badezimmer werde ich das Buch aber nicht stellen. Einfach aus Trotz. Ich machte doch nicht, was Menschen von mir verlangen.
Außerdem habe ich gehört, dass es da draußen Menschen gibt, die es ekelhaft finden, wenn Bücher oder Zeitschriften bei anderen Leuten im Badezimmer herumliegen. Es könnte schließlich sein, dass sich jemand zwischen dem Umblättern damit abgelenkt hat, sich den eigenen Finger in den Hintern zu schieben. Und dann befinden sich auf den Seiten am Ende irgendwelche Rückstände von dieser Freizeitbeschäftigung, die man sich dann wiederum selbst in den Hintern steckt, während man sich zwischen dem Umblättern damit beschäftigt, sich den Finger in den Hintern zu stecken.
Ich glaube zumindest, dass das Argument irgendwie so lautete.
Da ich nicht möchte, dass sich Personen in meinem Badezimmer Dinge in den Hintern stecken, die sie sich dort nicht reinstecken möchten, habe ich also davon Abstand genommen, in meinem Badezimmer Literatur anzubieten. »Stille Örtchen« befindet sich also nicht dort, wo es gerne stehen würde, sondern dort, wo mich die Gesellschaft zwingt, es zu platzieren. Ist schade, kann ich aber nicht ändern. Ich will schließlich niemanden verärgern, wenn er bei mir auf der Toilette sitzt.
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